Michael Scharang

 

Auf nach Amerika

Kritiken

Elfriede Jelinek in „konkret“, Hamburg, April 1992

Scharangs Kritik an den österreichischen Herrchen des Seins, die sich uns an die Fersen heften und jederzeit hineinbeißen können, wenn es ihnen gefällt, ist keine zwanghaft habituelle wie bei Bernhard, sie überzieht nicht den Text wie ein Firnis aus Schleim, wird nicht zum Sprachritus, der den Text in seinen Fängen hält, sondern sie zeigt darauf: Die Herren des Todes, die, indem sie alles ringsum zutode gebracht und sich längst wieder auf ihre fahlen Pferde gesetzt haben, sie sollen aus ihrer behaglichen Heimathaftigkeit wieder herausgerissen und benannt werden. Sie glauben, als einzige das Recht des Wohnens hier zu haben, und die anderen, die neben ihnen auch nur Blumenbeete zu pflanzen wagen (wie die Figur der Großmutter in Scharangs Roman, die ein Narzissenbeet in Form eines Judensterns pflanzt und dafür vom Nazi-Arzt fast erschlagen wird), haben sie längst vertrieben. Nach dem Krieg, als diese Unmenschen, nach einer kurzen Schrecksekunde, wieder darangehen, ihre Herrschaft aufs neue zu etablieren, diese Schreckensherrschaft der ländlichen Bauunternehmer, Notare, Ärzte, Apotheker, Geschäftsleute, wird die Großmutter ihrerseits den Arzt, der ihr ein Bein abgenommen hat, mit der Krücke erschlagen und verschwinden. Nach Amerika? Da diese geistlichen wie ungeistigen Herren hier daheim sind, kann ein Daheim nur ein Anderes, wo anders ein. Kann man ihnen nur im Tod entkommen, da das Dasein im Leben immer schon an sie, diese Herren des Un-Heimlichen verfallen scheint?

 

 

Wendelin Schmidt-Dengler in der „ Presse“, Wien, 4. 4. 1992

Jeder Leser, der sich nach Handlungsfülle sehnt, wird gut bedient, und da das Buch von Inhalten nur so strotzt, würde jede Inhaltsangabe zur Verödung fruchtbarer und schöner Erzählplantagen führen.

Mit Realismus hat das nicht viel zu tun, und mit sozialistischem schon gar nicht. Das heißt aber nicht, dass das Buch nicht doch sehr viel über unsere Gegenwart und Vergangenheit zu sagen hätte: Hier schlüpft einer bei einem erfundenen Gewande hinein und kommt, frei nach Doderer, bei einem wirklichen Ärmel heraus.

Das Buch ist ein Roman, und keineswegs dessen mit dem Genre kokettierender Widerruf: Ein Schelmenroman, würde ich am liebsten sagen, hörte sich das nicht allzu sehr als Festlegung an. Doch der Antiheld „niederer“ Herkunft passt sehr wohl zu jenem Typ von Pikaro, dessen Torheit erst die Folie abgibt, auf der die Defizite der anderen Konturen bekommen. Ein Roman über das Geld und über das Essen, Pferdeleberkäs versus Kalbsmedaillons, Grammelschmalz versus Vanillerostbraten. Eine Satire auf Österreich, wäre man versucht zu sagen, auf seine Beamten, seine Regierung. Eine bittere Satire, die jene angreift, die sich in den Institutionen eingenistet haben und mit ihrer „niederen“ Herkunft posieren. Eine Satire auf die Karrierefrauen, repräsentiert durch Maria, die sich in kürzester Zeit sieben Sommerwohnungen zulegt. Eine Satire auf den Umgang der Österreicher und im besondren der Wiener mit ihrer Literatur.

 

Lothar Baier in der „Süddeutschen Zeitung“, München, 5./6. 9. 1992

Unter der Hand geht der Geist des begnadeten Polemikers Michael Scharang auf den Ich-Erzähler über, der sich als ein argloser Zeitgenosse eingeführt hat, und die angefangene Schelmengeschichte von der sagenhaft verschwundenen schlagkräftigen Großmutter weicht dem Wechsel von feinen Nadelstichen und groben Donnerschlägen. Österreich und besonders Wien, soviel wird deutlich, bezeichnen bald keinen Schauplatz mehr, sondern sind der Name für ein den Autor ununterbrochen piesakendes Ärgernis.

Als Nicht-Österreicher muß der Rezensent bei dem Match zwischen „Österreich“ und seinem Herausforderer Scharang, bei aller Bewunderung für dessen polemische Energie, gelegentlich passen. Er bedauert dann nur ein wenig, dass die Reise nach Amerika, an der er gerne noch ein bißchen länger teilgenommen hätte, frühzeitig zugunsten heimischer Eskapaden abgeblasen wurde. Aber vielleicht ist es gerade das, was den Autor Michael Scharang an Österreich so ärgert: dass es den unwiderstehlichen Zwang ausübt, unter allen Umständen und an jedem Ort der Welt früher oder später auf das Thema Österreich zu sprechen zu kommen. Auf nach Amerika!

