Michael Scharang

 

Zur Lage der Nation


Nach endlosem Bemühen steht Österreich wieder an vorderster Front. Die beiden Faschismen, die das Land prägen, Klerikalfaschismus und Deutschnationalismus, finden in der Freiheitlichen Partei Österreichs zusammen - Leitbild für ein autoritäres Europa.

Wenn der Kontinent sich veränderte, gehörte Österreich nicht zu den treibenden Kräften. Nach 1945 bewegte es sich politisch gleichzeitig nach rechts und links, und da es auf diese Weise nicht von der Stelle kam, genoß es den Ruf einer beharrenden Kraft. Das war für das geistige und künstlerische Leben des Landes bedrohlich. Ein Beispiel: Fast alle Schriftstellerinnen und Schriftsteller publizierten im Ausland.

Während in der Welt, insbesondere in Europa, zwei politisch, wirtschaftlich und ideologisch verfeindete Systeme einander gegenüberstanden, richtete man sich in Österreich ab 1955 in der Neutralität häuslich ein. Das ideologische Geschäft blühte, das neutrale Land wurde zu einem Bollwerk des Antikommunismus. Das Personal war in Gestalt der alten Austrofaschisten und Nazis vorhanden - man hielt es, um die Siegermächte nicht zu brüskieren, von der Politik fern und überließ ihm die Medien.

Auch die übrigen Geschäfte gingen gut. Österreich hatte reichsdeutsche Großbetriebe geerbt, die, da sie für das österreichische Kapital zu groß waren, dem Staat zufielen. Die verstaatlichte Industrie kam kommerziell mit den östlichen Verwandten, den Staatsbetrieben in den sozialistischen Ländern, gut zu Rande. Österreich, die beharrende Kraft, gefiel dem Westen, weil sie den Osten verteufelte, und dem Osten, weil sie ihm zu Westwährung verhalf.

Diese Idylle zerstob am Ende der Sowjetunion. Der Kapitalismus hatte sich, als er einem Systemvergleich ausgesetzt war, einen sozialen Anstrich geben müssen. So entstand der Sozialstaat. Verwaltet wurde er von der Sozialdemokratie, die, nachdem sie die Machtergreifung der Nazis kampflos über sich hatte ergehen lassen, wieder eine historische Aufgabe bekam, an der sie scheitern durfte. Nachdem die Sowjets den Kalten Krieg verloren gegeben hatten, brauchte man im Westen weder einen Sozialstaat noch eine Sozialdemokratie. Das Schicksal des Knechts, der zum Dank dafür, daß er nie gegen den Herrn aufbegehrt hat, vor die Tür gesetzt wird.

Wie man die Linke nicht bloß bekämpft, sondern gleich vernichtet, wurde schon 1968 vorexerziert. Die bürgerlichen Medien konnten sich dem Charme der 68er – Bewegung nicht entziehen, denn die war zwar antikapitalistisch, nannte die saubere Gesellschaft ein Schweinesystem, sie wandte sich aber auch gegen den Kommunismus. Den Regierungen, die im Dienst des Kapitals standen, war dieses Zugeständnis zu wenig – die autoritären Bestien fielen über die antiautoritären Schwärmer her und zerstückelten sie in politische Sekten. Die paar, die überlebten, bewaffneten sich und gingen in den Untergrund. Das war der Beginn eines Terrorismus, der damals noch politisch motiviert und vorwärtsgerichtet war, später und anderswo aber zu Religion und Schlächterei verkam.

Nach den 68ern wurden, zehn Jahre später, die großen kommunistischen Parteien Westeuropas zerstört, und zehn Jahre danach gab die Sowjetunion auf. In diesem mörderischen Milieu, in dem ein Aufschrei von links nur mehr als Röcheln zu vernehmen war, wuchs die Europäische Union heran. Sie war von Anfang an ein Projekt des europäischen Großkapitals, verschönert mit dem Liebreiz des Fortschritts: Grenzkontrollen fallen weg, ältere Menschen, denen der Grenzübertritt verwehrt worden ist, weil sie den Reisepaß zu Haus vergessen haben, atmen auf.

