Michael Scharang

 

Der Mensch schuf Gott,
Gott schuf den Menschen,
und beide wurden von
Michelangelo erschaffen

Die Fresken in der Sixtinischen Kapelle sind restauriert und fotografiert worden. Die Repliken stehen in Originalgröße zurzeit in der Wiener Votivkirche.

Die Menschen brauchten Götter, um sich auf Erden zurechzufinden. Als man sie hatte, wußte man endlich, warum man auf der Welt war: dank der Götter. Das ist nicht die ganze Wahrheit. Die erschließt sich erst, wenn zu den Begriffen Gott und Mensch die Anschauung kommt. Erst wenn man weiß, wie Gott und Mensch aussehen, weiß man, wie sie sind.

Michelangelo lüftete das Geheimnis: Gott sieht aus wie ein Mensch, der Mensch hat die Gestalt Gottes. Keinem Künstler vor, keinem nach ihm gelang ein solcher Geniestreich. Michelangelo war aber nicht übermächtig, sondern ein Kind seiner Zeit. Und die verlangte nach einer neuen Welt mit neuen Menschen und einem neuen Gott. In den tausend Jahren zuvor hatten die Menschen im Namen Gottes die Welt zur Hölle gemacht. Man sehnte sich nach dem Himmel auf Erden. Michelangelo malte ihn. Er gestaltete das Neue rückblickend auf das Alte, auf das antike Ideal. Man spricht von Rinascimento, von Renaissance, von Wiedergeburt.

Das Revolutionäre an Michelangelos Kunst ist, daß er das klassische Ideal, ohne welches er nichts wäre, in seinem Werk zerstört. Seine Körper strotzen derart vor Kraft, daß die Proportion verlorenzugehen droht, sich dann aber doch als die beste erweist. Das gelungene Kunstwerk legt fest, was schön ist. Durch das All brausend erschafft Gott Sonne und Mond, gebieterisch, klug, geschäftig – die Klassik wird naturalistisch herausgefordert, aber nicht besiegt. Eine neue Schönheit entsteht.

Sie ist doppelgesichtig: Hier der neue, bürgerliche Mann, der dem Feudalismus die Herrschaft entreißen will; dort die Frau der Vorzeit, die, vom Herrschaftsgetümmel unberührt, ihren Gedanken nachhängt, wenn sie nicht gerade aufschreibt, was Gott ihr erzählt. Diesen Sybillen, weisen Frauen, Prophetinnen, Traumdeuterinnen, gehört Michelangelos besondere Liebe. Sie sind athletisch und doch von großer Anmut. Störte ein Mann sie bei ihrer Tätigkeit, packten sie ihn bei den Ohren und gäben ihn an der Garerobe der Sixtintischen Kapelle ab.

Ein einziges Mal steigt Gott auf die Erde herab, er steht Eva gegenüber, macht sie, die nur Körper war, zum beseelten Menschen und erlegt ihr ein Gebot auf, das ein Verbot ist: nicht vom Baum der Erkenntnis zu essen. Erkenntnis mündet in Zweifel, also auch in Zweifel an Gott. Der weiß, daß er den Menschen schaftt, damit dieser ihn abschafft. Auf Eva, so malt es Michelangelo, lastet die Menschheitsgeschichte. Nur einmal ist sie froh und schön: wenn sie gegen das Verbot verstößt.

Wie jeder Revolutionär erzählt auch Michelangelo die Geschichte neu. Der Gott, der Adam erschafft, ist wieder der im All schwebende alte Mann, der einem attraktiven jungen Mann Leben einhaucht. Dieses wunderbarste aller Fresken der Welt stellt Adam dar als Inbegriff der Schönheit und Ahnungslosigkeit. Er weiß nichts vom Baum der Erkenntnis, nichts vom Verbot. Und als sie aus dem Paradies vertrieben werden, ist Eva, die weiß, was geschah, verzweifelt, Adam, der nichts weiß, ist bloß schockiert. Die wissende Frau hadert mit dem Unheil, der ahnungslose Mann wird es anrichten.