Ungläubig schüttelt der Ungläubige den Kopf
Die Arbeit der Aufklärung kann von den Religionen erschwert, aber weder rückgängig gemacht noch gestoppt werden. Zum Karikaturenstreit: Anmerkungen eines Gottlosen.
Ich kam im Krieg zur Welt und wuchs in der Nachkriegszeit heran. Dennoch hatte ich eine schöne Kindheit. Zu verdanken habe ich sie meinen ungläubigen Eltern, die es vorzogen, mich nicht religiös zu erziehen. Ich machte mir Gedanken, ohne daß ein allwissender Gott in meinen Kopf schaute, dort ungeniert die Gedanken las und den Hintergedanken nachspürte. Ich wuchs heran, ohne mich fortwährend zu fragen, ob, was ich tat, gut sei oder bös, denn kein Teufel wartete auf mich in der Hölle, um mich zu strafen. Religiös erzogene Freunde erzählen mir, daß es Jahrzehnte dauerte, ehe sie sich von der Angst, welche sie der christlichen Erziehung zuschreiben, befreien konnten. Sie erzählen es voll Haß.
Dieser Haß ist mir ebenso fremd wie Religion, gleich welche, und Gottesgläubigkeit. Für mich zählt zu den wenigen Dingen, die gewiß sind, die Tatsache, daß es keinen Gott gibt. Spätestens seit dem Beginn der Neuzeit weiß man, daß man von einem Gott nichts weiß. Deshalb redet man richtigerweise von Glauben. Nun ist Glauben, der mit Wissen nichts zu tun hat, Aberglauben. Um glauben zu können, wird mit dem Verstand entschieden, daß man sich justament in einer Frage gegen den Verstand stellt. Dieser rationale Akt zugunsten der Irrationalität schlägt dem Bewußtsein eine Wunde, die niemals heilt. Um sie zu verbergen, zeigt der Gläubige vorwurfsvoll auf den Ungläubigen und spricht von dessen Makel - der Gottlosigkeit.
Zur Demagogie der Gläubigen zählt seit jeher, die Beschädigung, die man sich selbst zufügt, indem man die Vernunft ausschaltet, dem Ungläubigen anzudichten. Ein Meister dieser Demagogie war der Psychiater Ringel, der predigte, der Mensch sei von Natur aus religiös - eine menschenfeindliche Behauptung, welche die Gewißheit enthält, der nicht religiöse Mensch sei minderwertig, letztlich keine lebenswerte Existenz. Das ist die faschistische Grundlage der fundamentalistischen Hetze, welche den Gläubigen in Aussicht stellt, eines Tages im Blut derer baden zu dürfen, die nicht glauben. Ringel hatte seinen Lehrstuhl übrigens nicht im Nahen Osten, sondern an der Wiener Universität.
In Wien zu Hause ist auch Armin Thurnher, Herausgeber und Chefredakteur der Wochenzeitung „Falter“. Er achtet die Religionsfreiheit, schätzt es aber nicht, wenn Muslime bei ihrer Freiheitsausübung die hiesige Pressefreiheit gefährden. Er will diese Bedrohung jedoch nicht überschätzen, denn die Pressefreiheit werde nicht nur von außen, sondern auch von innen bedroht. Er meint damit nicht die uralte Tatsache, daß der Besitzer einer Zeitung, eines Mediums bestimmt, was dort geschrieben, gesendet wird, oder daß der Besitzer vieler Medien ein Garant dafür ist, daß man überall das gleiche druckt und sendet.
Nein, Thurnher sieht die Bedrohung viel weiter innen, in der eigenen Unfähigkeit zu schreiben und er gibt ein Beispiel dafür. „Die Muslime“, formuliert er, „sind tief gekränkt, weil ihr Prophet nicht abgebildet werden darf“. Da lachen die gekränkten Muslime befreit auf und überlegen, auch in ihrem Wirkungsbereich die Pressefreiheit einzuführen, als Ansporn für alle, die partout das Gegenteil dessen, was sie sagen wollen, zu Papier bringen. Für die Leser ist das ein billiges und wie im Fall Thurnher ein nie endendes Vergnügen.
