Zur Lage der Nation
Nach endlosem Bemühen steht Österreich wieder an vorderster Front. Die
beiden Faschismen, die das Land prägen, Klerikalfaschismus und
Deutschnationalismus, finden in der Freiheitlichen Partei Österreichs zusammen -
Leitbild für ein autoritäres Europa.
Wenn der Kontinent sich veränderte, gehörte Österreich nicht zu den treibenden
Kräften. Nach 1945 bewegte es sich politisch gleichzeitig nach rechts und links,
und da es auf diese Weise nicht von der Stelle kam, genoß es den Ruf einer
beharrenden Kraft. Das war für das geistige und künstlerische Leben des Landes
bedrohlich. Ein Beispiel: Fast alle Schriftstellerinnen und Schriftsteller
publizierten im Ausland.
Während in der Welt, insbesondere in Europa, zwei politisch, wirtschaftlich und
ideologisch verfeindete Systeme einander gegenüberstanden, richtete man sich in
Österreich ab 1955 in der Neutralität häuslich ein. Das ideologische Geschäft
blühte, das neutrale Land wurde zu einem Bollwerk des Antikommunismus. Das
Personal war in Gestalt der alten Austrofaschisten und Nazis vorhanden - man
hielt es, um die Siegermächte nicht zu brüskieren, von der Politik fern und
überließ ihm die Medien.
Auch die übrigen Geschäfte gingen gut. Österreich hatte reichsdeutsche
Großbetriebe geerbt, die, da sie für das österreichische Kapital zu groß waren,
dem Staat zufielen. Die verstaatlichte Industrie kam kommerziell mit den
östlichen Verwandten, den Staatsbetrieben in den sozialistischen Ländern, gut zu
Rande. Österreich, die beharrende Kraft, gefiel dem Westen, weil sie den Osten
verteufelte, und dem Osten, weil sie ihm zu Westwährung verhalf.
Diese Idylle zerstob am Ende der Sowjetunion. Der Kapitalismus hatte sich, als
er einem Systemvergleich ausgesetzt war, einen sozialen Anstrich geben müssen.
So entstand der Sozialstaat. Verwaltet wurde er von der Sozialdemokratie, die,
nachdem sie die Machtergreifung der Nazis kampflos über sich hatte ergehen
lassen, wieder eine historische Aufgabe bekam, an der sie scheitern durfte.
Nachdem die Sowjets den Kalten Krieg verloren gegeben hatten, brauchte man im
Westen weder einen Sozialstaat noch eine Sozialdemokratie. Das Schicksal des
Knechts, der zum Dank dafür, daß er nie gegen den Herrn aufbegehrt hat, vor die
Tür gesetzt wird.
Wie man die Linke nicht bloß bekämpft, sondern gleich vernichtet, wurde schon
1968 vorexerziert. Die bürgerlichen Medien konnten sich dem Charme der 68er –
Bewegung nicht entziehen, denn die war zwar antikapitalistisch, nannte die
saubere Gesellschaft ein Schweinesystem, sie wandte sich aber auch gegen den
Kommunismus. Den Regierungen, die im Dienst des Kapitals standen, war dieses
Zugeständnis zu wenig – die autoritären Bestien fielen über die antiautoritären
Schwärmer her und zerstückelten sie in politische Sekten. Die paar, die
überlebten, bewaffneten sich und gingen in den Untergrund. Das war der Beginn
eines Terrorismus, der damals noch politisch motiviert und vorwärtsgerichtet
war, später und anderswo aber zu Religion und Schlächterei verkam.
Nach den 68ern wurden, zehn Jahre später, die großen kommunistischen Parteien
Westeuropas zerstört, und zehn Jahre danach gab die Sowjetunion auf. In diesem
mörderischen Milieu, in dem ein Aufschrei von links nur mehr als Röcheln zu
vernehmen war, wuchs die Europäische Union heran. Sie war von Anfang an ein
Projekt des europäischen Großkapitals, verschönert mit dem Liebreiz des
Fortschritts: Grenzkontrollen fallen weg, ältere Menschen, denen der
Grenzübertritt verwehrt worden ist, weil sie den Reisepaß zu Haus vergessen
haben, atmen auf.
