Weltzivilisationspreis
Rede auf Franz-Leo Popp
Noch nie habe ich öffentlich über jemanden gesprochen, der nicht Autor ist, nicht unbedingt Schriftsteller, aber doch Publizist oder Kritiker. Und in jedem Fall wurde ich dazu eingeladen. Diesmal spreche ich nicht nur nicht über einen Schriftsteller, auch wenn Franz-Leo Popp des Deutschen mächtiger ist und der Sprache näher steht als mancher Autor, ich wurde dazu auch nicht eingeladen.
Ich habe mich zu diesem Unternehmen, ein kleines Porträt zustandezubringen mit kleinen Mitteln, mit Bleistift auf Papier, hingedrängt, wenn ich mich nicht überhaupt vorgedrängt habe, wie Tintoretto es in Venedig getan hat, der, war ein Wettbewerb ausgeschrieben für ein Altarbild, nächtens in die Kirche einbrach, sein Bild so befestigte, daß man es, ohne den Altar zu beschädigen, nicht entfernen konnte, und der unter das Gemälde einen Zettel legte, auf dem er kundtat, daß er für sein Werk keine Gegenleistung erwarte. Anders war damals in Venedig, wo Tizian, der, ungeachtet dessen, daß die Republik ihm, seit er 19 war, ein Gehalt garantierte, an beinah jedem Wettbewerb teilnahm-anders als Tintoretto, der Größte, es tat, war gegen Tizian, den Allergrößten, ein Wettbewerb nicht zu gewinnen.
Dies im Kopf, verlautbarte ich landauf, landab, daß ich die Laudatio auf Franz-Leo Popp verfasse und vortrage, so daß der dieserart Bedrängte gar nicht anders konnte, als mir den Vortritt vor den Mitbewerbern, unter denen sich freilich kein Tizian befand, zu lassen, und die sitzen nun wutschnaubend zu Haus und hoffen, daß ich mich blamiere. Sie hoffen vergebens. Denn ich versuche nicht einmal, eine Laudatio zu halten, ich bewege mich der Sache entlang, und weil ein solcher Weg immer Entdeckungen verheißt, sachliche, unspektakuläre, dränge ich mich vor.
Es ist Juli. Am Abend, ich spreche von diesem Jahr, erreicht in Wien die Temperatur in den Wohnungen 37 Grad, und ich beschließe zu verreisen-an den Stadtrand; nach dem Motto Nestroys: Ich fahr an meinem End nicht weiter als bis Fischamend.
Ein letzter Blick auf den Kalender. Ich muß Franz-Leo Popp anrufen. Es ist bereits neun. Oft schon habe ich ihn um diese Zeit erreicht. Er ist dann immer noch oder schon wieder, nach dem Abendessen, in seinem Büro. Er hebt tatsächlich den Hörer ab. Ich sage, ich hätte Verdis „Falstaff“ nun offenen Sinnes studiert, sei aber noch nicht in der Lage, die Entwicklung vom frühen zum späten Werk als musikalische Bereicherung zu begreifen, ja ich sähe sogar manche frühe Grobheit Verdis später ins Pompöse gesteigert. Für den Anfang, antwortet Popp, sei diese Beobachtung nicht schlecht-aber nur für den Anfang.
Er hätte sich übrigens gemeldet, aber erst morgen, Montag abend, wie es vereinbart gewesen sei. Ich bemerke meinen Irrtum, den Sonntag für Montag gehalten zu haben, und wundere mich, Franz-Leo Popp ausgerechnet am heißesten Abend des Jahres, der noch dazu ein Sonntagabend ist, im Büro anzutreffen. Seine Antwort wundert mich nicht. Er sei extra ins Büro gefahren, damit sind gemeint die Räumlichkeiten der Literar-Mechana, einer Verwertungsgesellschaft, zwei Wohnungen groß, um die Fenster zu öffnen, damit in der Nacht kühle Luft durch die Räume streicht, um sieben in der Früh werde er wieder ins Büro eilen, die Fenster schließen, um die Sonnenhitze draußenzuhalten, damit die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und gewiß auch er, der Geschäftsführer, den Arbeitstag wenigstens unter erträglichen Bedingungen beginnen können.
Für mich, einen Materialisten vulgärer Provenienz, der diejenige Menschenfreundlichkeit am meisten schätzt, von der ein Mensch tatsächlich etwas hat, von der er gewissermaßen herunterbeißen kann, für mich beinhaltet diese kleine Geschichte erste, wichtige Konturen des Portraits. Andere Züge der Persönlichkeit stechen zu sehr hervor, als daß sie für die Person bezeichnend, für meine Zeichnung bestimmend sein könnten. So ist Franz-Leo Popp Opernliebhaber und Musikkenner-meist schließt das eine das andere aus, bei ihm nicht, und doch ist diese Liebhaberei, mag sie intensiv, ja leidenschaftlich sein, ein passives und somit die Persönlichkeit nicht umfassend prägendes Verhalten.
