Michael Scharang

 

Kunst ist nicht Kultur.
Und Kunstförderung ist nicht Kulturförderung.
Eine Klarstellung

Die Kunst stellt die Welt dar. Anders die Philosophie, welche die Welt deutet, anders dieWissenschaft, welche die Welt erforscht. Die Kunst stellt die Welt dar in der Form ihres Werks. Der Dichter schreibt die Wörter nicht in die Luft, er bringt sie zu Papier und legt sie anderen vor. Auch zur Beurteilung. Es setzt ein Palaver ein, ob das Werk ein Kunstwerk ist oder nicht. Wer entscheidet das? Die Zeit und die Kenner.

Die Beurteilung, ob ein Werk ein Kunstwerk ist oder nicht, ist so schwierig, weil Kunst selbst, also die Darstellung der Welt, so schwierig ist. Kunst, die es nur zur Abbildung bringt, ist Machwerk, Kunst, die ins Sinnbild flüchtet, ist Blendwerk. Ein Kunstwerk hingegen ist die bestmögliche Darstellung der Welt. Es ist nie die ganze Welt, doch durch die vollkommene Darstellung des Teils ist es mehr als der Teil. Künstlerische Darstellung heißt, dem äußeren Schein ebenso zu mißtrauen wie dem verborgenen Wesen. Kunst ist der Schein, der nicht trügt.

Da der Anspruch, den die Kunst an sich stellt, hoch ist, muß auch der Anspruch der Kunstkritik hoch sein. Kunstkritik ist eine Kunst. Indem sie das Werk zugleich nachzeichnet, analysiert und beurteilt, bedarf sie sowohl künstlerischer als auch philosophischer und wissenschaftlicher Fähigkeiten. Auch sie äußert sich im Werk. Es ist der Essay.

Seit die Gesellschaft auf Tausch beruht, finden Kunst und Kunstkritik sich in der Krise. Die Krise ist das Wesen der politischen Ökonomie der Kunst. Sie rührt daher, daß in einem Kunstwerk oft mehr Arbeit steckt, als dem Künstler abgegolten wird, und daß sich nicht immer ein Käufer findet. Für Kunst gilt wie für jede Ware, daß  der Gebrauchswert der Träger des Tauschwerts ist. Dank der Zurückhaltung, die das Kunstwerk als Ware übt - es stellte sonst nicht die Welt dar, sondern wäre ein beliebiges Geschäft - , fällt ihm ein zusätzlicher Gebrauchswert zu. Es ist, konträr zur übrigen Warenwelt, nicht umzubringen.

Kunst ist das ökonomische Risiko par excellence. Deshalb gibt es zumindest seit der Antike Kunstförderung. Sie beruht auf einer gesellschaftlichen Übereinkunft: auf Kunst, die einzige sinnliche Gestalt der Wahrheit, nicht verzichten zu wollen. Kunstförderung war und ist die einfachste Sache der Welt. Der Künstler braucht niemanden, der ihm aufmunternd auf die Schulter klopft, er braucht, falls es ihm daran mangelt, Geld, sonst nichts.

Die Hand, die es ihm reichen kann, ist heutzutage die öffentliche Hand. Der Künstler geht, wenn er die Arbeit an seinem Werk aus Geldmangel nicht fortsetzen kann, zum Staat, legt seine Situation dar und ersucht um finanzielle Unterstützung. Er legt alles offen, die Arbeit, in die er verstrickt ist, und die Verhältnisse, die ihn drücken.

Das Problem ist nicht, wie man meinen könnte, daß es zu wenig Geld für Kunst gibt, sondern daß immer weniger Mittel, die für Kunstförderung bestimmt sind, den Künstlerinnen und Künstlern zugute kommen. Der Zustand ist schlimm, die Tendenz beängstigend. Registriert wurde das schon von Brecht und Musil. Davon, daß ein Schriftsteller nicht leben kann, sagte Musil, leben hundert andere Leute ausgezeichnet.

Der Schauplatz solchen Geschehens heißt nicht Kunst, sondern Kultur. Brecht nannte die Kultur einen Palast, der aus Hundsscheiße gebaut ist. Treffender kann man diese Kunst- und Literaturhäuser und diese Museumsquartiere, in denen Kunst eingesargt wird, ehe sie lebt, nicht charakterisieren. Nicht zufällig sehen sie aus wie Mausoleen.  

Kultur hatte ihre große Zeit im Absolutismus, als versucht wurde, der gesamten Gesellschaft einen einzigen Stil aufzuzwingen. Jeder Altar, jeder Nachttopf, jede Türschnalle mußte barockisiert werden. Dem feudalen Machtwahn, Stil zu diktieren, folgte im 19. Jahrhundert der bürgerliche Größenwahn,  sich jeden Stil, den die Geschichte hervorgebracht hat, kaufen zu können. Angesichts dieses Drecks, zu dem Kultur herabsank, brach die Kunst Mitte des 19. Jahrhunderts die Beziehungen zur Kultur ab. Es war der Beginn der ästhetischen Moderne. Die Kultur, da es sonst niemand tat, vernichtete sich selbst, indem sie sich von der Gesprächs- über die Streit - bis zur Eßkultur in hundert Kulturen zerteilte, um zu vertuschen, daß sie am Ende ist.
 
