Michael Scharang

 

Kult ums Kapital

In der für die Gattung Mensch kurzen Zeit von ein paar tausend Jahren, in der es Überlieferung gibt, findet man keine Gesellschaftsform, die der Kreatur derart zusetzt und den Menschen so bagatellisiert wie der Kapitalismus. Er richtet das Individuum für seine Zwecke ab, bis es keines mehr ist und nach der Peitsche des Dompteurs verlangt, weil ohne Dressur Lohn und Belohnung nicht zu bekommen sind. Der Kapitalismus pervertiert die liebenswertesten Fähigkeiten des Menschen zur hassenswerten Routine: die Gabe, etwas herzustellen, zur Arbeitskraft, und die Lust, zu genießen, zur Kaufkraft.

Arbeiten zu müssen, andernfalls man erschlagen wird, ist eine Errungenschaft der Sklavenhalterei. Dafür, daß er umsonst arbeitet, erhält der Sklave den Lohn, sich nichts kaufen zu können. Das ist der Humanismus der Antike. Der Humanismus der Jetztzeit, der zu Recht sich von jenem herleitet, ist stolz auf seinen Zugewinn, die Freiheit. Sie erlaubt dem Individuum, seine Arbeitskraft gegen Lohn zu verkaufen und als Kaufkraft die Mittel zu  erwerben, um als Arbeitskraft zu überleben. Der Kapitalismus entläßt das Individuum in eine abstrakte Freiheit, in der ihm alle konkreten Freiheiten, mochten sie noch so erbärmlich gewesen sein, genommen werden. Das ist der Stand der Zivilisation.

Es mag auf der Welt Schlechteres geben und wohl auch Besseres gegeben haben - hier interessiert nicht moralische Abwägung, sondern die Beschreibung eines Zustands;  an sich eine bescheidene Haltung, nicht aber dann, wenn es eine herausragende Eigenschaft dieses Zustands ist, daß er nicht beschrieben werden will. Der Kapitalismus, der nicht vergessen hat, wie gefährlich ihm revolutionäre Theorie werden kann, produziert längst seine eigene  Kapitalismuskritik, die einem strengen Ritual folgt. Zuerst muß er dämonisiert werden als Schreckensmaschine oder Naturkatastrophe; heute noch Turbokapitalismus, wird er morgen schon ein Tornadokapitalismus sein mit globaler Verwüstung und neoliberalen Überschwemmungen. Danach muß an ihn appelliert werden, wenigstens den Menschen gnädig zu sein, wenn schon die Welt draufgehe.

Dieser Choral aus Geschrei und Gewinsel wird intoniert von Intellektuellen, denen  der Kapitalismus die ökonomische Grundlage entzogen hat und die, weggescheucht aus den Medien und verjagt von den Hochschulen, als Lumpenbourgeoisie gegen Entgelt den Verlust von Kultur und Menschlichkeit beklagen müssen. Sie fordern nicht Neuerungen des Bestehenden, sondern die Erneuerung des Verlorenen, und wenden sich, Fürstenknechte von heute, an Kapitalisten und deren Manager mit der Bitte, sich zugunsten des Gemeinwohls zu bescheiden. Erstaunt über so viel Dummheit, applaudiert der Kapitalist amüsiert dem Vorwurf, neoliberal zu sein, hat er doch in der Realität bereits neofeudalen Status erworben. Der Kapitalismus verhält sich zur Kapitalismuskritik wie der Hof zum Hofnarren.
 
Jahrhundertelang existierte er als Wirtschaftsform der Bürger und Bauern. Politisch hatte nur der Feudalherr etwas zu sagen, der, wenn diejenigen, die den gesellschaftlichen Reichtum erwirtschafteten, die Frage nach Mitsprache stellten, als Antwort das Militär schickte. Insbesondere von 1500 bis 1800 gab es diese Doppelherrschaft. Das Barock, vernarrt in Technik wie keine andere Epoche, genoß Erfindungen als Lustbarkeit; nach der französischen Revolution wurden sie zur Produktivkraft. Die Werkstätte wich der Fabrik, das Werkzeug der Maschine, der Handwerker dem Arbeiter, der Feudalherr, ein moderater Unmensch, dem Unternehmer, dem modernen Herrenmenschen.