Die Nationalstaaten blieben bestehen. Ihre Währungen nicht. Arme Staaten konnten, wenn sie sich von reichen bedrängt fühlten, abwerten. Nun, unter dem Regiment der Einheitswährung, werden sie selbst abgewertet: Sie werden in Armut gestürzt. Die reichen Staaten blühen aber nicht auf, die Geldsäcke schleppen sich keuchend dahin. Sie leiden, sagen sie, unter einer Wirtschaftskrise. Dauert eine Krise aber zehn Jahre, handelt es sich nicht mehr um einen Ausnahme-, sondern um den Normalzustand. Selbst die Dümmsten begreifen nach und nach: Der Kapitalismus selbst ist in der Krise.

Es wird aber nicht der ökonomische, sondern der geistige Notstand ausgerufen. Von allen Redaktionssesseln und Lehrstühlen wird in der Art eines Gebets, das mit leerer Botschaft hohle Köpfe füllt, verkündet, daß es zum Kapitalismus keine Alternative gibt, daß er aber hier und dort verbessert gehört. In Wahrheit zeigt sich, daß der Kapitalismus nichts taugt und abgeschafft gehört. Die Kapitalisten wissen das schon lange, ihre Propagandisten erst jetzt. Zur ökonomischen Ratlosigkeit gesellt sich der geistige Notstand.

Die Situation spitzt sich zwar zu, die Lösung des Problems ist aber einfach. Eine Gesellschaftsordnung wie die bürgerlich-demokratische, deren Lebenselixier der Kapitalismus ist, wackelt, wenn in der öffentlichen Debatte dieses ökonomische System in Frage gestellt wird. Die Wirtschaftsmacht - das Kapital, die Finanzwelt - ist aber die allerletzte Bastion, die fällt, und das auch nur, wenn sie von einer Revolution geschleift wird. In fetten Zeiten finanziert die Finanzwelt die bürgerliche Demokratie, damit es neben dem Mehrwert auch ideelle Werte gibt, vor allem, als den beliebtesten Zierat, die Freiheit.

Vergißt die politische Unterhaltungsindustrie, daß sie mit ihren Wahlen und Lohnverhandlungen der Zerstreuung der Bevölkerung dient, und richtet einen kritischen Sektor ein, wo dem Kapitalismus, der nicht mehr funktioniert, vorgeworfen wird, daß er nichts taugt, dann wird nicht nur dieser kritische Sektor, sondern auch sein Umfeld, die bürgerliche Demokratie, vorübergehend geschlossen. So einfach ist die Lösung des Problems. Sie hat sich oft bewährt; sie bewältigt die Probleme, indem diese unterdrückt werden. Wittgensteins Dekret, wovon man nicht sprechen könne, darüber müsse man schweigen, birgt ein Denkverbot, das in der heute wichtigsten Anstandsregel unverblümt zutage tritt: Wer den Kapitalismus nicht kritisieren kann, weil er es nicht darf, der muß schweigen.

Das Kapital reagiert immer gleich. Wenn es von einer dauerhaften Krise erfaßt wird, ersetzt es Demokratie durch Faschismus. Dessen krasse Form, der Nationalsozialismus, ist zurzeit nicht gefragt. Er war die Herrschaftsform der großen und kleinen Leute, die als Volksgemeinschaft die Welt erobern und auf dem Weg dorthin den inneren und den äußeren Feind gleichzeitig umbringen wollten, ein Ziel, das sich als zu hoch gesteckt erwies. Der kommende Faschismus ist die Herrschaft der kleinen Leute, denen das Wenige, das sie einmal hatten, auch noch genommen wird. Die Bevölkerung ist ruiniert, das Kapital saniert.

Zurzeit genügen autoritäre Regimes, wie sie in Ungarn und Polen an der Macht sind, wie eines in Frankreich heranwächst, ein anderes sich in Deutschland formiert. Und wie eines in Österreich in die Höhe schießt. Bei der Wahl des Bundespräsidenten blieben zwei Kandidaten übrig, ein älterer Herr, pensionierter Universitätsprofessor und ehemaliger Vorsitzender der Grünen, und ein junger Mann, Kandidat der FPÖ, einer Partei, die früher die Sammelstelle für alte und neue Nazis gewesen war und sich dann, unter dem Führer Jörg Haider, vom Deutschnationalismus halb ab- und dem Österreichnationalismus ganz zugewandt hatte. Man wollte schließlich in Österreich Wahlen gewinnen. Österreichs Kommunisten, für die im Widerstandskampf die Parole lebenswichtig war, daß Österreich nicht Deutschland ist, werden gestutzt haben, daß ausgerechnet die Nazis Österreich für sich entdecken - allerdings in Gestalt eines Nationalismus, dessen wahre Heimat die deutsche Kulturnation bleibt. Zwei alte Lügen ergeben die neue Wahrheit.

