Michael Scharang

 

Der Malermeister

Erzählung


Dinge anzumalen, vor allem aber Räume auszumalen, schien mir, als ich vierzehn war, eine schöne Beschäftigung zu sein. Also ging ich bei einem Malermeister in Bruck an der Mur in die Lehre, wurde danach Geselle und legte schließlich die Meisterprüfung ab.

Ich borgte mir Geld und gründete einen Betrieb. Als erstes kaufte ich Bretter, nagelte sie zu einem Schild zusammen und malte in Großbuchstaben den Firmennamen drauf: Malermeister Ernst Wildbacher.

Was ich meinen Betrieb nannte, war ein kümmerlicher Schuppen. Ich lagerte Kübel mit Farbe ein und Malerwerkzeug, hielt aber eine Ecke des Schuppens frei und bezeichnete sie als die saubere Ecke. Dort schlug ich vier lange Nägel in die Holzwand, einen für das Sakko, einen für die Hose, einen für das Hemd, einen für die Krawatte.

Ich wollte mich nicht wie meine Eltern in schäbigen Klamotten auf den Weg zur Arbeit machen. Manche Leute gingen sogar in dreckiger Arbeitskleidung in die große Fabrik oder in den kleinen Betrieb, als wollten sie zeigen, daß ihr Leben, das private und das in der Arbeit, ein dreckiges Leben ist. Mich stießen diese verwahrlosten Gestalten ab.

Später erst, in der Trinkerheilanstalt, wo ich nicht wenige dieser Leute aus Bruck an der Mur wiedersah, verstand ich, daß sie, indem sie zerlumpt daherkamen, nicht nur Hoffnungslosigkeit zum Ausdruck bringen wollten, sondern auch Protest. Sie wollten nicht als etwas anderes erscheinen, als sie waren.

Meine Eltern gehörten nicht zu den Zerlumpten. Der Vater war Hilfsarbeiter in der Fabrik, er sprach von seiner Arbeit als von der Scheißarbeit. Die Mutter war Putzfrau, sie reinigte mit anderen Putzfrauen die Büroräume und nannte, was sie machte, eine Drecksarbeit. Und doch gingen sie nicht in Arbeitskleidung zur Arbeit, nicht abgerissen, aber schäbig. Nicht wie Bürger, die Ingenieure und höheren Angestellten, sondern als Kleinbürger.

Das lehnte ich ab, denn ich empfand mich als stolzer Arbeiter. Schon das wenige, das ich als Lehrling verdiente, steckte ich in gute Kleidung. Meinen Vater ärgerte das. Andrerseits schätzte er es, daß ich ein Handwerk erlernte, dem ich mich ganz hingab, was der Lehrherr nicht müde wurde, in der Stadt zu erzählen.

Ein Handwerk, das merkte ich bald, erlernt man nicht nur durch den Lehrherrn, sondern vor allem durch Erfahrung. Zwei Jahre brauchte es, bis ich herausfand, wie man den Pinsel beim Streichen eines Fensters oder einer Tür am besten führt: aus dem Handgelenk. Mit leichten, ausschwingenden Bewegungen streichelt man das Holz mehr, als daß man es streicht.

Und erst die Arbeit mit den Walzen! Mit einer Walze Muster auf die einfarbig bemalte Wand zu zaubern ist eine Kunst. Diese wunderbare Technik scheint ausgestorben zu sein, nicht weil sie schlecht wäre, sondern weil sie kaum jemand beherrscht.

Wollte jemand ein Zimmer weiß ausgemalt haben, walzte ich auf das Weiß ein Muster in hellem Blau, so zart, daß die Walze die Wand fast nicht berührte und jeder das Weiß als so strahlend empfand, wie er noch nie eins gesehen hatte. Die Stümper jedoch tauchten die Walze zu tief in die Farbe und drückten sie so grob gegen die Wand, daß ein fettes Muster entstand, welches den Raum erdrückte.

Mit meiner Erfahrung und meinem Können mußte ich einen eigenen Betrieb gründen, so armselig er anfangs war. Bald aber gab es so viele Aufträge, daß ich zwei Gesellen aufnehmen konnte. Selbstverständlich arbeitete ich mit und wies die Gesellen an - ich war ja nicht Maler und Anstreicher geworden, um anderen bei einer Tätigkeit zuzuschauen, die mir nicht nur Freude bereitete, sondern die ich auch immer besser beherrschte.

