Michael Scharang

 

Michael Scharang

Zu Befehl!

Der deutsche Theaterfeldwebel Stemann erteilt dem österreichischen Dramatiker Turrini Anordnungen. Aus diesem Anlaß ein flüchtiger Blick auf den deutschen und den österreichischen Sozialcharakter

Der Deutsche ist ein weltlüsterner Nationalist, der Österreicher hingegen chauvinistisch und weltverdrossen. Der Chauvinist ist nicht besser als der Nationalist, er ist anders. Ihn kümmert die Welt nicht, da sie ihm ohnedies gehört. Und was einem gehört, muß man nicht erobern, auch nicht verteidigen.

Dem Österreicher war die Welt immer zu groß. In der Monarchie schätzte er die Randländer nur insofern, als das, was aus ihnen herausgepreßt wurde, dem Zentrum zufloß. Heute ist es nicht anders, die ehemaligen Randländer sind selbständig, nichtsdestoweniger hat Österreich sie ökonomisch im Würgegriff.

Dem Deutschen war die Welt immer zu klein. Er verdankt zwar der Kleinstaaterei eine Blüte der deutschen Literatur, recht ist ihm das aber nicht. Er sähe es lieber, Goethe wäre mit Bismarck auf Kur gewesen und nicht mit Beethoven. Wem die Welt zu klein war, dem bleibt sie zu klein. Er unternimmt Eroberungszüge, zuerst militärische, später wirtschaftliche, kann aber, was er erobert, nicht behalten. Das hat er nie gelernt.

Der Österreicher, dem die Welt tatsächlich einmal gehörte, betrachtet den Gebietsverlust als Gewinn, denn jetzt erst, im Kleinstaat, kann er ungestört genießen, der Mittelpunkt der Welt zu sein. Adorno erzählte im Operncafé, wie er, in den zwanziger Jahren nach Wien gekommen, um bei Alban Berg Musik zu studieren, dem Meister gestand, von Wien aus Kontakt suchen zu wollen zu Leuten, die sich in Budapest und Prag in Neuer Musik versuchen. Berg schaute ihn verständnislos an. Neue Musik gab es nur in Wien.

Der Nationalist findet an der Welt nicht Genüge, der Chauvinist ruht in seiner Welt. Er beruft sich auch nicht, wie ihm unterstellt wird, auf die Geschichte, er muß sie nicht einmal kennen. Denn er verkörpert sie. Der Nationalist ist geschichtslos, er erfindet für sich eine Heldengeschichte, die immer eine Leidensgeschichte ist. Und macht er sich schuldig, leidet er umso mehr. Er kommt nicht zur Ruhe und wird immer aggressiver.

Der Chauvinist ist, wie man am Österreicher sieht, prinzipiell unschuldig. Er ist ebenso verbrecherisch wie sein Kompagnon, der Nationalist, begeht aber die Verbrechen kaltblütig und ohne missionarischen Eifer, weshalb er nicht nur gelassen, sondern geradezu gemütlich wirkt. Er ist sogar beliebt. Für den Nationalisten ein Grund mehr, wütend zu sein.

In diese öterreichische Welt kommt der deutsche Theaterregisseur Stemann, im Tornister Pläne für eine neue Willkürherrschaft, welche die alte Herrschaftswillkür ablösen soll. Er tritt als Theaterfeldwebel auf, der weiß, wie er sich am besten Gehör verschafft: indem er hinausschreit, daß fortan nur die eigene Anordnung gilt. Das hört sich schon deshalb komisch an, weil ein Feldwebel immer eine komische Figur ist. Man sagt: Zu Befehl, Herr Feldwebel, geht weg und lacht über ihn.

Niemand aber tritt ihm in Wien gegenüber und lacht ihn aus, da der österreichische Chauvinist sich in seiner Ruhe nicht stören läßt, sondern sich denkt, daß das Unglück geht, wie es kommt. Stemann jedoch braucht ein wirkliches Gegenüber und findet es nach langem Suchen in der Person des Dramatikers Peter Turrini. Der schreibt nicht nur Stücke, sondern hat über seine Kunst und den Umgang mit ihr im Theater einiges zu sagen.