Die Nationalstaaten blieben bestehen. Ihre Währungen nicht. Arme Staaten
konnten, wenn sie sich von reichen bedrängt fühlten, abwerten. Nun, unter dem
Regiment der Einheitswährung, werden sie selbst abgewertet: Sie werden in Armut
gestürzt. Die reichen Staaten blühen aber nicht auf, die Geldsäcke schleppen
sich keuchend dahin. Sie leiden, sagen sie, unter einer Wirtschaftskrise. Dauert
eine Krise aber zehn Jahre, handelt es sich nicht mehr um einen Ausnahme-,
sondern um den Normalzustand. Selbst die Dümmsten begreifen nach und nach: Der
Kapitalismus selbst ist in der Krise.
Es wird aber nicht der ökonomische, sondern der geistige Notstand ausgerufen.
Von allen Redaktionssesseln und Lehrstühlen wird in der Art eines Gebets, das
mit leerer Botschaft hohle Köpfe füllt, verkündet, daß es zum Kapitalismus keine
Alternative gibt, daß er aber hier und dort verbessert gehört. In Wahrheit zeigt
sich, daß der Kapitalismus nichts taugt und abgeschafft gehört. Die Kapitalisten
wissen das schon lange, ihre Propagandisten erst jetzt. Zur ökonomischen
Ratlosigkeit gesellt sich der geistige Notstand.
Die Situation spitzt sich zwar zu, die Lösung des Problems ist aber einfach.
Eine Gesellschaftsordnung wie die bürgerlich-demokratische, deren Lebenselixier
der Kapitalismus ist, wackelt, wenn in der öffentlichen Debatte dieses
ökonomische System in Frage gestellt wird. Die Wirtschaftsmacht - das Kapital,
die Finanzwelt - ist aber die allerletzte Bastion, die fällt, und das auch nur,
wenn sie von einer Revolution geschleift wird. In fetten Zeiten finanziert die
Finanzwelt die bürgerliche Demokratie, damit es neben dem Mehrwert auch ideelle
Werte gibt, vor allem, als den beliebtesten Zierat, die Freiheit.
Vergißt die politische Unterhaltungsindustrie, daß sie mit ihren Wahlen und
Lohnverhandlungen der Zerstreuung der Bevölkerung dient, und richtet einen
kritischen Sektor ein, wo dem Kapitalismus, der nicht mehr funktioniert,
vorgeworfen wird, daß er nichts taugt, dann wird nicht nur dieser kritische
Sektor, sondern auch sein Umfeld, die bürgerliche Demokratie, vorübergehend
geschlossen. So einfach ist die Lösung des Problems. Sie hat sich oft bewährt;
sie bewältigt die Probleme, indem diese unterdrückt werden. Wittgensteins
Dekret, wovon man nicht sprechen könne, darüber müsse man schweigen, birgt ein
Denkverbot, das in der heute wichtigsten Anstandsregel unverblümt zutage tritt:
Wer den Kapitalismus nicht kritisieren kann, weil er es nicht darf, der muß
schweigen.
Das Kapital reagiert immer gleich. Wenn es von einer dauerhaften Krise erfaßt
wird, ersetzt es Demokratie durch Faschismus. Dessen krasse Form, der
Nationalsozialismus, ist zurzeit nicht gefragt. Er war die Herrschaftsform der
großen und kleinen Leute, die als Volksgemeinschaft die Welt erobern und auf dem
Weg dorthin den inneren und den äußeren Feind gleichzeitig umbringen wollten,
ein Ziel, das sich als zu hoch gesteckt erwies. Der kommende Faschismus ist die
Herrschaft der kleinen Leute, denen das Wenige, das sie einmal hatten, auch noch
genommen wird. Die Bevölkerung ist ruiniert, das Kapital saniert.
Zurzeit genügen autoritäre Regimes, wie sie in Ungarn und Polen an der Macht
sind, wie eines in Frankreich heranwächst, ein anderes sich in Deutschland
formiert. Und wie eines in Österreich in die Höhe schießt. Bei der Wahl des
Bundespräsidenten blieben zwei Kandidaten übrig, ein älterer Herr, pensionierter
Universitätsprofessor und ehemaliger Vorsitzender der Grünen, und ein junger
Mann, Kandidat der FPÖ, einer Partei, die früher die Sammelstelle für alte und
neue Nazis gewesen war und sich dann, unter dem Führer Jörg Haider, vom
Deutschnationalismus halb ab- und dem Österreichnationalismus ganz zugewandt
hatte. Man wollte schließlich in Österreich Wahlen gewinnen. Österreichs
Kommunisten, für die im Widerstandskampf die Parole lebenswichtig war, daß
Österreich nicht Deutschland ist, werden gestutzt haben, daß ausgerechnet die
Nazis Österreich für sich entdecken - allerdings in Gestalt eines Nationalismus,
dessen wahre Heimat die deutsche Kulturnation bleibt. Zwei alte Lügen ergeben
die neue Wahrheit.