Wenn der Abend kam, setzte ich mich in meiner ersten eigenen Wohnung an den Küchentisch, aß Speck und Brot, trank dazu Bier und stellte die Ausgaben für Arbeit und Material den Einnahmen gegenüber. Jeden Tag um zehn Uhr abends rief meine Freundin an, der ich jeden Tag sagen mußte, daß ich bis in die Nacht arbeiten müsse. Sie reagierte freundlich und verständnisvoll und versicherte mir, daß nicht nur sie, sondern ganz Bruck mich bewunderte.

Der Betrieb wuchs und wuchs. Eines Abends kam ich meiner Freundin zuvor und rief sie an. Ab morgen, sagte ich, wird alles anders. Ich habe am Hauptplatz oberhalb der Bank drei Büroräume gemietet, einen für eine Sekretärin, einen für mich, einen als Besprechungsraum für Großkunden, die es nicht schätzen, im Wirtshaus verhandeln zu müssen.

Du kannst, sagte ich zu meiner Freundin, jederzeit bei der Drogerie Remele kündigen, du wirst die Mutter unserer Kinder sein und mit ihnen und mir ein Haus bewohnen. Den Plan habe ich schon gezeichnet, ich weiß auch, in welchen Farben ich die Zimmer ausmalen werde.

Der Betrieb, den ich gegründet hatte, um als junger Meister nicht unter der Fuchtel eines anderen Meisters zu stehen, wurde mein Feind. Es arbeiteten bereits acht Gesellen in dem Betrieb, fünf Hilfsarbeiter und zwei Fahrer, von denen jeder einen Lieferwagen hatte, das ergab mit den Sekretärinnen siebzehn Leute.

Den einen halben Tag verbrachte ich auf Baustellen, den anderen im Gespräch mit Kunden. Baustellen nannten wir die Lokalitäten, wo wir arbeiteten. Auch wenn es sich um die winzige Wohnung einer Pensionistin handelte, bezeichneten wir sie als Baustelle. Insbesondere alte Frauen wollten, wie sie sich ausdrückten, einmal noch ausgemalt haben, weil sie hofften, würden die grauen und gelblichen Wände mit frischer und leuchtender Farbe bedeckt, daraus ein letztes Mal Lebensmut schöpfen zu können.

Auf den Baustellen trug ich Arbeitsgewand. Ich ermahnte dort die Gesellen, ihre Fehler nicht zu wiederholen, und versuchte, sie auf ein handwerkliches Niveau zu bringen, das, wenn es schon meinem nicht entsprach, nicht völlig dahinter zurückblieb. Das war notwendig, machte mir aber keine Freude. Offenbar taugt jemand, der sich die Handfertigkeit selbst beigebracht hat, nicht zum Lehrer.

Ich kaufte ein Diktiergerät, saß abends bei Brot, Speck und Bier und diktierte Anweisungen: Großaufträge wie das Ausmalen von Wohnbauten werden nicht mehr angenommen! Um die Gewinne und damit die Notwendigkeit von Investitionen zu reduzieren, werden die Löhne verdoppelt!

Die Folgen waren fatal. Der Betrieb, da er keine Großaufträge mehr ausführte, galt als besonders fein. Die Villenbesitzer rannten mir die Tür ein. Die besten Gesellen, angelockt vom hohen Lohn, kamen von weit her und arbeiteten exzellent. Zwar nicht zu meiner, aber zur Zufriedenheit der Kundschaft. Der Betrieb wuchs schneller denn je.

Ich wußte keinen Ausweg. So weiterzumachen kam für mich nicht in Frage. Nochmals von vorn zu beginnen schien mir absurd. Den Schuppen gab es zwar noch, er gehörte zur Firma und diente als Lagerraum, über dem Eingang prangte immer noch die Tafel: Malermeister Ernst Wildbacher. Ich war aber kein Malermeister mehr.