 

 

Edwin Hartl im „Wiener Journal“, Wien, 31. 6.1992

Michael Scharang demonstriert, nach jahrelanger Arbeit, mit seinem neuen Roman „Auf nach Amerika“ eine neue Art Scharangscher Romantechnik.

Wenn die Substanz der Adjektive und alles Adjektivische unserer Substantiva nicht so abgewertet wären, könnte man den neuesten Wurf als sozialistischen Surrealismus bezeichnen – eine Kunstform, die im kürzlich untergegangenen real existierenden Sozialismus ideologisch strikt verpönt gewesen wäre.

Das dramaturgische Konzept des Buches ist absurd inszeniert, sozusagen ein Stück ominöses Staatstheater, und im Vergleich zu Scharangs bitterböser Österreich-Persiflage wirkt jene vielgerühmte Übertreibungskunst wie eine dilletierende Raunzerei: Bei Bernhard wird das heimische Image, durchaus heimattreu, bloß verleumdet, von Michael Scharang wird es hingerichtet. Seine Parodie macht ernst, und aller bodenständige Ernst – der politische wie der artistische – wird umwerfend (im wahren Sinne des Wortes) karikiert. Nach wie vor ist das Abendland hier zuständig; nur die fernen Eingeborenen nennen es „Nachtland“. Sogar das demokratisiert Pornographische (bekanntlich beim sozialistischen Realismus tabu) kommt travestiert zur Sprache.

 

 

 

Kurt Kahl im „Kurier“, Wien, 30. 4. 1992

Im Wechselspiel von Gegenwart und Erinnerung liefert Scharang Puzzlesteine eines sehr eigenwilligen Österreich-Bildes. Es ist ein Land in Erwartung eines neuen Faschismus, in dem wirklich unabhängige Charaktere wie die Großmutter oder ein im KZ gewesener Kohlenhändler, der früher eine Zeitung herausgegeben hat, ihre Schwierigkeiten haben. Der Roman verherrlicht auf der einen Seite die Idylle der Armut, in der die jungen Hauptpersonen sich durchschlagen, auf der anderen Seite urteilt er mit politischer Radikalität.

 

 

Walter Grünzweig in „Dossier über Michael Scharang“, Literaturverlag Droschl, Graz, 2002

Dieser durchaus kritische Ansatz fußt auf dem Grundgedanken, es gäbe eine Realität, in diesem Falle ein „reales“ Amerika, dem ein „irreales“ (surreales?) Literaturamerika gegenübergestellt werden kann. Demgegenüber steht ein diskursorientierter Ansatz, der, abseits von Verweisen auf die Referentialität literarischer Texte, von der Überlegung ausgeht, dass auch das sogenannte „reale“ Amerika für In- und Ausländer nur über Texte und damit über Diskurse fassbar ist, was eine interdiskursive Analyse von literarischen und nichtliterarischen Texten ermöglicht.

Daß Scharangs Roman sich an der interdiskursiven Sicht orientiert, wird an seinem spielerischen Umgang mit Klischees deutlich. In die Diskussion um Amerikabilder schreibt sich Michelangelo Spatz auf einer Metaebene ironisierend ein, etwa wenn der Erzähler feststellt, es sei „die Pflicht jedes Amerika-Reisenden, unter der Zeitverschiebung zu leiden.“

Eine zufällige Begegnung des Erzählers kritisiert das „Vorurteil, New York sei hektisch“, wenn es doch eigentlich „eine beschauliche Stadt sei“. Vollends deutlich wird der spielerische, dabei jedoch hoch reflektierte Umgang mit Auto- und Heterostereotypen, wenn der Erzähle sich überlegt, den kleinen Garten seiner damaligen langjährigen Gefährtin inmitten New Yorks zu „roden“ und zu bepflanzen:“...Frischer, gehackter Schnittlauch aus einem Garten in Manhattan, .. frischer, geriebener Paprika aus Kalifornien, frischer Topfen aus der Prärie , daraus werde ich einen Liptauer rühren, wie es noch keinen gegeben hat“.

Es geht auch nicht so sehr um „Amerika“, sondern um New York als global village, das sich selbst schafft, aber gleichzeitig immer wieder zerstört, die Stadt, die in ihrer Fluidität und Dynamik gar nicht erst zu einer fixen Identität findet. Amerika wird zum Sinnbild der Globalisierung. (Eine simplifizierte Variante dieser komplexen Erkenntnis führt zum paradox anmutenden Antiamerikanismus der sogenannten „Globalisierungsgegner“.“) Der Roman macht klar, dass die so definierte Herrschaft des Kleinbürgertums und die „globalisierte Gesellschaft“ (ein Begriff, der Mitte der 90er Jahre, als der Roman entstand, noch kaum gebräuchlich war und im Roman auch nicht auftaucht), ein- und dasselbe sind. Waren Moderne und Postmoderne bemüht, die Metaphysik vergangener Zeiten radikal  zu kritisieren und durch die Zerstörung traditioneller Formen metaphysische Illusionen zu zerschlagen, werden hier Metaphysik und globaler kapitalistischer Markt eins.

Bei Scharang jedoch wird die Metaphysik selbst zum Geschäft; ihre Überbaufunktion fällt weg.