Ihr Verkünder, der jetztige Vorsitzende der FPÖ, Strache, schöpft aus dem Vollen. Schließlich gab es, ehe Hitler einmarschiert ist, in Österreich vier Jahre lang eine klerikalfaschistische Diktatur, heute noch das Himmelreich seligmachender Rückwärtsphantasie. Den Österreichern nachzusagen, sie schwärmten nur vom Nationalsozialismus, ist ungerecht. Strache stellt endlich Gerechtigkeit her, er verschmilzt die beiden Faschismen, ohne daß einer zu kurz kommt.

Wenn er, ein Kreuz schulternd, als christlicher Glaubenskrieger gegen den Isalm auftritt, wird das von seiner deutschnationalen Anhängerschaft gebilligt, schließlich geht es um einen Kreuzzug. Der Nationalsozialismus ist nach seiner militärischen Niederlage endgültig zur Glaubensfrage geworden, zu einer Religionsgemeinschaft, welcher die Millionen Seiten an Berichten, was er tatsächlich war, wegschiebt als Rancune der Ungläubigen. Die einzig wirksame Aufkärung gegen das Nazi-Regime war Gewalt.

Nach 1945 versuchte man dem Fortwirken der alten und neuen Nazis mit Aufklärung zu begegnen. Dem Irrwitz mit Argumenten zu widerstehen endete im Irrwitz. Dem Sog des Irrationalismus hält die Vernunft nicht stand. Der Präsidentschaftskandidat der FPÖ, Hofer, der fast die Hälfte der Stimmen erhielt, wohingegen es zahlreicher Parteien und Unterstützer bedurfte, um die anderen fünfzig Prozent für Van der Bellen zusammenzukratzen – Hofer also, wird er schüchtern nach seinen deutschnationalen Vorlieben gefragt, zieht aus der Hosentasche ein kleines, silbernes Kruzifix und streckt es dem Fragenden entgegen.

Es gibt nichts mehr zu fragen. Der christliche und der nationale Sumpf ergeben ein volksbewegtes Rinnsal, das auf Erden keiner Kontrolle unterliegt, da es zum Himmel stinkt. Strache repräsentiert die neue Volksgemeinschaft, die, ohne von ihm beauftragt worden zu sein, von den ehemaligen Großparteien ÖVP und SPÖ beigestellt wird. Ihr Regierungsprogramm besteht in der Beteuerung, das Gemeinsame vor das Trennende zu stellen, womit sie nicht nur sich selbst, sondern auch das Fundament, auf dem sie stehen, die bürgerliche Demokratie, zerstören.

Demokratie, die Herrschaftsform der Bourgeoisie, geht von der Realität aus, daß die Gesellschaft in Klassen gespalten ist. Das einzugestehen, setzt voraus, daß man alle Macht im Griff hat - die wirtschaftliche, staatliche, polizeiliche, militärische. Wankt diese Macht infolge wirtschaftlicher Schwäche, zerbricht die Demokratie, und die Repräsentanten der Klassengesellschaft, die Christlichsozialen und die Sozialdemokraten, verlieren Funktion und Anhänger.

In ihrer Verzweiflung verkünden sie die rettende Parole, man arbeite gemeinsam für Österreich. Die Reklame der Gemeinsamkeit macht Parteien, die entstanden sind, weil sie widerstreitende Interessen vertreten, überflüssig. Straches FPÖ wird unaufhaltsam stärker dank der Politik ihrer Kontrahenten. Den Bundespräsidenten hat man noch nicht, in zwei Jahren wird man sich mit dem Bundeskanzler bescheiden – es sei denn, der neue Bundeskanzler der SPÖ, ein Manager, bewirkt einen Wirtschaftsaufschwung, indem er Zehntausende Ein-Euro-Jobs schafft.

