Michael Scharang

 

Die List der Kunst

Inhalt:

Literatur in der Depression

Die proletarisierte Literatur

Modellathlet Deutschland

Über den Unterschied von Schriftstellern und Bittstellern
Rede auf dem 1.österreichischen Schriftstellerkongreß

Fürs Fernsehen schreiben? Dagegen!

Baumeister Österreichs

Diesen Staat kann kein Skandal erschüttern,
denn er ist selbst ein Skandal

Hat der Frieden so schnelle Beine,
dass man ihn nicht einholen kann?

Wohnen. Eine Infamie

Der Traum von der Einheit der Kunst mit der Technik
Notizen von einer Reise zum Bauhaus Dessau

Vom Kleinbürger zum Weltbürger
Anmerkungen zum Tourismus


Leseprobe

Die proletarisierte Literatur

Während einer Podiumsdiskussion in Wien, bei der es um Hofmannsthal gehen sollte, äußerte ein Schriftsteller, er könne mit diesem und anderen Herrenschreibern nichts anfangen, deren Sprache, deren Thematik sei ihm fremd.

Ich fragte mich, welcher Herkunft die österreichischen Gegenwartsautoren denn seien. Soweit ich über die Kollegen Bescheid weiß, sind sie überwiegend Töchter und Söhne von Arbeitern, Bauern, Kleinbürgern. Die wenigen, die aus bürgerlichem Haus stammen, haben davon keinen Nutzen, keinen mir ersichtlichen. Niemand in einem repräsentativen Haus, in einer feudalen Wohnung, niemand weit und breit, der von einem Erbe zehren oder sich an die vermögende Familie halten könnte.

Die wenigen, die genug verdienen, um gutbürgerlich leben zu können, scheint der soziale Aufstieg so verschreckt zu haben, dass sie ihr Geld dazu verwenden, sich Verstecke zu schaffen. Mit ein Grund, dass sie als Dichter im elfenbeinernen Turm verspottet werden. Hinter ihrem Verhalten steht die berechtigte Furcht, der soziale Aufstieg könne über Nacht ein Ende haben. Deshalb stellen sie sich sozial tot. Sie machen auch literarisch um das Soziale einen Bogen, als wäre es der Teufel, und trachten außer durch Herstellung soliden Kunsthandwerks nicht aufzufallen. So weit reicht ihr soziales Wissen, dass sie bangen, ein Schritt weiter könnte der erste Schritt in den sozialen Niedergang sein.

Gewöhnlich interessiert mich die Frage nach Herkunft und Leben von Autoren unvergleichlich weniger als deren Literatur. Nun aber kam eine neue Frage hinzu: Wenn Schriftsteller aus dem Bürgertum im Aussterben sind, wie ist es dann um die bürgerliche Literatur bestellt? Welchen Sinn hat es noch, von bürgerlicher Literatur zu sprechen?

Ich versuchte mich an Bücher zu erinnern, geschrieben in den Jahrzehnten nach dem letzten Weltkrieg. An jedes, das ich gelesen habe, und an alle zusammen. Mein Eindruck: Es gibt einen neuen Typus von Literatur; eine Literatur, die klein daherkommt. Endlich verstand ich die Klagen der Bürger, es gebe keine große Literatur mehr.

Klein daherkommen ist zunächst ein Gestus. Wem er zu eigen ist, bringt zum Ausdruck, daß er keinen Grund sieht, sich protzig zu gebärden, dass er jeden Anlaß vermisst, großspurig aufzutreten. Ein besonderes Verdienst? Kaum. Wie sonst hätte die Literatur sich nach dem Krieg verhalten sollen? Ein Blick auf die Literatur der Zwischenkriegszeit musste ihr Vorsicht nahe legen. Jene Literatur nämlich hatte den Mund ziemlich voll genommen. Zu Recht: Sie hatte sich mit großen Werken eingemischt in die großen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen; hatte zum Ersten Weltkrieg und zum Zusammenbruch der Monarchien Wichtiges zu sagen gehabt. Doch der Triumph des Nationalsozialismus relativierte diese Leistung aufs bösartigste.

Auch wenn die Frage unsinnig sein mochte, man musste sie sich nach der Befreiung vom Faschismus stellen: Wozu der große literarische Aufwand, wenn er nicht einmal das Schlimmste verhindern konnte. Das Unsinnige der Frage liegt auf der Hand: Wenn sonst niemandem, warum hätte es ausgerechnet der Literatur gelingen sollen, den Faschismus einzudämmen. Dennoch steckt Sinn dahinter. In der Selbstbezichtigung der Literatur, sie habe versagt, lebt die Trauer fort über eine verlorene Hoffnung, über die Hoffnung, Literatur könne gesellschaftlich etwas ausrichten.

Der Faschismus hat die Frage der Wirkung von Literatur in der bürgerlichen Gesellschaft hieb- und stichfest beantwortet. Der Schrecken über diese Antwort steckt der Literatur zu Recht noch immer in den Knochen. Wenn die Frage der Wirkung dennoch im Schwang ist, von vorwitzigen Gemütern garniert mit der Zusatzfrage nach Weltveränderung durch Literatur, so nur als routiniertes Gesellschaftsspiel eines verlegenen Publikums, das dahintergekommen ist, wie man die Autoren in Verlegenheit bringen kann. Die Antwort ist entsprechend routiniert: es wird auf indirekte Wirkung verwiesen.

Der Anspruch auf Wirkung, einst nicht nur von der Kunst, sondern auch von der Theorie und der Wissenschaft herausfordernd formuliert in der leichtsinnigen Parole von der Macht des Geistes, wurde als geistige Gefahr, aber auch als Keim realer Gegenmacht gefürchtet. Deshalb räumte der Faschismus derart rabiat mit dieser Gefahr auf.