Der formt mit beispielloser Brutalität aus Individuen Massen, die er dann als Arbeiter je nach Bedarf beschäftigt oder auf die Straße wirft, wo sie als Mob immerhin noch politisch nützlich sind. Der Herrenmensch, ein lustfeindlicher Wüstling, hat stellte sich an die Spitze des Bürgertums hat, einer Klasse, die keine Feste feiert, weil sie nicht nur den andern, sondern auch sich selbst nichts gönnt. Er zerschlägt überkommene Strukturen, ohne neue zu schaffen, geschweige denn zu dulden, und er entzieht den Menschen, sobald sie meinen, Boden unter den Füßen zu haben, diesen sofort, damit sie nicht übermütig werden, und bietet ihnen außer der Sicherheit, daß es keine gibt, die Gewißheit, daß dies eine Leben, das der einzelne hat, diesen Namen  gewiß nicht verdient. Das ist die Moderne.

Die enorme Macht und Gewalt des Kapitalismus verdanken sich der Notwendigkeit zur Investition, weshalb Geld nicht mehr brachliegen darf, sondern Kapital werden muß. Der Industrieunternehmer, der eine Ware erzeugen will, braucht dazu mehr Geld, als er hat. So sucht er Leute, die sich beteiligen: Aktionäre, und er stellt ihnen für eine Unternehmung, die auch schief gehen kann, mehr Gewinn in  Aussicht als eine Bank. Der Zwang, genug Geld für die Produktion zustandezubringen, gebiert den Zwang, größtmöglichen Gewinn zu erzielen. Dieser Aberwitz, so witzlos wie primitiv, diktiert nicht nur den Gang der Wirtschaft, sondern führt auch, weil diese nicht nur die materiellen, sondern ebenso die geistigen Mittel in großem Stil verbraucht, zum Stillstand der Gesellschaft.

Wirtschaftsform und Gesellschaftsordnung werden auf fatale Weise eins. Die Wirtschaft nährt nicht die Gesellschaft, sondern zehrt sie aus. Der Industriekapitalismus, der von einer Ware riesige Mengen erzeugt, kann nicht auf das Glück bauen, daß die Massenware Käufer findet. Sie muß gekauft werden, andernfalls der Gewinn mitsamt der Investition verlorengeht. Was wiederum, so weit das jeweils möglich ist, die Ausschaltung der Konkurrenz und die Suspendierung des Marktes erfordert. Dessen freies Spiel der Kräfte ist ein Klischee, brauchbar nur mehr für ein Musical, in dem Kaiser Nero, indem er Rom niederbrennt, den Immobilienmarkt belebt.

Marx mußte anders als sein Zeitgenosse Flaubert, dem wie jenem keine Zeiterscheinung entging, dem Kapitalismus insofern Gutes abgewinnen, als er in die zur Lohnsklaverei verdammten Menschen die Hoffnung setzte, sie würden sich zur Arbeiterklasse formieren und sich dann als historisches Subjekt durchkämpfen bis zum Ziel, der klassenlosen Gesellschaft. Diese Teleologie, der Theologie nicht nur namens-, sondern auch wesensähnlich, welche die Opfer verklärt und erlöst, muß auch den Täter, ohne den es das Opfer nicht gäbe, verklären, indem es ihm Entfaltung gesellschaftlicher Produktivkräfte nachsagt. Marx sah die Dinge aus der Nähe, und besser als er hätte man sie nicht darstellen können. Karl Kraus hatte es Jahrzehnte später leichter. Er lernte die Arbeiterklasse als Opfer nicht nur des Kapitalismus, sondern auch der Sozialdemokratie kennen und die entfalteten Produktivkräfte als Weltkrieg.

Der Kapitalismus, früher im Bündnis mit dem revolutionären Bürgertum, hat sich verselbständigt und erweist sich - eine seiner nicht uninteressanten Eigenschaten -  als unbarmherzig egalitär. Er vernichtet nicht nur seine Widersacher, die Massen, denen es nicht gelang, ihn zu stürzen, sondern auch die Klasse, die, durch ihn reich und mächtig geworden, dem Trug erlag, seiner Herr zu werden. Heutzutage, in der nachbürgerlichen Zeit, existieren gesellschaftliche Gruppierungen einschließlich der früheren Arbeiterklasse und der verblichenen Bourgeoisie nur mehr als Anhängsel eines Produktionsapparates, der so groß und einflußreich erscheint, daß der einzelne sich nicht mehr vorzustellen vermag, wie er überleben könnte, würde der Apparat nicht funktionieren. Auch die Profiteure, die eigentlichen Kapitalisten, sind mehr denn je nur Anhängsel des Systems, auch sie erstarren vor Angst, wenn es infolge der unausweichlichen Konzentrationsprozesse im Apparat wieder rumpelt, denn sie wissen, etliche von ihnen werden diesmal auf der Strecke bleiben.
 