Turrini hat sich in einer Rede und in Interviews dagegen verwahrt, daß Regisseure in Theaterstücken nach Belieben herumfuhrwerken, und gemeint, am Theater solle doch eine Arbeitsteilung gelten wie im übrigen Arbeitsleben: Man legt fest, wer was macht, wer wofür zuständig ist. Der Autor für das Stück, der Regisseur für die Inszenierung. Turrini hätte diese einfache Einsicht nicht ausgesprochen, hätte er nicht beobachten müssen, daß Regisseure sich nicht nur hier und da, sondern geradezu systematisch nicht daran halten. Seine Rede war ein Protest.

Das kommt dem Feldwebel gelegen. Denn wie seinem militärischen Vorbild der Mensch im Krieg Material ist, ist ihm im Theaterkrieg auch das Theaterstück nur Material. Sein Material. Schreiben ist passé, Umschreiben an der Tagesordnung. Und Umschreiben setzt voraus, daß man nicht schreiben kann – wie an dem Text, den Stemann in der Zeitschrift „profil“ gegen Turrini verfaßt hat, abzulesen ist.

Angenommen, in einem Theaterstück fände sich der Satz: „Ich merke, wie müde ich es bin, so etwas ständig kommentieren zu müssen.“ Stemann hätte den Satz, folgt man seinem Text in der Zeitschrift, dieserart umgeschrieben: „Ich merke, wie müde ich bin, ständig so etwas kommentieren zu müssen.“ Es ist verständlich, daß Stemann müde ist von seinem Kampf um die Oberhoheit am Theater. Auch ich bin es müde, zu betonen, daß das Umschreiben voraussetzt, daß man nicht schreiben kann.

Der umschreibende Stemann, der es nicht zum schreibenden Dramatiker gebracht hat, schreibt: „Er hat meinen vollsten Zuspruch.“ Schriebe er diesen Satz in ein Stück, stünde der Autor nicht nur als Volltrottel, sondern als Vollsttrottel da. Das wäre allerdings eine jener sprachlichen Bereicherungen, welche das an Schimpfwörtern arme Österreichisch dringend braucht.

Seit die Wirtschaft in Deutschland stagniert, weil zu viele Deutsche in Griechenland in der Sonne liegen und den Griechen argwöhnisch beim Nichtstun zuschauen, gehen die wenigen fleißigen Deutschen, die es noch gibt, verbittert nach Österreich, wo sie gleichwohl freundlich aufgenommen und in der Gastronomie als Kellner oder am Theater als Regisseure beschäftigt werden, in der Gastronomie die mit guten, am Theater die mit schlechten Deutschkenntnissen.

Kennt man seinen Leidensweg, versteht man Stemann besser. Wer sich mit der Sprache schwertut, greift zur Phrase, die er so lange drischt, bis der Unsinn den Klang von Sinn annimmt. Stemann verkündet: „Wer fürs Theater schreibt, schreibt fürs Theater.“ Allerhand. Das wußte man bislang nicht. Man weiß allerdings, daß hinter der Tautolgie stets die Diktatur lauert. Stemann will sagen: Wer fürs Theater schreibt, schreibt fürs Theater. Und das Theater bin ich. Und er verleiht der Anmaßung Bedeutung, indem er den Schlachtruf brüllt: „Denn gekämpft werden muß immer.“ Und zwar so lange, bis Stemann gesiegt hat.

Er führt allerdings keinen einsamen Kampf, sondern partizipiert von einem internationalen Trend. Der wirkliche Kampf ist der zwischen Kunst und Kunstgewerbe. Er wurde zu allen Zeit geführt; selten hat ihn die Kunst gewonnen. Zurzeit liegt die Kunst einigermaßen zerschunden auf dem Boden. Sie hat aber nie aufgegeben und wird das auch jetzt nicht tun. Sie hat unzählige Diktaturen überstanden, sie wird auch die gegenwärtige Diktatur der Kunstgewerbler überleben.

Es ist eine dramatische Auseinandersetzung. Die gegenwärtige Ökonomisierung von allem und jedem, die pathologische Züge annimmt und das Innerste der Menschen erfaßt, und der scheinbar unaufhaltsame Siegeszug des Kapitals haben eine Horde von Kunstgewerblern hervorgebracht, die sich dem Kapital andienen mit dem Versprechen, Kunst zu jenem beliebigen Dreck zu machen, mit dem die Wirtschaft, die sich als Sauwirtschaft herausstellt, die Welt überschwemmt.