Noch ist es jedenfalls so, daß nichts den Menschen stärker formt als die Arbeit, der er nachgeht, wenn er eine hat, oder der er nachläuft, wenn er eine sucht. Das Äußere wird davon geprägt, die Gesichtszüge, die Statur, die Art sich zu bewegen und das Innere, das Denken, das Fühlen. Wer ist dieser Mann, hatte ich mich vor einem Vierteljahrhundert gefragt, der mir, als ich mit vielen anderen ins Wiener Rathaus eilte, entgegenkam, wer ist der Mann, der auf mich wirkte, als würde er als einziger das Rathaus verlassen, wo doch alle anderen hineindrängten, und zwar, was mich irritierte, massenhaft. Ich war auf dem Weg zum 1. österreichischen Schriftstellerkongreß, sollte die Eröffnungsrede halten und konnte mir nicht vorstellen, was die unzähligen Menschen hier wollten.
Mein Blick heftete sich hilfesuchend an den einen, der in die Gegenrichtung schlenderte. Der Mann war großgewachsen, schlank und von jener unauffälligen Eleganz, die in Wien sofort auffällt, weil hier die Leiber so schnell auseinanderquellen, daß man mit der Adapation der Kleidung nicht nachkommt. Dieser Mann, das merkte ich, als er näher kam, hatte es nicht eilig, er schien nicht einmal ein Ziel zu haben, und er lächelte so zurückhaltend, daß ich nicht sagen konnte, lächelte er ironisch, sarkastisch oder mitleidig. Ich blieb stehen, um ihn besser beobachten zu können. Er merkte es, ging auf mich zu, und wir machten einander bekannt. Er sog die Luft durch die Nase und sagte, aus meinem Einkaufskorb dufte es vorzüglich. Das Frühstück für die Kinder, antwortete ich.
Wir standen den Leuten im Weg und gingen zur Seite. Lauter Schriftsteller? fragte ich. Franz-Leo Popp nickte. Unsere Funktionäre, sagte ich, machen das großartig; sie laden jeden zum Kongreß, der je ein Gedicht begonnen hat, so haben sie einmal im Leben eine Massenbasis; der Traum jeden Funktionärs, ob eines Partei-oder Schriftstellerfunktionärs, ist die Massenbasis. Popp lachte, endlich sah ich ihn auch lachen. Und der Schriftstellerkongreß, sagte er, ist kaputt, ehe er begonnen hat.
Ich hatte den Eindruck, einen außergewöhnlichen Menschen kennengelernt zu haben, und frage mich seit dem, worin dieses Außergewöhnliche besteht. In einer, vermute ich, relativen Autonomie. Sollte sich die Gesellschaft zum Guten entwickeln, und außer der Wirklichkeit spricht wenig dagegen, dann werden sich in ihr autonome Individuen tummeln. Autonom sein heißt nach eigenen Gesetzen im Rahmen vernünftiger Gesetze leben, heißt unabhängig sein im Bewußtsein der Abhängigkeit.
Der Unabhängige im klassischen Sinn, also der Vermögende, ist uninteressant. Immer nur das Geld zu beobachten, ob es wohl arbeitet, macht dumm. Franz-Leo Popp repräsentiert das Gegenteil: den Angestellten, der die Geschäfte führt und sich dabei Freiheit erarbeitet. Sich Unabhängigkeit zu erwerben, wie Popp es demonstriert, ist heutzutag wohl die interessanteste und aktuellste Gestalt von Autonomie. Dazu kommt im Fall Popp, daß der Geschäftsbereich oder der Bereich der Tätigkeit selbst ständig umgestaltet wird, was völlig konträr ist zur kapitalistischen Routine. Diese besteht darin, die Möglichkeiten auszuschöpfen, die in der Wirklichkeit vorhanden sind. Nicht die wirklichen Möglichkeiten aber sind von Interesse, lehrt uns Musil, sondern die möglichen Wirklichkeiten.
Während der klassische Unabhängige den Mitbürger stets in Verdacht hat, er könnte ihm etwas wegnehmen, geht ein autonomer Mensch wie Popp davon aus, die anderen seien nicht schlechter als er selbst. Wie autonom jemand ist, zeigt sich daran, welche Autonomie er anderen zubilligt. Nach meiner Beobachtung empfindet Franz-Leo Popp Unbehagen vor allem gegenüber Unterwürfigen und Funktionären. Der Unterwürfige, der sich nach einer Autorität sehnt, empfindet den Autonomen, der niemanden unterwirft, zwangsläufig als autoritär.