Eines Tages reichte es mir. Ich ging nicht auf die Baustellen, um Ratschläge zu erteilen, ich setzte mich nicht mit Kunden zu Verhandlungen zusammen und abends nicht an den Küchentisch. Ich ging ins Gasthaus, zuerst abends, dann bereits mittags und schließlich schon in der Früh. Ich lebte auf. Mir kam zu Bewußtsein, daß ich eine Freundin verloren hatte, weil es mir an Zeit fehlte, und daß ich meine Arbeit nicht ausüben konnte, weil es mir an Gelegenheit fehlte. Darauf stieß ich an. An Saufkumpanen mangelte es nicht, denn ich hatte Geld.

Es dauerte einige Jahre, bis ich alles versoffen hatte. Als auch die Wohnung verloren war, verbrachte ich die paar Stunden, die ich benötigte, um meinen Rausch auszuschlafen, in dem Schuppen, welcher die Gründungsstätte meines Betriebs war. So betrunken konnte ich aber nicht sein, daß ich nicht, ehe ich mich in eine Decke gehüllt auf den Boden warf, den Anzug, das Hemd und die Krawatte in das saubere Eck des Schuppens hängte.

Zu meinem Glück landete ich nicht auf dem Friedhof von Bruck an der Mur, sondern in der Trinkerheilanstalt in Graz. Dort fehlt es mir bis auf den heutigen Tag an nichts. In diesem Winter wird eine Festschrift zu meinem 70. Geburtstag vorbereitet, schließlich habe ich in den vierzig Jahren, die ich hier verbracht habe, alle Räume der Grazer Psychiatrie mehrmals ausgemalt, Türen und Fenster gestrichen, und die jungen, forschungsfrohen Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger behaupten, wissenschaftlich belegen zu können, daß die Farben, die ich für die Räume wähle und die Muster, die ich darauf walze, heilsam auf die Patienten wirken. In keiner psychiatrischen Anstalt der Welt, sagen sie, gibt es unter den Kranken so viele Gesunde wie in Graz. Sie nennen das den Wildbacher-Effekt.

Man bat mich, für die Festschrift ein paar Zeilen über mein Leben zu schreiben, wozu ich mich erst bereit erklärte, als Alois Gruber zu uns stieß. Wir waren in der Volks-, dann in der Hauptschule in derselben Klasse gewesen, er wurde Lehrer für Geographie und Deutsch und erst sehr spät zum Alkoholiker. Er schreibt diese Geschichte nieder. Ob ich selbst noch schreiben und lesen kann, weiß ich nicht, ich will es auch nicht wissen.

Es hätte auch eine Skulptur, die mich darstellt, im Park plaziert und in einem Festakt enthüllt werden sollen, aber der Patient, der darauf bestand, dieses Werk zu schaffen, brachte etwas zustande, womit die Direktion des Krankenhauses nichts anzufangen weiß. Franz Popp, der Bildhauer, ein großer, kraftloser Mann mit Armen, die hinunterhängen bis zu den Knien, forderte den Stamm einer Buche an, zwei Meter hoch, Durchmesser ein Meter. Daraus, sagte er, werde er die Skulptur schaffen.

Er bekam das Holz, rollte den Stamm in die Mitte des Parks, grub ein tiefes Loch, bugsierte den Stamm hinein, nachdem er ein Hakenkreuz in die Rinde geritzt hatte, und schüttete das Loch zu. Stundenlang steht der Bildhauer dort, betrachtet sein Werk und wartet, bis es in einem Festakt enthüllt wird.

Die Festschrift jedenfalls wird rechtzeitig fertig. Ich brauche nur noch über die Zeit in der Trinkerheilanstalt zu sprechen, und das ist schnell geschehen, denn es war eine erfüllte, aber auch - das eine bedingt das andere - monotone Zeit.

An einem Tag wurde ich eingeliefert, am nächsten entdeckte ich im Nebenzimmer eine Baustelle: Leiter, Farbtöpfe, Pinsel. Nach einer Woche dasselbe Bild. Ich erfuhr, daß der Malermeister, der dieses schmutzige Zimmer hätte ausmalen sollen, bankrott gegangen war.