Österreich ist in einem Europa, in dem der demokratische Faschismus die sozialstaatliche Demokratie ablöst, von einer beharrenden zur treibenden Kraft geworden. Aber selbst stellte die FPÖ in einigen Jahren den Bundeskanzler und später noch, wie die Vorsehung es programmiert hat, den Bundespräsidenten, es änderte sich nicht viel. Das autoritäre Regime wäre jedenfalls für das geistige und künstlerische Leben Österreichs nicht bedrohlich. Dieses hat sich dem politischen Niedergang des Landes längst angeschmiegt, die Autoren haben Doderer, den wüsten Nazi, heuchlerischen Austrofaschisten und stümperhaften Meister der Beamtensprache zum literarischen Vorbild erhoben. Die Welt des Geistes und der Kunst, mißt man sie an ihren Werken, steht rechts von der FPÖ. Was sollte diese Welt zu befürchten haben?

Zum Glück muß auch der Rest der Welt, der gar nicht so klein ist, sich vor Österreich und Deutschland nicht ängstigen. Der Nationalsozialismus als die bisher schärfste Form faschistischer Diktatur war nicht nur ein Menschenvernichtungsprogramm, sondern auch eine Weltherrschaftsideologie. Doch ein großer Krieg, der von Deutschland und einem eventuell angeschlossenen Österreich ausgeht, ist nicht zu befürchten, solange die Atomraketen Frankreichs, Englands und Rußlands auf Deutschland gerichtet sind.

Kleine Kriege sind an der Tagesordnung, wobei NATO-Bomber schon lange nicht mehr um Erlaubnis ansuchen, wenn sie das neutrale Österreich überfliegen, worüber sich nur in Tirol die Steinadler, im Burgenland die Seeadler beschweren. Gegen wen immer die Aggression sich richtet, ob Jugoslawien bombardiert wird oder Libyen, jedes kriegerische Unternehmen endet im Chaos. Haß als Kriegsgrund, Haß gegen sozialistische Reste in und um Europa, ist Ausdruck einer Unvernunft, die zwar ein Land zerstören kann, dann aber nicht weiterweiß. Man geht mit einer Übermacht auf einen ohnmächtigen Staat los und erringt einen Sieg, der sich als Niederlage herausstellt. Das einzige Konzept ist die Konzeptlosigkeit.

Diese aber ist nicht Ausdruck von Dummheit, sondern von Machtverlust – wobei einzuräumen ist, daß, wer Macht verliert, meist blöd dasteht. Europa und die USA galten lange Zeit hindurch als Synonym für den Weltenlauf, nun müssen sie zur Kenntnis nehmen, daß der Lauf der Welt sich gegen sie richtet. Das Machtzentrum verschiebt sich von Westen nach Osten, zu Rußland und China und den vielen Ländern, die sich an diese beiden Mächte klammern, um nicht unterzugehen. Der historische Kalte Krieg war eine Idylle, gemessen am heutigen Weltzustand. Das Triumphgeheul über das Ende der Sowjetunion weicht dem Wehklagen über ein Rußland, das, bonapartistisch regiert, sich dem Zugriff des Westens entzogen hat und eigene Wege geht.

In Europa führt die internationale Bedeutungslosigkeit des Kontinents zu starken autoritären Bewegungen. Faschismus ist auch Vortäuschung von Macht, was auf die wirtschaftlich Entrechteten faszinierend wirkt. Ihre Zukunft liegt in der faschistischen Illusion. Trump in den USA ist ein Musterschüler dieser Entwicklung. Als der amerikanische Präsident Obama dieser Tage in Hiroshima eine Rede hielt, gedachte er auch der Toten, die von künftigen Kriegen verursacht werden. Wahrscheinlich ist ihm Trump durch den Kopf gegangen.

Die Europäische Union, bislang an den Nationalstaaten gescheitert, hat eine große Zukunft vor sich. Die bürgerliche Demokratie, Produkt des Nationalstaats, und in der Union Ursache ewigen Streits, muß weg. Einige Staaten konstituieren sich bereits als autoritär. Die Regierungen dort wurden von einer Mehrheit gewählt, die zu Recht als überwältigend bezeichnet wird. Vor dem Verlust der Macht und der Krise der Wirtschaft flieht man in die faschistische Illusion. Ihr hängen nicht nur die Beherrschten, sondern auch die Herrschenden an.