Der Grund des gegenwärtigen Kampfes der Kunst gegen die Kunstgewerbler ist ebenso einfach zu erklären wie schwer zu verstehen: Kunst war und ist diejenige Ware, die den größtmöglichen Gebrauchswert repräsentiert. Das Kunstwerk, Inbegriff dieses Bemühens, begibt sich auf den Markt und demonstriert dort den Menschen, daß es nicht nur auf den Warencharakter eines Gegenstandes ankommt, jenen Warencharakter, der die Menschen um den Gebrauchswert betrügt.

Das ist die materialistische Ursache jener maßlosen Wut der Mächtigen gegen eine Kunst, die alles andere als mächtig ist. Das gelungene Kunstwerk folgt einer strengen innerkünstlerischen Ökonomie, deren Strenge dem Ziel geschuldet ist, für den Gebrauch da zu sein, den Menschen zur erkenntnisreichen Freude und zur freudigen Erkenntnis. Das Kunstwerk ist der Widerpart der gebrauchsentleerten Ware, welche die Menschen anleitet zu Gleichgültigkeit gegenüber den Dingen, die sie produzieren und kaufen, was in Gleichgültigkeit und Verachtung ihrer selbst endet.

Die gegenwärtige Offensive der Kunstgewerbler orientiert sich an einer Wirtschaft, die, geleitet von der wahnhaften Doktrin, sie müsse wachsen, Waren produziert mit minimalem Gebrauchswert, damit auf der Grundlage von unbrauchbarem Schrott noch mehr unbrauchbarer Schrott produziert werden kann.

Wie man aus Kunst Schrott macht, ist die einzige geistige Frage, welche diese Gesellschaft beschäftigt. Da die Kunst freiwillig nicht mittut, muß ein Geschäftszweig geschaffen werden, der die Drecksarbeit erledigt, angeführt von Kuratoren, Museumsleitern, Dramaturgen, Kulturjournalisten, Literaturvermittlern, Arrangeuren, Festivalbetreibern. Von außen sieht dieses Geschäft aus wie ein traditioneller Kulturladen, der schon von weitem nach Moder stinkt, tatsächlich aber handelt es sich um ein bis zur Erschöpfung umtriebiges Management, das seine alte Funktion behäbigen Verwaltens verloren hat und, ums Überleben kämpfend, ganz in der neuen Funktion aufgeht, die Kunst geschäftstüchtig niederzumetzeln.

Die wahren Sensenmänner aber, die Herren der Zeit, sind die neuen Kunstgewerbler, die sich, von gesellschaftlicher Macht gestützt, an die Stelle der Künstler setzen. Der alte Kunstgewerbler, zum Beispiel der Herrgottschnitzer, hatte eine Vorlage, die er meist von den Altvorderen übernahm und bis ans Ende seiner Tage reproduzierte. Der neue Kunstgewerbler arbeitet anders. Da er über keine handwerklichen Fähigkeiten verfügt, könnte er niemals einen Herrgott schnitzen.

Er nimmt eine simple Vorlage, die er technisch leicht vervielfältigen kann, eine Licht-, eine Ton-, eine Wortinstallation, und legt ihr einen Zettel bei, auf dem steht, was dieses Ereignis zu bedeuten hat. Im Kunstereignis, dem Event, stecken Bruchstücke aller Künste. Es ist ein Gesamtkunstwerk, in dem das Wagnersche endlich zu sich kommt. Wagner probierte aus, wie Musik als Massensuggestion funktioniert. Noch gab es eine Parallelität von Musik und Propaganda.

Die fällt heute weg. Musik versinkt in Eintönigkeit, der gegenüber das Immergleiche der alten Unterhaltungsmusik abwechslungsreich wirkt. Den andern Künsten widerfährt das Gleiche. Die Botschaft lautet: Wir haben nichts zu bieten, und das ist nicht nur gut so, dieser Zustand soll auch unaufhörlich gefeiert werden. Da das Leben außer der Arbeitsmühsal wenig bereithält, soll das in der Kunst nicht anders sein. Das zustandegebracht zu haben ist ein historisches Verdienst der Kunstgewerbler.

Das neue Kunstgewerbe wäre nichts ohne das neue Publikum, das ihm zuläuft. Frustriert durch Großkaufhäuser zu latschen, um in der Freizeit die Dumpfheit des Arbeitslebens ohne Bruch fortzusetzen, das ist nur Beginn städtischer Vergnüglichkeit. Sie setzt sich fort, abermals ohne Bruch, im Bummeln oder im Verweilen in den Museen, Galerien, Theatern, Kunsthäusern, Literaturhäusern, Alternativhäusern. Fehlen nur noch die Scheißhäuser. Stemann bedient dieses neue Publikum. Er tut, als machte er im Theater, was er will, in Wahrheit macht er, was das neue Publikum will.

