Auf nach Amerika
Anfang des Romans
Als ich ein Kind war, vierzig Jahre ist es her, tat ich nichts lieber, als Großmutter zu begleiten, hinauf auf den Berg, um beim Bauern Milch zu holen.
Nichts tat ich lieber – außer mich mit gleichaltrigen Mädchen und Buben heimlich im Weinkeller des Pfarrers zu treffen, im leeren Weinkeller, es standen ja damals, nachdem ausländische Soldaten sich tief in das Land vorgekämpft hatten, alle Weinkeller leer; dort bliesen wir einander mit einer Fahrradpumpe Luft in den Hintern, liefen dann auf den Pfarrplatz, mischten uns unter die Kirchgänger und ärgerten sie, indem wir unsere Fürze krachen ließen, bis die Luft aus den Gedärmen draußen war.
Nichts tat ich lieber – außer mit anderen Kindergartenkindern in einen ehemaligen Luftschutzbunker zu schleichen, in unser Waffen- und Munitionsdepot, das wir nach dem Ende des Krieges angelegt hatten. Wegen der Lebensmittelknappheit in die Wälder geschickt, um Beeren und Pilze zu sammeln, fanden wir auf dem Waldboden, ehe noch ein Krug mit Schwarzbeeren gefüllt war, Hunderte Schuß Munition, und ehe wir auf den Steinpilz stießen , Dutzende Armeepistolen; mit diesen umzugehen, brachte uns ein Sechsjähriger bei, den wir, weil er nicht nur schießen, sondern die Pistolen auch reparieren konnte, zum Häuptling machten; dass ausgerechnet er wegen geistiger Zurückgebliebenheit für ein Jahr vom Schulbesuch zurückgestellt worden war, betrachteten wir als großes Glück: So hatte er mehr Zeit für uns.
Nichts tat ich lieber, als an diesen Zusammenkünften teilzunehmen – außer Großmutter zu begleiten, hinauf auf den Berg, um beim Bauern Milch zu holen. Zweimal in der Woche ging Großmutter den steilen Weg, die Milchkanne in der einen, den Haselnußstock in der anderen Hand. An heißen Tagen fluchte sie über die Stechfliegen, niemand war erfinderischer im Fluchen als sie, und ich versuchte nach Kräften, es ihr gleichzutun; letzten Endes nahm sie jede Mühsal gerne in Kauf, um zu ihrer Vollmilch zu kommen, die Magermilch, die es nach dem Krieg in unserer Stadt zu kaufen gab, schmeckte ihr nicht, behauptete sie. Wenn es ihr nicht möglich war, auf den Berg zu steigen, weil meterhoch Schnee lag, trank sie Wasser, also konnte sie gar nicht wissen, wie Magemilch schmeckte, und sie wollte es offenbar nicht wissen. Außer mir hielten sie deshalb alle für starrsinnig und verschroben, ich jedoch verstand sie sehr gut, denn mich ekelte es vor jeder Art Milch, am meisten vor frischer Kuhmilch. Mir, der ich als Kind zum Milchtrinken verurteilt war, schien die Magermilch von allen Milchübeln das kleinste zu sein.
Als ich sie mit einem Buschen Palmkätzchen überraschen wollte - sie zu überraschen hieß, unvermittelt vor ihr zu stehen und sie zu schrecken, sie aber müßte so tun, als freute sie sich -, stahl ich mich in die Wohnung, öffnete die Küchentür einen Spalt breit und sah, wie Großmutter gerade die Milchkanne vom Fenster nahm und den Deckel in die Höhe hob. Beim Anblick der fetten Tropfen zog sich sofort mein Magen zusammen. Was aber tat sie jetzt? Ich traute meinen Augen nicht: Sie goß den gesamten Inhalt der Kanne in den Kübel, und mit heißem Wasser aus dem Wasserschiff des Herds spülte sie die Kanne sauber.
Es machte mir fortan noch mehr Spaß, Großmutter zu begleiten, denn nun wußte ich, daß sie nicht der ekligen Milch wegen auf den Berg stieg. Sie wollte offenbar so tun, als ginge es ihr wie den anderen, die sich in jener Zeit die Füße wundliefen, um ein Stück Brot oder eine Kanne Milch zu ergattern. In Wahrheit hatte Großmutter das nicht nötig, doch nicht weil sie zu denen gehörte, die nach dem Krieg gleich wieder an der Quelle saßen, sondern weil sie alleinstehend war und von fast nichts zu leben verstand. Von nichts leben konnte sie wahrscheinlich, weil sie tat, was ihr beliebte, und dazu zählte auch das Rauchen. Sie rauchte wie ein Schlot, und in jener Zeit war das einer mittellosen Frau wie ihr nur möglich, wenn sie selbst Tabak pflanzte, zwischen den Stangenbohnen, denn privates Tabakpflanzen war auch damals verboten. In ihrer Gier wartete sie jedoch nicht, bis die Blätter auf dem Dachboden getrocknet waren, sie griff voreilig danach, und mit dem feuchten Tabak vegiftete sie ihren Körper. Der schrumpfte zusammen und bestand bald nur noch aus Knochen, Sehnen und Haut; die Haut wurde gelbbraun und sah aus wie Leder, ihr Gang, wenn sie den Berg hinaufstieg, mutete noch elastischer an als früher, den Berg hinunter sprang sie wie ein Mädchen, und hielt sie an, dann nicht um zu verschnaufen, sondern um den Tabakbeutel aus dem Rucksack zu holen und sich eine Zigarette zu drehen.