Ihr Verkünder, der jetztige Vorsitzende der FPÖ, Strache, schöpft aus dem
Vollen. Schließlich gab es, ehe Hitler einmarschiert ist, in Österreich vier
Jahre lang eine klerikalfaschistische Diktatur, heute noch das Himmelreich
seligmachender Rückwärtsphantasie. Den Österreichern nachzusagen, sie schwärmten
nur vom Nationalsozialismus, ist ungerecht. Strache stellt endlich Gerechtigkeit
her, er verschmilzt die beiden Faschismen, ohne daß einer zu kurz kommt.
Wenn er, ein Kreuz schulternd, als christlicher Glaubenskrieger gegen den Isalm
auftritt, wird das von seiner deutschnationalen Anhängerschaft gebilligt,
schließlich geht es um einen Kreuzzug. Der Nationalsozialismus ist nach seiner
militärischen Niederlage endgültig zur Glaubensfrage geworden, zu einer
Religionsgemeinschaft, welcher die Millionen Seiten an Berichten, was er
tatsächlich war, wegschiebt als Rancune der Ungläubigen. Die einzig wirksame
Aufkärung gegen das Nazi-Regime war Gewalt.
Nach 1945 versuchte man dem Fortwirken der alten und neuen Nazis mit Aufklärung
zu begegnen. Dem Irrwitz mit Argumenten zu widerstehen endete im Irrwitz. Dem
Sog des Irrationalismus hält die Vernunft nicht stand. Der
Präsidentschaftskandidat der FPÖ, Hofer, der fast die Hälfte der Stimmen
erhielt, wohingegen es zahlreicher Parteien und Unterstützer bedurfte, um die
anderen fünfzig Prozent für Van der Bellen zusammenzukratzen – Hofer also, wird
er schüchtern nach seinen deutschnationalen Vorlieben gefragt, zieht aus der
Hosentasche ein kleines, silbernes Kruzifix und streckt es dem Fragenden
entgegen.
Es gibt nichts mehr zu fragen. Der christliche und der nationale Sumpf ergeben
ein volksbewegtes Rinnsal, das auf Erden keiner Kontrolle unterliegt, da es zum
Himmel stinkt. Strache repräsentiert die neue Volksgemeinschaft, die, ohne von
ihm beauftragt worden zu sein, von den ehemaligen Großparteien ÖVP und SPÖ
beigestellt wird. Ihr Regierungsprogramm besteht in der Beteuerung, das
Gemeinsame vor das Trennende zu stellen, womit sie nicht nur sich selbst,
sondern auch das Fundament, auf dem sie stehen, die bürgerliche Demokratie,
zerstören.
Demokratie, die Herrschaftsform der Bourgeoisie, geht von der Realität aus, daß
die Gesellschaft in Klassen gespalten ist. Das einzugestehen, setzt voraus, daß
man alle Macht im Griff hat - die wirtschaftliche, staatliche, polizeiliche,
militärische. Wankt diese Macht infolge wirtschaftlicher Schwäche, zerbricht die
Demokratie, und die Repräsentanten der Klassengesellschaft, die
Christlichsozialen und die Sozialdemokraten, verlieren Funktion und Anhänger.
In ihrer Verzweiflung verkünden sie die rettende Parole, man arbeite gemeinsam
für Österreich. Die Reklame der Gemeinsamkeit macht Parteien, die entstanden
sind, weil sie widerstreitende Interessen vertreten, überflüssig. Straches FPÖ
wird unaufhaltsam stärker dank der Politik ihrer Kontrahenten. Den
Bundespräsidenten hat man noch nicht, in zwei Jahren wird man sich mit dem
Bundeskanzler bescheiden – es sei denn, der neue Bundeskanzler der SPÖ, ein
Manager, bewirkt einen Wirtschaftsaufschwung, indem er Zehntausende
Ein-Euro-Jobs schafft.
