Michael Scharang

 

Grabrede auf Milo Dor
gehalten inWien am19. 12. 2005

Es schnürt einem das Herz zusammen. Ein gemeinerer Gegensatz ist weder denkbar noch empfindbar als der zwischen der strahlenden Erscheinung Milo Dors und dem Umstand, daß dieser herrliche Mensch, der jeden Raum, den er betrat, allein durch seine Anwesenheit größer werden ließ, nun angewiesen ist auf die Enge eines Sarges. Begreifbar ist dieser Gegensatz schon. Milo Dor selbst vertraute auf die Erfahrung, daß es ein Leben vor dem Tod gibt, und hielt nichts von dem Aberglauben, daß es auch danach eins gebe.Was es zu tun gibt, ist also zu Lebzeiten zu tun. Dabei zeigt sich allerdings, daß es unter den Dingen, die der Mensch herstellt, welche gibt, die haltbarer sind als er selbst. Man hat für diese Dinge ein schönes Wort, das der Industrie nähersteht als der Schöngeisterei:Werke. Deren Unsterblichkeit, die sehr oft früh stirbt, ist kein Trost, denn sie wird erkauft mit der Sterblichkeit des Produzenten, mit dem Tod.

Stellte der Teufel mich vor die Wahl, eine Stunde noch mit Milo Dor zusammen sein zu dürfen, dafür aber auf sein Werk zu verzichten, ich würde mich ohne Zögern für diese eine Stunde entscheiden, würde sie als paradiesisch genießen, danach aber verrückt werden vor Verzweiflung, denn sein Werk wäre für mich verloren.

In dieser einen Stunde würde ich nicht daran denken, was nachher kommt, denn in Gesellschaft von Milo Dor sein heißt in der Gegenwart aufgehen. Heißt über die Vergangenheit nicht lamentieren, eine Vergangenheit immerhin, die Dor unter den Nazis fast die physische und im Nachkriegsösterreich fast die literarische Existenz gekostet hat. Milo Dor wunderte es, daß so viele ehrenwerte Menschen das bißchen Kraft zur Veränderung, das vom Alltag noch nicht zermalmt wurde, in eine Vergangenheit investieren, die nicht mehr zu verändern ist. In der Gegenwart sein heißt aber auch, hat Milo Dor mich gelehrt, keine große Hoffnung in die Zukunft setzen, denn dort sind von den Weltreligionen, den Weltanschauungen und den hirnlosen Predigern des positiven Denkens schon so viele Tonnen Hoffnungsschutt abgelagert worden, daß in der Zukunft längst kein Platz mehr für die Zukunft ist.

Welttheater statt Weltanschauung. Milo Dor betritt den Raum, es wird hell, wir haben eine Stunde Zeit. Beiläufig beginnen wir zu quatschen und befinden uns unvermittelt in einem Gespräch voll Geist und Witz. Davon berauscht, erfreche ich mich, einen Schritt weiter zu gehen zu einer ernsthaften Debatte, und erfahre durch Milo Dors Lächeln, daß ich einen Schritt zurück gemacht habe. Ernsthaftigkeit, gibt er mir zu verstehen, ist eine unernste Pose, derer nur diejenigen bedürfen, welche ihre immergleichen Phrasen vor Kritik und Spott schützen müssen. Um nicht in eine solche Pose zu fallen, bestellen wir eine Flasche Spätburgunder, doch der Teufel überhört das Wort Spätburgunder und bringt nur eine Flasche: einen Kulturmenschen. Milo Dor schlägt die Hände vors Gesicht. Der Kulturmensch, ruft er unter Stöhnen, dieses Gegenteil des Kunstkenners, diese Vorform des Kulturfunktionärs und Kulturvermittlers, er folgt mir bis in den Tod. Kopfschüttelnd kehrt Milo Dor ins Totenreich zurück. Die Stunde ist noch nicht um. Also gilt der Handel mit dem Teufel nicht. Er kann mir das Werk Milo Dors nicht entwenden.

Dieses Werk! Das Lavazentrum sind die drei großen Romane, die, zur Trilogie verbunden, den Namen Raikow-Saga tragen. Um sie gruppiert sich ein großes erzählerisches und essayistisches OEuvre, konzentrisch angeordnet in den kühleren Erdschichten, dort leichter auffindbar und nicht so heiß wie das Zentrum, dem man, um nicht daran zu verbrennen, sich nur mit heißer Leidenschaft oder, was auf das gleiche hinausläuft, mit leidenschaftlichem Verstand nähern kann.  

Milo Dor, als Zwangsarbeiter nach Wien gekommen, bleibt nach Ende des Krieges in dieser Stadt und nimmt als jemand, der sehr viel zu sagen hat und mit außerordentlicher Begabung ausgestattet ist, eine literarische Arbeit auf sich, die einer Zwangsarbeit nicht unähnlich ist. Denn die Zeit steht konträr zu dem, was er macht. Es ist Wiederaufbauzeit, es wird mit geschenktem ausländischem Geld das getan, wozu es ohnedies keine Alternative gibt, nämlich wiederaufgebaut, doch eben das wird als Alternative zelebriert. Und die große Koalition verordnet das große Schweigen, damit die Volksgemeinschaft den Übergang vom Dritten Reich zur Zweiten Republik still genießen kann.
 
