Michael Scharang

 

Der erste Tag

Eine autobiographische Skizze

Am 3. Februar 1941 kam ich, obwohl einiges dagegen sprach, zur Welt. Die Nacht über hatte es stark geschneit, am Morgen lag bereits ein halber Meter Schnee, und es war unmöglich, die in den Wehen liegende Anna Scharang ins Kapfenberger Werkskrankenhaus zu bringen, das Rettungsauto konnte auf der verschneiten Straße nicht fahren, und die Frau auf dem Schlitten zum Spital zu ziehen, wäre zu gefährlich gewesen. Also machte ihr Mann sich auf, die Hebamme zu holen, die allerdings am andern Ende der Stadt wohnte.

Kein Mensch war unterwegs außer diesem kräftigen, dreißigjährigen Mann, der, weitausschreitend, eine Spur durch den Schnee zog, der ihm, es schneite stärker als in der Nacht, bis zum Bauch reichte. Der Mann wußte, daß dies auch der Weg sein wird, auf dem er mit der Hebamme zurück muß.

Woran er vor Sorge um die Frau und das ungeborene Kind zu denken vergaß: Die Hebamme war klein und kugelrund. Mit äußerster Anstrengung schleifte er sie hinter sich her, über die Grazer Straße, an der Kirche vorbei und bergan bis zum Stadtteil Redfeld. Sie fragte zwischendurch, wie lang diese Tortur noch dauere, denn, da sie über den Schneerand nicht hinaussah, wußte sie nie, wo sie sich befand.

Als die beiden in der Siebenbrünngasse 5 ankamen, war ich bereits auf der Welt. Die Hebamme tat, was noch zu tun war. Der Mann vergewisserte sich, daß Frau und Sohn wohlauf sind, dann richtete er sich ein Jausenbrot, zündete sich eine Zigarette an und verließ das Haus - ein Einfamilienhaus, in dem die Eltern und nun auch ich als Untermieter im ersten Stock eine Küche, dazu zwei Mansardenzimmer und eine Terasse bewohnten.

Der Vater ging zur Arbeit. Die Fabrik, das Edelstahlwerk
Böhler, war im Krieg ein Rüstungsbetrieb geworden, der Betriebsleiter behauptete, auf den Schlosser Scharang nicht verzichten zu können, wohl auch, weil der sechzehn Stunden an Werkbank und Maschine stehen konnte, ohne umzufallen, und so stand er eben dort und nicht im Krieg.

Auf der Mariazeller Straße fuhr ein Schneepflug, so daß Vater nicht auch noch bis zur Fabrik durch den Schnee stapfen mußte. Zum erstenmal an diesem Tag konnte er, wie er mir später erzählte, befreit aufatmen. Das Kind war lebend zur Welt gekommen. Das hieß etwas, schließlich hatte seine Frau vor einem Jahr ein totes Kind zur Welt gebracht, im Spital, unter günstigen Bedingungen - und diesmal, unter schwierigen Bedingungen, ein lebendes. Vater konnte sich Zeit lassen, die Schicht begann erst um zwei. Er war so außer sich vor Freude, daß er am liebsten gejauchzt und Schneebälle gegen die Fenster geschmissen hätte, damit die Leute herausschauen und ihn in seinem Überschwang sehen.

Doch das verbot er sich. Er, ansonsten kein Freund von Vorschriften, hatte sich aufgetragen, alles zu
unterlassen, wodurch er auffallen könnte. Seit vor drei Jahren die Nationalsozialisten in Österreich einmarschiert waren, das Land nicht nur besetzten, sondern, wie sie sagten, es Deutschland einverleibten, als könnte ein Leib einen anderen Leib in sich aufnehmen, redete Vater außerhalb der Fabrik, wo das Fachgespräch notwendig war, mit niemandem, nachdem er erlebt hatte, daß einige seiner sozialistischen Genossen, älter als er und schon im Rang von Funktionären, verhaftet wurden und verschwanden, aber auch, daß ein paar andere Genossen Volksgenossen wurden, ihm den Hitlergruß zuriefen und erwarteten, daß er zurückgrüßt, nicht aber, daß er kalt an ihnen vorbeischaut.