Es gibt sie nur mehr als Farce. In dieser Farce spielen freilich sehr viele Schmierenkomödianten mit. Die Kultur, historisch tot - Kunst und Wissenschaft haben sich von ihr emanzipiert - ,  ist heute ein Tummelplatz von Maulhelden, Intendanten, Roßtäuschern, Kuratoren, Wichtigmachern, Funktionären. Ich nenne sie Kulturbetriebler. Ein Betriebler, falls das jemand nicht weiß, ist jemand, der einen Betrieb, der längst nichts mehr herstellt, mit Feuereifer in Betrieb hält.
 
Das Dreiste am Kulturbetriebler ist, daß er die Kunst beleidigt und den Künstler bestiehlt,  das aber im Namen der Kunst und der Künstler. Der Künstler ist dagegen machtlos. Ihm bleibt nur, hin und wieder, so wie ich es hier tue, den Tatbestand zu benennen. Der Künstler weiß zwar, daß er mit einem Minimum an berufspolitischem Engagement zumindest ein kümmerlicher Stachel im fetten Fleisch des Kulturbetrieblers wäre. Er weiß aber auch, daß er, in seine Arbeit vertieft, selbst jenes Minimum nicht leisten kann. Auf diesem Notstand, der die Existenz des Künstlers definiert, baut der Kulturbetriebler seine Existenz - und darauf, eigene Kulturbetriebs - Künstler heranzuziehen, die sich damit brüsten, statt eines überprüfbaren Werks ein Konzept zu produzieren, das auch schon die Kritik am nicht vorhandenen Werk enthält, womit der Traum von einer Welt ohne Kunstwerke und ohne Kunstkritik nach und nach Wirklichkeit wird. 

Der Kulturbetriebler ist immer gut organisiert. Davon lebt er. Auch die öffentliche Hand, der Staat, ist eine Organisation, und von Organisation zu Organisation redet es sich eben leichter. Es sei denn , der Kulturbetriebler fühlt sich bei seinen Beutezügen durch das Kunstbudget vom Staat behindert. Wie dieser Tage das Literaturhaus Wien. Dann wird der Staat aufgefordert, sich „zu interessieren“, und zwar „über das bisherige Interesse an Preis - und Stipendienfinanzierungen hinaus für alle Zusammenhänge, in denen Literatur steht (...), insbesondere für solche im organisatorischen Bereich“. Einen derartig schamlosen Aufruf, der Staat dürfe, wenn er schon Schriftsteller fördere, doch nicht auf den Betriebler, den „organisatorischen Bereich“, vergessen, hat es noch nicht gegeben.

Was ist das Literaturhaus Wien? Es ist kein gewöhnlicher Verein. Es wird getragen von einem„Trägerverein“, „der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur“. Dieser Trägerverein trägt die Behauptung vor sich her, daß er unverzichtbar ist. Und in der Tat, was er macht, kann sonst niemand. Er sammelt Bücher und Zeitungsartikel.

Der Verein Literaturhaus Wien sitzt auf den Schultern jenes Trägervereins und überragt deshalb alles: Er ist „eine Gemeinschaftseinrichtung von allen mit der österreichischen Gegenwartsliteratur befaßten Berufs - und Personengruppen, vorwiegend der Autor/inn/en und Autor/inn/enorganisationen, Übersetzer/innen und Übersetzerorganisationen, der Germanist/inn/en und germanistischen Institute und der Literaturkritik, des Verlags - und  Büchereiwesens, der Literaturvermittlung und des Literaturunterrichts“.

Ist es nicht herrlich, daß es in Zeiten tiefster Entfremdung, in denen der Künstler mit dem Kulturbetriebler nichts mehr zu tun haben will, letzterer es schafft, das Wunder einer alle und alles umfassenden Gemeinschaftseinrichtung in die Welt zu setzen? Und sei es um den Preis autoritärer Diktion. Wie einst aus Staatbürgern ein Volksganzes geformt wurde, erhöht der Kulturbetriebler das Literaturhaus zuerst zur Gemeinschaftseinrichtung und feiert es dann als „dieses große gemeinsame Ganze der österreichischen Gegenwartsliteratur“. Das Literaturhaus Wien spricht offenbar aus Verzweiflung darüber, daß die Faschisten, die es bekämpft, noch nicht da sind, wie ein Propagandaministerium.

Der Kulturbetriebler ist jedoch seinem Wesen nach nicht autoritär, sondern metaphysisch.Wer auf eine Kultur pocht, die es nicht mehr gibt, muß, um zu reüssieren, höher hinaus, Richtung Gott. Das Literaturhaus Wien soll deshalb als eine göttliche Einrichtung anerkannt werden, die vor irdischen Anfechtungen gefeit ist. Verlangt wird eine „Bundessubventionspolitik“, „die sowohl die bereits eingetretenen negativen Folgen zu beseitigen hilft als auch alle drohenden weiteren verhindert“.

Die IG Autoren des Gerhard Ruiss möchte die Heiligsprechung des Kulturbetriebs, nein, nicht durch die Bischofskonferenz, sondern durch die ranghöhere „Landeskulturreferentenkonferenz“. Da die Kultur längst keinen Boden mehr unter den Füßen hat, sind die Äußerungen des Kulturbetrieblers bodenlos. Er schreckt vor nichts zurück.

 

„Die Presse“, Wien, 11. 10. 2003
„Konkret, Hamburg, November 2003