Die Darstellung der Welt, der kritische Blick auf die Realität, sei er intellektuell oder künstlerisch, gilt als Sehstörung. Unter diesen Bedingungen verfaßt Milo Dor, kritisch-realistisch, sein Hauptwerk. Der Widerpart Dors war aber nicht nur das offizielle Österreich - daß die Kunst zur herrschenden Politik in Opposition steht, ist keine Kunst -, sondern auch jene künstlerische Avantgarde, die insbesondere in der Literatur und der bildenden Kunst dem eigenem Anspruch nach sich zwar völlig in Opposition befand, tatsächlich aber in ihrer gezierten Wirklichkeitsverweigerung ein Abziehbild der Wiederaufbauideologie war. Avantgarde, zeigt sich heute, war typische Wiederaufbaukunst. Ihr bildnerischer Zweig ist inzwischen dort gelandet, wohin er von Anfang an durch Blut und Boden robbte, im Schoß von Staat und Kirche.

In diesem auch menschlich widerwärtigen, weil faschistoiden Kunstgewerbemilieu konnte Milo Dor seine Arbeit nur machen, weil er, wiewohl in Wien zu Hause, sich doch in jeder Hinsicht fremd fühlte. Literarische Kunstwerke in einer zivilisierten Umwelt zu schaffen, ist genial; sie, wie es Milo Dors Schicksal war, in einer Zeit zu schreiben, in der ein verschrobener Kauz in einem Roman Arbeiter, die zu Recht den Justizpalast angezündet hatten, als Ratten beschrieb, die aus dem Kanal quollen, und der deshalb als Meister des literarischen Realismus galt und in der eine rückwärtsgewandte und experimentierfeindliche Avantgarde kunstfromm ihr Antlitz von der Wirklichkeit abwandte – in jener Zeit zu schreiben, war heroisch. Dazu kam die alte Angst der deutschen Literaturkritik vor der österreichischen Literatur. Und tatsächlich war, gemessen an Dors klassisch – modernem Erzählen, die westdeutsche Nachkriegsliteratur Operettenrealismus.Wie Feuilleton und Germanistik damit nicht zurechtkamen, darüber nur ein Wort zu verlieren, wäre schon ein Wort zu viel.

Ein Kunstwerk zu schaffen, es auf den Markt zu bringen, vom Ertrag aber nicht existieren zu können, für manche Künstler eine langweilige Konstante, war für Dor eine prägende Erfahrung. Seine gesamte literaturpolitische Aktivität geht von dieser Erfahrung aus. Milo Dors literarische Arbeit war so eng verwoben mit seiner literaturpolitischen Aktivität, daß diese Maß nahm an jener. Wie sind die materiellen Bedingungen literarischer Arbeit, und zwar im Einzelfall, das war, das ist die Frage.Von einer Statistik, die damit prunkt, wie schlecht die Lage der Autoren alles in allem ist, kann kein einziger Autor leben, sondern nur der, der die Statistik erstellt.

Milo Dor war in seiner Literatur so unprätentiös und genau wie in der  Literaturpolitik. Ein Schriftsteller, der das Problem hat, die Miete nicht bezahlen zu können, braucht keine Kulturpolitik, sondern Geld. Kunstpolitik kann ihm die paar Euro verschaffen. Wie, das hat Milo Dor exemplarisch gezeigt. Kulturpolitik ist etwas anderes. Sie muß große Beträge aufbringen, damit zum Ausgleich dafür, daß zur Zeit im Land Friede herrscht, große geistige Katastrophen inszeniert werden können. Kulturpolitik ist für diese großen Katastrophen zuständig wie die Landwirtschaftspolitik für die Großgrundbesitzer.

Weit abseits davon schuf Milo Dor im Kleinen das Große. Aber nicht allein. Vor Jahrzehnten schon fand er, ein Glück wohl für beide, in Franz-Leo Popp einen kongenialen Partner. Popp, Geschäftsführer der Literarischen Verwertungsgesellschaft, juristisch ebenso brillant wie sprachlich, und Dor schufen neben ihrer beruflichen Arbeit, doch die Strukturen der LVG nützend, einen Sozialfonds, der, erste Hilfe für die Jungen, letzte Hilfe für die Alten, zahlreiche Unterstützungen unbürokratisch bereithält und schließlich sogar Vorbild wurde für die staatliche Literaturförderung.

Im Frühsommer dieses Jahres verabredeten Milo Dor und ich uns zum Mittagessen. Am Telefon wirkten wir beide arbeitsbesessen, so bezeichnete Dor das Thema meines Romans als sein altes Lieblingsthema, dem er sich bald wieder nähern werde, ich sagte über seinen Plan für ein neues Buch, einen ähnlichen Plan trüge ich mit mir herum, fühlte mich aber für eine Realisierung noch nicht reif. Außerdem versicherten wir einander, nach dem Essen sogleich nach Haus zu gehen und weiterzuarbeiten, denn wir wußten aus Erfahrung, daß  ein Mittagessen, gab man absichtlich nicht acht, spätabends enden kann. Der Tag kam, wir aßen und redeten und zahlten und gingen, jedenfalls bis vor die Tür des Gasthauses. Milo Dor blieb stehen und beobachtete jemanden auf der anderen Straßenseite. Ich folgte seinem Blick, sah aber niemanden. Er klärte mich auf: Dort geht mein anderes Ich. Es geht nach Haus, um zu arbeiten. Wir aber gehen spazieren. Schau, es scheint die Sonne.

Milo Dor, ich danke dir für diesen Entschluß.

 

„Literatur und Kritik“, Salzburg, März 2006