Österreich ist in einem Europa, in dem der demokratische Faschismus die
sozialstaatliche Demokratie ablöst, von einer beharrenden zur treibenden Kraft
geworden. Aber selbst stellte die FPÖ in einigen Jahren den Bundeskanzler und
später noch, wie die Vorsehung es programmiert hat, den Bundespräsidenten, es
änderte sich nicht viel. Das autoritäre Regime wäre jedenfalls für das geistige
und künstlerische Leben Österreichs nicht bedrohlich. Dieses hat sich dem
politischen Niedergang des Landes längst angeschmiegt, die Autoren haben
Doderer, den wüsten Nazi, heuchlerischen Austrofaschisten und stümperhaften
Meister der Beamtensprache zum literarischen Vorbild erhoben. Die Welt des
Geistes und der Kunst, mißt man sie an ihren Werken, steht rechts von der FPÖ.
Was sollte diese Welt zu befürchten haben?
Zum Glück muß auch der Rest der Welt, der gar nicht so klein ist, sich vor
Österreich und Deutschland nicht ängstigen. Der Nationalsozialismus als die
bisher schärfste Form faschistischer Diktatur war nicht nur ein
Menschenvernichtungsprogramm, sondern auch eine Weltherrschaftsideologie. Doch
ein großer Krieg, der von Deutschland und einem eventuell angeschlossenen
Österreich ausgeht, ist nicht zu befürchten, solange die Atomraketen
Frankreichs, Englands und Rußlands auf Deutschland gerichtet sind.
Kleine Kriege sind an der Tagesordnung, wobei NATO-Bomber schon lange nicht mehr
um Erlaubnis ansuchen, wenn sie das neutrale Österreich überfliegen, worüber
sich nur in Tirol die Steinadler, im Burgenland die Seeadler beschweren. Gegen
wen immer die Aggression sich richtet, ob Jugoslawien bombardiert wird oder
Libyen, jedes kriegerische Unternehmen endet im Chaos. Haß als Kriegsgrund, Haß
gegen sozialistische Reste in und um Europa, ist Ausdruck einer Unvernunft, die
zwar ein Land zerstören kann, dann aber nicht weiterweiß. Man geht mit einer
Übermacht auf einen ohnmächtigen Staat los und erringt einen Sieg, der sich als
Niederlage herausstellt. Das einzige Konzept ist die Konzeptlosigkeit.
Diese aber ist nicht Ausdruck von Dummheit, sondern von Machtverlust – wobei
einzuräumen ist, daß, wer Macht verliert, meist blöd dasteht. Europa und die USA
galten lange Zeit hindurch als Synonym für den Weltenlauf, nun müssen sie zur
Kenntnis nehmen, daß der Lauf der Welt sich gegen sie richtet. Das Machtzentrum
verschiebt sich von Westen nach Osten, zu Rußland und China und den vielen
Ländern, die sich an diese beiden Mächte klammern, um nicht unterzugehen. Der
historische Kalte Krieg war eine Idylle, gemessen am heutigen Weltzustand. Das
Triumphgeheul über das Ende der Sowjetunion weicht dem Wehklagen über ein
Rußland, das, bonapartistisch regiert, sich dem Zugriff des Westens entzogen hat
und eigene Wege geht.
In Europa führt die internationale Bedeutungslosigkeit des Kontinents zu starken
autoritären Bewegungen. Faschismus ist auch Vortäuschung von Macht, was auf die
wirtschaftlich Entrechteten faszinierend wirkt. Ihre Zukunft liegt in der
faschistischen Illusion. Trump in den USA ist ein Musterschüler dieser
Entwicklung. Als der amerikanische Präsident Obama dieser Tage in Hiroshima eine
Rede hielt, gedachte er auch der Toten, die von künftigen Kriegen verursacht
werden. Wahrscheinlich ist ihm Trump durch den Kopf gegangen.
Die Europäische Union, bislang an den Nationalstaaten gescheitert, hat eine
große Zukunft vor sich. Die bürgerliche Demokratie, Produkt des Nationalstaats,
und in der Union Ursache ewigen Streits, muß weg. Einige Staaten konstituieren
sich bereits als autoritär. Die Regierungen dort wurden von einer Mehrheit
gewählt, die zu Recht als überwältigend bezeichnet wird. Vor dem Verlust der
Macht und der Krise der Wirtschaft flieht man in die faschistische Illusion. Ihr
hängen nicht nur die Beherrschten, sondern auch die Herrschenden an.