Für den Funktionär hingegen ist der einzelne nur Teil eines Ganzen, dessen Interessen ausschließlich er, der Funktionär, vertritt. Die Ideologen aller Richtungen sind mit ihm eines Sinnes: Der Mensch ist Teil eines Ganzen. Tatsächlich aber ist jeder Teil bereits das Ganze. Ich verlasse mich bei dieser These weniger auf meine Denkkraft als auf meine Anschauung: Franz-Leo Popp, Teil welches Ganzen?
Der Versuch, nach eigenen Gesetzen zu leben, die nach Möglichkeit auch der Vernunft gehorchen, ist gewiß strapaziös-vorausgesetzt, man kommt überhaupt in die Lage, so einen Versuch zu unternehmen. Vermutlich muß man einen beträchtlichen Teil der Lebensenergie aufwenden, um einen Ort zu suchen und zu finden, wo man jenes Lebens-und Arbeitsexperiment in Angriff nehmen kann. Franz-Leo Popp ging nicht nach der Schule zur Literar-Mechana. Zu seinem Glück mangelte es ihm an Zielstrebigkeit. Denn zielstrebig kann man nur sein, wenn man das Ziel kennt und also auch den Weg. Der vorgezeichnete Lebensweg aber ist der Weg ins nichtgelebte Leben. Den meisten wird er aufgezwungen.
Popp hat kein Ziel und er hat es nicht eilig, und als er die Literar-Mechana findet, erstaunt ihn nichts mehr, als daß sie auf ihn gewartet zu haben scheint. Er kann hier, um den Betrieb aufrechtzuerhalten, das Notwendigste machen, aber auch tausendmal mehr. Dieses Unternehmen mit seinen wirklichen Möglichkeiten und dieser Geschäftsführer als mögliche Wirklichkeit passen gut zusammen. In Popp ist vorgezeichnet, daß er mehr zu schaffen imstande ist, als das Unternehmen erfordert, und in diesem ist vorgezeichnet, daß es sich gern wachrütteln läßt. In einem herkömmlichen Betrieb gibt es diesen Spielraum nicht, denn dort gilt nur die Regel von der Maximierung des Profits und von der Verwertung des dieserart zustandegekommenen Werts. Da diese Regel eine lebensfeindliche Sinnlosigkeit zum Sinn des Lebens erhebt, nennt Hegel das akkumulierende Bürgertum ein geistiges Tierreich, was die gemütliche revolutionäre Perspektive eröffnet, daß der heutige, der neofeudale Kapitalismus an dem Stumpfsinn und an der Langeweile, die ihm innewohnen und die er hervorbringt, erstickt.
Während das nach und nach geschieht, zeichne ich weiter an dem Portrait von Franz-Leo Popp, im Wissen, daß in jedem Gesicht auch das auf dem Bild nicht sichtbare Umfeld des Portraits zu sehen sein muß, denn zu jedem Kopf außer dem geköpften gehört ein Körper, und der wiederum befindet sich in der Welt. Und diese Welt ist ein Paradies-es fehlt tatsächlich an nichts-und zugleich eine Hölle, in der es, und das macht die Hölle aus, an allem fehlt, obwohl alles da ist. Exakt dort, wo das Paradies in die Hölle übergeht, an dieser schmalen Grenze, wo nicht viele Platz finden, dort arbeitet und lebt Franz-Leo Popp.
Er steht einem Unternehmen vor, das keines ist, weil es dem Gemeinwohl seiner Mitglieder: Autoren, Verleger, dient und doch nicht fernab vom Markt agiert. Es holt sich vom Markt, auf dem die Mitglieder ihre Ware verkaufen, jenes Geld, das ihnen zusteht und das dann an sie weitergegeben wird, es bleibt aber auch Geld in der Literar-Mechana, das veranlagt sein will, ohne daß damit spekuliert werden darf. Dem Geschäftsbericht ist zu entnehmen, daß dieses Vermögen ohne Risiko besser veranlagt wird, als wenn damit spekuliert würde. Es dient sozialen Zwecken.
Die öffentliche Hand ziert sich nicht ohne Grund, Künstlern außer für künstlerische Arbeit Geld zu geben. Franz-Leo Popp unternimmt das Wagnis, jahrzehntelang ermutigt von Milo Dor, die Realität eines Künstlerlebens, die verunziert wird von regelmäßigen Notfällen, nicht zu verleugnen, und er öffnet die halböffentliche Hand dem sozialen Zweck, wissend, daß selbst die Unterstützung, die ein Künstler zum Überleben braucht, dessen Selbstbewußtsein verletzt. Denn ein Künstler, der diesen Namen verdient, setzt sich zur Arbeit, um Unvergleichliches zu schaffen- mit dem notwendigen, wenn auch tragikomischen Nebeneffekt, daß er auch sich selbst für unvergleichlich hält.