Tags darauf nahm ich die Arbeit auf. Man ließ mich gewähren. Bald schmerzten mich wegen des Alkoholentzugs die Glieder derart, daß ich dem Pfleger sagen mußte, ich könne die Arbeit nur fortsetzen, wenn eine Kiste Bier auf der Baustelle deponiert werde. Der Pfleger schlug vor, ich solle die Medikamente nehmen, die er auf mein Nachtkästchen gelegt hatte. Das schloß ich aus. Von Medikamenten beeinträchtigt könne man nicht arbeiten. Das sah er ein und brachte eine Kiste Bier, eine schöne Holzkiste mit zwölf Flaschen.

Damit war die geschäftliche Basis meiner Zuammenarbeit mit der Trinkerheilanstalt hergestellt: eine Kiste Bier pro Tag und ein bißchen Schnaps, damit ich besser einschlafe. Ich wußte, daß ich für die Krankenanstalt eine billige Arbeitskraft war, ich wußte aber auch, was die Krankenanstalt nicht wissen konnte: daß sie mir durch ideale Arbeitsbedingungen die Grundlage für eine gutes Leben schuf. Dieses Leben verstand ich im Lauf der Jahre zu verbessern.

Mein Trumpf war meine Arbeit. Nach zwei Jahren hatte ich alle Räume der Trinkerheilanstalt ausgemalt, alle Türen und Fenster frisch gestrichen. Patienten, Pfleger, Ärzte versicherten mir, sie vegetierten nicht mehr in einer grindigen Anstalt, sondern befänden sich in einem Paradies. Nach diesen zwei Jahren - die Krankenkasse war nicht mehr bereit, meinen Aufenthalt zu finanzieren - wurde ich als Hausarbeiter angestellt.

Ich forderte zunächst ein mäßiges, später, als ich mit einer Pflegerin ein Liebesverhältnis hatte, dem eine Tochter und ein Sohn entstammten, ein angemessenes Gehalt, damit ich zum Unterhalt der Kinder etwas beitragen konnte. Außerdem ersuchte ich um ein eigenes Zimmer in der Trinkerheilstalt und um eine Werkstatt in einem anderen Gebäude der Psychiatrie. Ich wollte endlich wieder gut gekleidet von daheim zur Arbeit gehen.

Diese Forderungen wurden erfüllt, kaum daß ich sie gestellt hatte. Die Gegenforderung, für mich ein Geschenk, bestand darin, alle Pavillons der Psychiatrie nach und nach zu renovieren und sie durch meine Kunstfertigkeit zu Orten zu machen, in denen Heilung besser gelingt als zuvor. Im Lauf von vierzig Jahren habe ich die Pavillons mehrmals renoviert, von Mal zu Mal schöner.

Mitunter droht mich angesichts meines Könnens Größenwahn zu befallen. Doch diesem Gefühl gebe ich nicht nach. Ich darf nicht enden wie der Bildhauer Popp, der nichts macht und das für das Größte hält. Ich muß meine Sinne beisammenhalten. Denn an meinem siebzigsten Geburtstag wird meine Lebensgefährtin mir unsere Kinder vorstellen.

Sie hat diesen Augenblick lange hinausgeschoben, mit meinem Einverständnis. Mit einem Vater wie mir konfrontiert zu werden, könnte die Kinder aus der Bahn werfen. Doch nun sind sie über zwanzig und allem Anschein nach gefestigt. Beide sind Mitglieder des Grazer Philharmonischen Orchesters, die Tochter Cellistin, der Sohn Hornist.

Als meine Lebensgefährtin mir das erzählte, sagte ich: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Und dachte: Meine Kunstfertigkeit des Ausmalens und Anstreichens setzt sich in meinen Kindern auf einer anderen Stufe fort. Während ich überlegte, ob ich diesen Gedanken aussprechen sollte, sagte meine Freundin: Ich wollte immer Musikerin werden. Die Kinder sind es geworden.

Alois Gruber fand in Bruck an der Mur das Schild, das ich gezimmert und mit den Worten beschriftet hatte: Malermeister Ernst Wildbacher. Ich werde es meinen Kindern zu Weihnachten überreichen.


„Die Presse, Spectrum“, Wien, 23. 12. 2011