Sie bilden jene Volksgemeinschaft, die in Österreich von den Austrofaschisten
gesät und von den Nazis geerntet wurde. Der breite und fette Mittelstand wurde
zu Unrecht verdächtigt, eigene Bedürfnisse materieller und geistiger Art
entwickeln zu können. Er wird sicherheitshalber abgeschafft. In der Krise kann
man sich den Herrn Magister Schnösel, der sich einbildet, ein Manager zu sein,
nicht mehr leisten. Um ihn ruhigzustellen, wird er kulturell abgefunden: mit
Festspielen in jeder Stadt, in jedem Dorf, mit unzähligen Museen, darunter das
wichtigste: das Literaturmuseum in Wien, eine Perversion, die der autoritären
Manie entspringt, daß beim kulturellen Treiben der Volksgemeinschaft alle dabei
sein müssen. Betreut wird es vom Kultursender Ö 1, dem geistigen Rückgrat des
Ungeistes.
Austrofaschismus, Nationalsozialismus, Zweite Republik – eine erbarmungslose
Kontinuität. Mein Vater, ein wortkarger und zugleich fröhlicher Mensch, erzählte
mir, als ich zehn war, über jene Zeit. Nicht wir, sagte er, sind die Verbrecher.
Wir dürfen uns, indem wir an sie denken und über sie reden, nicht die Lust am
Leben verderben lassen. Es war, sagte er, im Februar 1934. Die Arbeiter griffen
zu den Waffen. Die Christlichsozialen hatten das Parlament aufgelöst. Die
sozialistischen Parteiführer wollten mit uns nichts zu tun haben. Ausgenommen
Koloman Wallisch. Er kam zu uns in die Obersteiermark und stellte sich an die
Spitze des Kampfes.
In Bruck an der Mur wollten wir die Gendarmeriekaserne stürmen. Ein Eisentor
hinderte uns daran. Wir hatten außer Gewehren auch Handgranaten. Neben mir stand
einer, der sagte: Ich hab dich am Sportplatz gesehen, du warst Sieger im
Diskuswerfen. Hier, schmeiß die Handgranate. Ich tat es. Er gab mir die nächste.
Nach fünf Würfen war das Tor offen. Doch wir erstürmten die Kaserne nicht. Das
Militär kam dazwischen und schoß uns über den Haufen. Als die Nazis
einmarschierten, schoß es nicht.
Mein Vater entstammte dem Geschlecht der Wanderarbeiter, wurde aber Facharbeiter
und seßhaft. Ein Fehler, sagte er. Wäre ich Wanderarbeiter geblieben wie die
Vorfahren, hätte ich mich nach dem Einmarsch Hitlers auf den Weg nach Ägypten
gemacht und dort Baumwolle gepflückt. So aber blieb ich in der Fabrik, auch
während des Weltkriegs, denn wir stellten her, was man im Krieg brauchte. 1944
mehrten sich die Fälle von Sabotage. Ich wurde verhaftet und zum Verhör geführt.
Wer saß dort? Der Genosse, der mir die Handgranaten gereicht hatte. Ich reihe
dich nach hinten, hat er gesagt. Aber länger als ein Jahr kann ich dich nicht
schützen. Ist der Krieg bis dahin verloren, haben wir gewonnen. So war es dann.
Welche Art von Sabotage hast du gemacht, fragte ich. Vater lachte. Die Sache,
sagte er, wurde nie aufgeklärt.
Was ist aus deinem Genossen geworden, fragte ich. Er wurde wieder Genosse. Er
kehrte zurück zur Sozialdemokratie, erzählte dort, daß er mir und zwei anderen
das Leben gerettet hatte, galt bald als Widerstandskämpfer und wurde ein
beliebter Funktionär.
Und du, fragte ich. Ich arbeite, wie du weißt, wieder in der Fabrik, und ich
bin, wie du weißt, gern im Arbeitersportklub, mit vierzehn bin ich dorthin
gekommen, wir haben trainiert und wurden politisch geschult. Und heute, fragte
ich. Heute trainieren wir. - Und wer schult euch politisch? - Du fragst zuviel,
sagte der Vater, und das ist gut so.