Michael Scharang

 

Bericht an das Stadtteilkomitee
Politische Lesebuchtexte

Kritiken

Gert Ueding in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 7. 11. 1974

Michael Scharang ist ein zu intelligenter und selbstkritischer Autor, um nicht das Mißverhältnis zwischen theoretischem Anspruch und literarischer Verwirklichung zu erkennen.  Das Problem jeder politischen Literatur, ästhetischer Schein zu sein und gleichzeitig unübersehbar dessen Illusionscharakter aufzudecken, läßt sich kaum mit dem Verfahren bloßer Zitatmontage lösen.

Scharangs Rückgriff auf traditionelle Prosaformen wie Märchen und Fabel ist motiviert durch das Ungenügen an den bisher von ihm erprobten Techniken. „Das Märchen vom Recht, das nicht nur vom Volk ausging, sondern auch wieder zu ihm zurückkehrte“, einer seiner letzten Prosatexte, deutet auf sein Bemühen hin, die Instrumente, die die Tradition dem Schriftsteller überliefert, auf ihre Tauglichkeit hin zu überprüfen.

 

 

Hansjörg Graf im „Deutschlandfunk“ vom 27. 1. 1975

Was Scharang am österreichischen Beispiel vorexerziert, ist ohne Vergleich. Wer sich freiwillig in diesem Maße einer Askese der Form unterwirft, um den Inhalt im Klartext zu verbreiten, stellt eben die Politik über die Literatur. Dieser Rigorismus beherrscht auch Scharangs jüngstes Opus. Diese Einwände sollen nicht die Tatsache verschleiern, daß Michael Scharang zu den interessantesten Autoren der deutschsprachigen Avantgarde gehört; die analytische Intelligenz und die Ökonomie der sprachlichen Mittel stehen auch nach der Lektüre seiner übrigens nur teilweise neuen Texte außer Frage.

 

 

Heidi Pataki

So wie der Autor in seinen avantgardistischen Texten das Skelett des politischen Sprachgebrauchs bloßlegt, so reduziert er auch in seinen realistischen Erzählungen die Realität auf den in ihr und hinter ihre verborgenen gesellschaftlichen Mechanismus. Sehr überzeugend gelingt Michael Scharang das in der Geschichte „Die Lebenskosten“.

 

 

RAI, 20. 1. 1975

Wie Geschäftstüchtigkeit mit den Gefühlen des Mannes von der Straße rechnet, was ein Wohnungssuchender, der sich über das Wohnungsangebot informiert, zu erwarten hat. Es gibt Berichte vom Arbeitsmarkt, von der Stimmung der Wähler, eine Geschichte von der Auffindung eines Skeletts. Michael Scharang weiß treffsicher aber unagressiv zu formulieren. Eine Kunst, die in der Sozialkritik selten ist.

 

 

„Die tat“ vom 1. 2. 1975

Alle diese Texte sind nicht für den literarischen Hausgebrauch geschrieben, sondern warten darauf, in die politische Auseinandersetzung eingebracht zu werden. Scharang beschreibt die Funktion solcher Texte: “Überführung der ästhetischen Dimension in gesellschaftliche Realität!“

 

 

Ulf Birbaumer im ORF

Scharang kann sich die Forderung nach einer neuen Ästhetik leisten. Er übt Kritik am kapitalistischen System, an den Medien und an der Schule, die für ihn Klassenmedien und Klassenschule sind, ausgerichtet auf eine Mittelschicht. Aber er kritisiert nicht nur –übrigens: sein Formbewußtsein kommt nicht von ungefähr; er hat über Musil dissertiert! -, er deckt nicht nur Widersprüche auf, er formuliert auch Alternativen, konkret utopische Modelle.

 

 

Urs Bugmann in den „Luzerner Neuesten Nachrichten“ vom 25. 1. 1975

Michael Scharang ist ein weiteres Beispiel dafür, daß die heutige Literatur entscheidende Impulse aus Österreich erhält. Er weiß zu schreiben, die Wörter in einer beeindruckend klaren Sicherheit zu gebrauchen. Aus der nüchternen Prosa, die meist einen ganz konkreten Vorgang abschildert, etwa in den beiden Texten von 1969 „Ein Verantwortlicher entläßt einen Unverantwortlichen“ und „Die Wohnungsfrage“ entwickelt sich sein Schreiben in eine feine, durchgeformte Fiktion, die sich dem Gleichnis nähert. Der Formwille ist bei allen Texten da. In den frühen drückt er sich durch den rhythmischen Bau aus, durch die strenge Gliederung der Sätze. In den späten Texten wird die gerundete Form angestrebt. Die Geschichte fließt aus den Sätzen, sammelt sich aus den einzelnen Rinnsalen und strömt am Ende mächtig und klangvoll. Eine musikalisch zu nennende Art des Erzählens.