Der Feind des Gläubigen mag zeitweise der Andersgläubige sein, sein wahrer Feind aber ist der Ungläubige, der Gottlose. Ich vermute, daß durch die Ökonomisierung und Verwissenschaftlichung der Welt - die fortschrittliche Seite des Kapitalismus - zumindest diejenigen Menschen, die noch für die Produktion gebraucht werden, auf ihren Verstand setzen, so daß es heute wohl mehr Ungläubige gibt als jemals in der Geschichte. Für die Christen sind sie die Feinde im eigenen Land, für die Muslime die Feinde im Ausland. Toben Muslime über eine ausländische Karikatur, springen ihnen die Christen selbstverständlich bei.
Die gewaltigen Dialogkasperliaden zwischen den Glaubensgemeinschaften, unter denen Österreich seit Jahren ächzt, gelten nicht dem gegenseitigen Verstehen - den Glauben kann man glauben, nicht verstehen -, sondern der Rettung des Aberglaubens und dem Zusammenschluß gegen die Ungläubigen. Denn die historische Tendenz spricht für ein Schwinden des Aberglaubens. Die Arbeit der Aufklärung kann von den Religionen erschwert, aber weder rückgängig gemacht, noch gestoppt werden. Dazu kommt der Selbsterhaltungstrieb des Menschen, der die Gattung davor bewahrt, auf ein Leben im Jenseits zu bauen, andernfalls sie im Diesseits ausstürbe. Außerdem ist Religion in einer vollends säkularen Welt, die von wachsenden materiellen Problemen geplagt wird, so anachronistisch, daß sie nicht mehr wie im 19. Jahrhundert als Droge – Opium für das Volk – wirkt, sondern als Gift.
Die Religionen, vom Untergang bedroht, bäumen sich auf. Vor wenigen Jahrzehnten war kein Land im Nahen Osten weiter weg vom Gottesstaat als der Iran. Heute betrachten die anderen Weltreligionen den Gottesstaat voll Neid, denn sie wissen, daß Religion ohne politische Macht und ohne gesellschaftlichen Einfluß zur Sekte verkommt. Wie alles andere ist die Glaubensfrage auch eine Machtfrage.
Die Muslime neigen auf Grund einer materiellen Lage, in welcher Religion zum wichtigen Lebensmittel geworden ist, dazu, den besser ausstaffierten Westen für gottlos zu halten. Das ist ein folgenschwerer Irrtum. Der Gott der Christen ist im 19. Jahrhundert von Nietzsche und vom Industriekapitalismus zwar gestürzt worden, er wurde aber, wie immer wenn ein Gott gestürzt wird, von einem Götzen ersetzt, vom Kapital. Walter Benjamin nannte den Kapitalismus deshalb eine Religion. Man liegt dem Kapitalismus zu Füßen, dankt ihm, daß er einen ernährt, und gibt, wenn er einen verhungern läßt, sich selbst die Schuld. Man hat nicht gottgefällig, also nicht kapitalismusgefällig gelebt.
Anders als der alte Gott ist der neue Götze flexibel. Verhalten die Götzendiener sich nicht unterwürfig und verlangen zu viel Lohn, zieht der Götze Kapital weiter, dorthin, wo die Menschen noch gut sind, also arm. So wandert das Kapital in Richtung Osten, und so werden Siemens und VW bald Teheran erreichen, wo die Diktatur der Priester ihnen dann die passenden Arbeitskräfte zur Verfügung stellt, wie die Diktatur der Kommunisten in China es schon jetzt tut. Und nur in Blättern, die sich auch dann noch ein Feuilleton halten, um die Welt zu deuten als aus dem Geist geboren, wird man lesen können, daß Demokratie und Kapitalismus einander bedingen.