Popp kommt mit den Künstlerinnen und Künstlern zurecht, weil das autonome Individuum dem autonomiesüchtigen künstlerischen Subjekt verwandt ist. Daß der Versuch, mit dem Sozialfonds der Literar-Mechana definitiv eine praktische Antwort auf die niemals beantwortbare soziale Frage der Künstler zu suchen, geglückt ist, ohne daß Krieg ausbrach, weder zwischen dem Geschäftsführer und den Schriftstellern, noch unter den Schriftstellern selbst, ist eine gewaltige Leistung Franz-Leo Popps, und unter anderem dafür erhält er den Weltziviliationspreis, hier besser bekannt unter dem alten Namen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst.
Ich habe mein Portrait mit der Zeichnung der Mundpartie begonnen und bin jetzt bei der Stirn, also fast fertig, mit den Haaren muß ich mich ja nicht lange aufhalten. Diese Stirn! Nun, da ich sie zeichne, merke ich, es ist die große, offene dem großen, offenen Meer zugewandte Stirn eines Kapitäns, dessen Leidenschaft allerdings ebenso der Jurisprudenz gehört wie der Schifffahrt.
Unter dem Vorwand, die Geschäftsführung der Literar-Mechana zu übernehmen, baut er dieses Schinakel zu einem Schiff aus und sticht mit ihm in See. In vielen Häfen nimmt er Aufenthalt, doch immer nur für kurze Zeit, weil Piraten, in der Meinung, den Kapitän übertölpeln zu können, einmal diesen, einmal jenen Hafen anlaufen, um dort illegal schriftstellerische Werke zu nutzen.
Die Piraten bedienen sich dabei einer immer neuen Technologie, diesem Hundsfott der Technik, der nichts hält und viel verspricht, unter anderem Jahr für Jahr die neueste Methode der Reproduktion, bei der geistiges Eigentum so gestohlen werden könne, daß der Eigentümer keine Chance auf Gegenwehr habe. Allerdings nur, bis Franz-Leo Popp aufkreuzt und die Piraten in Ermangelung eines Kanonenboots juristisch bekämpft.
Das klingt einfach. Doch anders als bei Einbruch und Ehebruch handelt es sich beim Bruch von Urheberrecht nicht nur nicht um populäre Delikte, sondern auch um ständig neue Formen des Rechtsbruchs, gegen die der Rechtststaat, da er nicht prophylaktisch agiert, kein Gesetz vorrätig hat. Es muß erst eines geschaffen werden. Und zwar indirekt von Franz-Leo Popp, indem er es initiiert.
So edel das Wort Rechtsstaat klingt, was dahintersteckt, sind zum Glück materielle Interessen. Und damit die nicht aufeinanderprallen, was bis in den 1. Bezirk hörbar wäre, schuf der Gott der Lüge, des Betrugs und der Heuchelei Interessensvertreter, so daß das Kapital und die werktätigen Massen einander nicht haßerfüllt gegenüberstehen, sondern sich in Gestalt der Interessensvertreter beim Heurigen umarmen, wobei mein Interessensvertreter, der der werktätigen Massen, gesagt haben soll, ich, mit meinem Alterswerk beschäftigt, würde nur mehr zu den alterswerktätigen Massen zählen.
Da der Interessensvertreter Interessen vertritt, ist es fast unmöglich, bei ihm auch Interesse zu wecken, schon gar für die Frage geistigen Eigentums. Franz-Leo Popp aber ist klar, daß er das Unmögliche erreichen muß, andernfalls die Piraten triumphierten. Und so erficht er juristische Siege mit einem Mittel, das ihm, nicht aber den Piraten zur Verfügung steht, nämlich mit der Zeit, die er hat, da die Autoren, für die er streitet, gar nicht mitbekommen, was er alles für sie tut, und ihn folglich nicht drängen. Zeit zu haben in einem Rechtsstreit mit Kontrahenten, die schon aus Gründen des Profits keine Zeit haben, paßt zum Stil des Kapitäns, der, ob er gerade gewinnt oder dem Schein nach verliert, eines immer ist: souverän.
Gerade weil Franz-Leo Popp um diese Eigenschaft weiß, ist er darauf bedacht, nie jemanden von oben herab zu behandeln. So blieb er den Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die er längst besser kennt als wir uns selbst, als engagierter Mitstreiter zugetan. Wir danken. Und gratulieren.
„Literatur und Kritik“, Salzburg, Dezember 2006