Nur mit seiner Frau sprach er noch, doch, selbst in der Wohnung, leise, denn das Belauschen und Bespitzeln war der Volkssport, durch den der Volkskörper zu erstarken hoffte. Meine Mutter sagte zu ihrem Mann, wie sie mir später erzählte: Er brauche sich wegen dem Kind den Nationalsozialisten nicht anbiedern, auch nicht zum Schein, sie wisse, daß er sich das nie verzeihen würde - und sie es ihm auch nicht. Sollte ihm oder ihr etwas zustoßen, das Kind werde nicht vor die Hunde gehen, sie habe eine große Familie. Solche Gespräche waren meiner Geburt vorausgegangen.

Als wäre Frühling und nicht Winter und als wandelte er zwischen ersten Wiesenblumen und knospenden Zweigen dahin und rutschte nicht zwischen Schneeklumpen auf eisiger Straße hin und her, so ging Vater, gewärmt von der Sonne des Glücks, zur Fabrik. Die ersten Menschen wagten sich heraus, aber außer dem Schneepflug war kein Fahrzeug zu sehen, auch nicht die schweren Lastwagen, welche sonst Tag und Nacht Rohre für Maschinenkanonen und Panzerplatten aus der Kapfenberger Fabrik in eine andere transportierten, in welche, wurde geheimgehalten, wo die Teile zu Panzern zusammengefügt wurden.

Was für ein Tag, hätte Vater hinausrufen wollen, das
Kind lebt, und es ist Frieden in der Stadt. Wenn es schon keinen Gott gibt, dachte er, so sollte es doch einen Wettergott geben. Der würde Europa unter so viel Schnee begraben, daß der Krieg darunter erstickt.

Für die Mutter war es selbstverständlich, daß sie diesmal ein lebendes Kind zur Welt brachte, für den Vater nicht. Ein Kind zu haben, das lebt, war für ihn so überwältigend, daß er an dem Kind schon deshalb lebenslang seine Freude hatte, weil es lebte. Daß es zu erziehen und zu belehren sei, konnte er noch einsehen, das selbst zu tun, kam ihm nicht in den Sinn. Mutter tat es ohnedies gern. Sie hatte zwar nur sechs Jahre Volksschule besucht und war eine halbe Analphabetin, machte das aber wett, indem sie auftrat, als sei sie nicht nur schön, sondern als wäre sie auch gebildet.

Vater sagte selten etwas, bedang sich aber das letzte Wort aus, das darin bestand, eine Debatte zwischen Mutter und mir, wenn sie ihm zu lang dauerte, für beendet zu erklären, ohne jemals Partei zu ergreifen. Von seiner Teilnahme an der Revolte im Februar 1934 erfuhr ich von ihm wenig, von der Verhaftung durch die Nationalsozialisten ein Jahr nach meiner Geburt nichts, von seinem beruflichen Wissen, das er durch Fernstudien erweiterte, gar nichts.

Es war eine tätige und wohltätige Passivität, die von ihm ausging. Dazu in Kontrast die Geschäftigkeit der Mutter, die, in der Jugend Textilarbeiterin, nun Hausfrau, auch noch Wert darauf legte, ruhender Pol zu sein, was insofern zutraf, als sie, was sie sich einbildete zu sein, mit der Zeit auch wurde.

Ausgestattet mit dem Nichtwissen der Mutter, das sie gern weitergab, und dem Wissen des Vaters, das er mir vorenthielt, fiel es mir leicht, die Welt, wie verständlich sie mir auch entgegenkam, nicht zu verstehen. Die Gefahr, deshalb unter die Räder zu kommen, war gering. Denn wer vom ersten Tag an akzeptiert wird bloß deshalb, weil er lebt, der kann, da keine Anforderungen an ihn gestellt werden, auch nicht versagen.

Es war Viertel vor zwei. Vater ging am Portier vorbei, die Notunterkünfte für Zwangsarbeiter, welche noch nicht eingetroffen waren, entlang, in der Halle, in der er arbeitete, steckte er seine Karte in die Stechuhr, zog die Schlossermontur an und war froh, daß die Hebamme von sich aus angeboten hatte, bei Frau und Kind zu bleiben, bis er nach Hause kommt. Er brauchte sich an diesem Tag keine Sorgen mehr zu machen und schaltete die Maschine ein.

Ihren ohrenbetäubenden Lärm hörte er lieber als das Radio des Betriebsleiters, in dem zu jeder vollen Stunde neue Siege gemeldet wurden. Bald, dachte er, würden die Sieger Brasilien erreichen, wo sie sich allerdings im Urwald verlaufen werden. Dieser Gedanke stimmte ihn fröhlich. Das Kind lebt, und der Friede ist in Sicht, sagte er laut. Er hörte es aber nicht, denn die Maschine war lauter.

Wien, November 2007