Es ist ein tragikomisches Mißverständnis, daß die Islamisten, die politisch - militärische Abteilung des Islam, die USA als Hauptfeind betrachten, ohne zu sehen, daß die Vereinigten Staaten ein säkularer Gottesstaat sind. Sie sind das nicht nur, weil der gegenwärtige Präsident ein religiöser Kämpfer ist, sondern weil der gesellschaftliche Reichtum in den Händen weniger vereint ist, die Allmächtig wie einst Gott über dem Land thronen und denen einschließlich der Politik alles gehört. Der Präsident genießt es, daß nicht nur er, sondern auch die Muslime sich für den Glauben stark machen. Der weniger fundamentalistische englische Regierungschef droht hingegen Teheran mit dem Einsatz von Atomwaffen.
Europa war immer ein vom Aberglauben verseuchter und deshalb von Kriegen verwüsteter Kontinent. Die Hoffnung, der Industriekapitalismus bringe dank der technischen Vernunft seiner Produktionsanlagen auch mehr Vernunft in die Gesellschaft, erwies sich als falsch. Zu absurd ist die Struktur des Kapitalismus.Wo der Zwang, daß der Gewinn erhöht werden muß, selbst wenn die Welt dabei zugrundegeht, eine ganze Wirtschafts - und Gesellschaftordnung definiert, sind nicht Ratio und sinnvolles Handeln, sondern Rationierung mit der Folge sinnlosen Darbens zu erwarten.
Daß sie beide irrational sind, verbindet Wirtschaft und Religion, verbindet Kapitalismus und Christentum aufs engste. Der Kapitalismus kann sich aber auch mit jedem anderen Aberglauben verbünden, was das Christentum nicht stört. Es hat vom Kapital als dem flexiblen Gott gelernt, gerissen zu sein, mit einem Bein im Jenseits, mit dem anderen aber in dieser Welt zu stehen. Der Islam tritt in diesen Lernprozeß gerade ein und macht dabei die ersten Fehler.
Der Aberglaube muß, um heute bestehen zu können, sich als Gesellschaftskritik kostümieren. Legendär sind die mahnenden Worte des Papstes an den Kapitalismus. Mit dieser Strategie macht das Christentum die Sozialdemokratie als kritische Instanz überflüssig, welche sich nun ganz ihrem Lieblingsproblem widmet, mitregieren zu dürfen.
Immer wenn der Aberglaube dominiert, ist das Ergebnis ein Blick auf die Sache, der an der Sache vorbeigeht. So ist mittlerweilen die christliche Kapitalismuskritik die einzig approbierte. Die gegenwärtigen Verhältnisse werden als schlecht getadelt, wobei unterstellt wird, es habe auch einmal ein guter Kapitalismus existiert. Das ist Unsinn. Was es einmal gab, war eine Arbeiterbewegung, die, wenn sie so stark war, daß das System sich gefährdet glaubte, materielle Zugeständnisse buchstäblich erkämpfte. Freiwillig gibt das Kapital nichts ab.
Genau deshalb wendet sich die christliche Kapitalismuskritik an den einzelnen Kapitalisten, ja an den Manager, er möge doch Maß halten. Ein blödsinniger Appell an Leute, die erstmals in der Geschichte einem System angehören, das weltweit keinen Widersacher hat. Man macht Gewinne wie noch nie, mit einer hysterischen Eile, als könnte morgen alles vorbei sein. Und das könnte es tatsächlich. Denn viele Opfer des Systems leben immer noch in Demokratien. Sie könnten sich wehren.Tatsächlich aber sitzen sie zu Hause, hören die christlichen Ermahnungen an die bösen Kapitalisten und warten auf die guten. So hilft die christliche Kritik dem System und kümmert sich karitativ um die Opfer. Da deren Zahl unaufhörlich steigt, floriert das Geschäft des Aberglaubens nach allen Richtungen. Das nächste, was der Islam, um mit dem Christentum mithalten zu können, hervorbringen muß, ist der kritische Muslim.
„Die Presse“, Wien, 4. 3. 2006