Sie bilden jene Volksgemeinschaft, die in Österreich von den Austrofaschisten gesät und von den Nazis geerntet wurde. Der breite und fette Mittelstand wurde zu Unrecht verdächtigt, eigene Bedürfnisse materieller und geistiger Art entwickeln zu können. Er wird sicherheitshalber abgeschafft. In der Krise kann man sich den Herrn Magister Schnösel, der sich einbildet, ein Manager zu sein, nicht mehr leisten. Um ihn ruhigzustellen, wird er kulturell abgefunden: mit Festspielen in jeder Stadt, in jedem Dorf, mit unzähligen Museen, darunter das wichtigste: das Literaturmuseum in Wien, eine Perversion, die der autoritären Manie entspringt, daß beim kulturellen Treiben der Volksgemeinschaft alle dabei sein müssen. Betreut wird es vom Kultursender Ö 1, dem geistigen Rückgrat des Ungeistes.

Austrofaschismus, Nationalsozialismus, Zweite Republik – eine erbarmungslose Kontinuität. Mein Vater, ein wortkarger und zugleich fröhlicher Mensch, erzählte mir, als ich zehn war, über jene Zeit. Nicht wir, sagte er, sind die Verbrecher. Wir dürfen uns, indem wir an sie denken und über sie reden, nicht die Lust am Leben verderben lassen. Es war, sagte er, im Februar 1934. Die Arbeiter griffen zu den Waffen. Die Christlichsozialen hatten das Parlament aufgelöst. Die sozialistischen Parteiführer wollten mit uns nichts zu tun haben. Ausgenommen Koloman Wallisch. Er kam zu uns in die Obersteiermark und stellte sich an die Spitze des Kampfes.

In Bruck an der Mur wollten wir die Gendarmeriekaserne stürmen. Ein Eisentor hinderte uns daran. Wir hatten außer Gewehren auch Handgranaten. Neben mir stand einer, der sagte: Ich hab dich am Sportplatz gesehen, du warst Sieger im Diskuswerfen. Hier, schmeiß die Handgranate. Ich tat es. Er gab mir die nächste. Nach fünf Würfen war das Tor offen. Doch wir erstürmten die Kaserne nicht. Das Militär kam dazwischen und schoß uns über den Haufen. Als die Nazis einmarschierten, schoß es nicht.

Mein Vater entstammte dem Geschlecht der Wanderarbeiter, wurde aber Facharbeiter und seßhaft. Ein Fehler, sagte er. Wäre ich Wanderarbeiter geblieben wie die Vorfahren, hätte ich mich nach dem Einmarsch Hitlers auf den Weg nach Ägypten gemacht und dort Baumwolle gepflückt. So aber blieb ich in der Fabrik, auch während des Weltkriegs, denn wir stellten her, was man im Krieg brauchte. 1944 mehrten sich die Fälle von Sabotage. Ich wurde verhaftet und zum Verhör geführt. Wer saß dort? Der Genosse, der mir die Handgranaten gereicht hatte. Ich reihe dich nach hinten, hat er gesagt. Aber länger als ein Jahr kann ich dich nicht schützen. Ist der Krieg bis dahin verloren, haben wir gewonnen. So war es dann.

Welche Art von Sabotage hast du gemacht, fragte ich. Vater lachte. Die Sache, sagte er, wurde nie aufgeklärt.
Was ist aus deinem Genossen geworden, fragte ich. Er wurde wieder Genosse. Er kehrte zurück zur Sozialdemokratie, erzählte dort, daß er mir und zwei anderen das Leben gerettet hatte, galt bald als Widerstandskämpfer und wurde ein beliebter Funktionär.

Und du, fragte ich. Ich arbeite, wie du weißt, wieder in der Fabrik, und ich bin, wie du weißt, gern im Arbeitersportklub, mit vierzehn bin ich dorthin gekommen, wir haben trainiert und wurden politisch geschult. Und heute, fragte ich. Heute trainieren wir. - Und wer schult euch politisch? - Du fragst zuviel, sagte der Vater, und das ist gut so.