Jede neue Bildung eines Monopols sichert die nötigen Gewinne, um das nächstgrößere Monopol zu bilden - falls man dann noch im Spiel ist. Und jedes Mal ist die Anzahl derer, denen die Welt gehört, kleiner. Trotz der insgesamt abstrakten Verhältnisse lassen sich dank bürgerlichen Rechts unschwer die konkreten Eigentumsverhältnisse feststellen. Die Eigentümer in einer Region, einem Land, einem Kontinent aufzulisten, trägt zur Erhellung der Situation mehr bei als jene Morgenandacht, derzufolge die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden, als wäre dieses Unrecht nicht das Rechtsideal des Kapitalismus. Der ist weder gut noch schlecht noch reformierbar.

Immer weniger Leuten gehört eine immer kleiner werdende Welt. Für diesen Vorgang kreieren sie den Begriff der Globalisierung, das dümmste Wort der nachbürgerlichen Epoche, das die Leute, denen die Welt nicht gehört, in jene Irre führt, wo das Irresein auf sie wartet. Der Markt war Weltmarkt, also global, bevor das Kapital sich international, also global, etablierte. Globalisierung suggeriert keinen rationalen, sondern einen Schicksalszusammenhang. Der Chinese, der Amerikaner, der Inder kommen mit weniger Lohn, weniger Rente, weniger Spitalsaufenthalt aus als der Europäer, der, wenn er nicht von einem chinesischen Menschenhändler an einen amerikanischen Konzern in Indien verkauft werden will, radikal Verzicht üben muß. Das ist Aufklärung heute.

Die Welt wird kleiner, die Monopole werden größer. Die Gewinnchancen auf den abgesteckten Märkten sinken, als Ausgleich steigt die Neigung zur Spekulation. Der heutige Eigentümer muß, um sein Kapital zu verwerten, das heißt, den erwirtschafteten Gewinn profitabel zu investieren, Risikos eingehen, die mit herkömmlicher Geschäftstätigkeit nichts zu tun haben. Weshalb der zeitgemäße Kapitalist einem bürgerlichen Geschäftsmann weniger ähnelt als einem Racket, einer Mischung aus Gangster und Wohltäter, dem die Idee der Wohlfahrt gefällt, weil er als sorgender Pate sich am liebsten jener Opfer annimmt, die er selbst produziert. Als Gegenleistung verlangt er mit einer Strenge, die dem Vergleich mit der Inquisition standhält, Gehorsam.

Die Rackets, untereinander in einen Überlebenskampf verwickelt, von dem sie wissen, daß er angesichts noch nicht eroberter Märkte noch einige Zeit dauert, brauchen um sich herum Ruhe. Es gehört ihnen die Welt mitsamt der Politik, den Medien, den Wissenschaften, sie bestimmen, was in ihrer Welt zu geschehen hat, als Besitzer, nicht als Diktatoren, und daß dieser Neofeudalismus Demokratie genannt wird, ist ihnen so wichtig, wie daß die Börse jeden Morgen öffnet. Der Kapitalismus, wirtschaftlich von hysterischer Aktivität, als übte er jetzt schon, wo er noch im Saft steht, den Showdown, gibt als bürgerliche Gesellschaftsform kein Lebenszeichen mehr von sich. Er ist in einen Tiefschlaf gefallen, in ein Koma. Abertausende Politiker, Hellseher, Professoren, Therapeuten, Journalisten und Künstler aller Art umstehen den schlafenden Riesen und beginnen, als seine Priester einen Totenkult zu zelebrieren.