Der Kapitalismus hat nicht nur die Arbeiterklasse aufgerieben, er hat auch das Bürgertum, diejenige Klasse, die ihn einst getragen hatte, abserviert und durch Rackets, organisertes Gangstertum, ersetzt. Hören Rackets das Wort Gesellschaft oder gesellschaftliche Interessen, brechen sie in Gelächter aus. So wie Stemann, wenn Turrini von einem Theaterstück spricht, mit dem man nicht nach Belieben umspringen sollte.

Ein Teil der Arbeiterklasse ist ins Kleinbürgertum aufgestiegen und bangt nun, in der Finanzkrise, um seinen Status. Ein anderer Teil sank ins Lumpenproletariat ab und füllt - nichts Neues - die Reihen der Faschisten. Ein Teil des Bürgertums rutschte hinunter ins Kleinbürgertum, formiert sich als Lumpenbourgeoisie und sucht sein Heil ebenfalls bei der extremen Rechten.

Dieses neue lumpenbourgeoise Kleinbürgertum bildet zusammen mit dem Kleinbürgertum der Arbeiter, das um sein Überleben zittert, jenes neue Publikum, das für die Kunstgewerbler wie geschaffen ist. Die Angst der einen und die Hoffnungslosigkeit der anderen erzeugen die Erwartung, es dürfe keine Sphäre mehr geben, die nicht von Angst und Hoffnungslosigkeit bestimmt ist.

Die Kunst, der Menschlichkeit verpflichtet, unbeirrt an der Herausbildung des autonomen Individuums arbeitend, wird von diesem Publikum nicht als Bundesgenosse begrüßt. Stemann schon. Verunstaltet er ein Theaterstück, fühlen die von der Gesellschaft Verunstalteten sich verstanden und gewürdigt.

Das gibt Stemann Zuversicht und Kraft. Als Mann der Stunde ruft er Turrini zu: „Man reihe sich ein oder man lasse es bleiben.“ Dieses Goebbels’sche Staccato ist legitim. Die Diktatur des Kapitals und die mit ihr verschwisterte Herrschaft der Kunstgewerbler hat faschistische Züge. In dieser Entwicklung reitet aber nicht das Kapital voran, sondern der schöngeistige Helfershelfer. Wäre es nicht so, es lohnte sich nicht, ein Wort über Stemann zu verlieren.

Die Ästhetisierung des Politischen war und ist die Wegbereitung für den Faschismus. Die Höllenfahrt beginnt mit der Ächtung der Kunst, sie gewinnt an Geschwindigkeit mit dem willkürlichen Eingriff ins Kunstwerk und setzt sich fort mit dessen Einebnung zum Amüsement. Und ist die Kunst heruntergebracht zum Freizeiterlebnis, ist sie auch schon Propaganda. Und das stets im Namen der reinen Kunst, dem ästhetischen Ideal des Kunstgewerbes. Denn Kunst ist alles mögliche, nur nicht rein. Sie lebt von der Wechselwirkung von Form und Inhalt. Nimmt man ihr den Inhalt, verkommt die Form zur Dekoration. Nimmt man ihr die Form, bleibt als Inhalt eine Information, die man ohnedies aus der Zeitung kennt.

„Ich hoffe, wir haben das jetzt ein für alle Mal geklärt“, schreibt Stemann. Diesen Eindruck habe ich auch. Ich bin mir aber nicht sicher, ob Stemann seinen Satz, der einiges Gewicht hat, auch zu heben vermag. Ein für alle Mal geklärt ist nur, daß Stemann wegen seiner schlechten Deutschkenntnisse nur Arbeit an einem österreichischen Theater fand. Sollte er einen Deutschkurs absolvieren, stünde ihm eine Karriere in der Gastronomie offen. Servierte er aber in seiner Selbstherrlichkeit jemandem, der einen Tafelspitz bestellt hat, einen Kaiserschmarrn, wäre abermals ein für alle Mal alles geklärt. Stemann müßte zurück ans Theater.

„Die Presse, Spectrum“, Wien, 17. 11. 2012
„Konkret“, Hambrg, Jänner 2013