Eine Gesellschaft, die nicht einmal mehr einen Begriff von sich hat und sich nur als Wirtschaft versteht, verabschiedet sich von der - ohnedies beschränkten - Rationalität bürgerlicher Aufklärung. Die klassische Irrationalität, der Gott im Himmel, wurde so lange gehegt, bis ihr die moderne Form, der Gott auf Erden, folgt, nunmehr nicht wie in den dreißiger Jahren als wahnhafter Führer, sondern als Wirtschaftswahn. Die alten Namen für Städte, Landschaften, Länder werden getilgt zugunsten der Einheitsbezeichnung Wirtschaftsstandort. Man reist nicht von Wien nach Prag, sondern von einem Wirtschaftsstandort zum anderen. Was harmlos klingt wie ein Entgegenkommen für Trottel, ist in Wirklichkeit eine Militarisierung der Ökonomie. Über Wirtschaftsstandorte hört man aus allen Propagandamäulern nur, daß sie ausgebaut, gesichert und verteidigt werden müssen. Man redet vom Wirtschaftsstandort als von einem Kriegsschauplatz.

Die Arbeitsfront muß sich vorwärts bewegen. Angefeuert  wird sie von den Priestern des Gottes auf Erden, die aber nicht mehr wie Theologen reden, sondern wie Staubsaugervertreter, die nicht nur Reklame für eine Ware, sondern auch für sich selbst machen müssen. Es ist übrigens eine anmutige Kapriole des Kapitalismus, daß diejenigen, die dafür bezahlt werden, daß sie diesen propagieren, auch sich selbst vermarkten müssen. Der Prozeß der Prostitution ist unendlich. Das ist die Ethik des Kapitalismus.

Die Leier, die Wirtschaft müsse wachsen, ist eine der gefährlichen Blödheiten, mit denen die Menschheit belästigt wird. Wüchse sie nicht, so die Drohung, bräche alles zusammen. Also reißt man sich an der Arbeitsfront am Riemen, opfert die Schwachen, und den Kräftigen gelingt es tatsächlich, das Wirtschaftswachstum zu steigern. Mit dem Erfolg, daß ihnen tagaus, tagein gesagt wird, sie seien für nichts anderes gut, als Lohnkosten und Lohnnebenkosten zu verursachen und den jeweiligen Wirtschaftsstandort zu gefährden. Wer sich diese Mixtur aus Gemeinheit und Berechnung bieten läßt, ist, weil er zur Zeit keine Alternative hat, nicht selbst schuld. Das ist der erste Lehrsatz antikapitalistischer Ethik, der, wenn er sich von der ethischen Sphäre nicht emanzipiert, auch  nichts taugt. 

Der Totenkult um den Kapitalismus hat vorchristliche Züge. Der Wirtschaft, dem Gott auf Erden, wird nicht symbolisch, sondern buchstäblich geopfert. In einer Plakatkampagne, die aus Österreich eine einzige Plakatwand machte, wurde an jeden Einwohner appelliert, nicht zu vergessen, daß er nur dann, wenn es der Wirtschaft gut gehe, sein Auskommen finde. Diese Verdrehung der Tatsachen ist mit dem Wort Lüge nicht mehr zu fassen und enthüllt gerade deshalb die Wahrheit, daß die Warenproduzenten zwar der Gesellschaft nützen, indem sie Wert schaffen, der Wirtschaft aber, weil sie noch leben und Kosten verursachen, fortwährend schaden. Der Lohn dessen, der etwas produziert, muß sinken, weil die Ware schwieriger denn je den Weg zum Abnehmer findet, begleitet von Heerscharen von Kommis, Reklamemachern und Coaches,  die davon bezahlt werden, daß der Produzent weniger Lohn bekommt. Er vor allem muß für das Opfer bereit sein, weil er am wenigstens Grund dazu hat.
 
Der Kapitalismus hat zwar keine Zukunft, er schuf aber eine Gesellschaft, in der, was keine Zukunft hat, am längsten währt. Dazu kommt die humanitäre Leistung der Geschäftemacher, den religiösen Fanatikern klarzumachen, daß nicht nur diese vor nichts zurückschrecken, sondern auch sie, die Geschäftemacher. Die Wirtschaft als Gott auf Erden braucht nicht das tägliche Blutbad, solange sie in ihren Medien baden kann. Das motiviert den Fanatiker, der mangels Wirtschaft auf den Gott im Himmel angewiesen ist, zum Blutbad auf Erden. Der Kapitalismus erscheint dort, wo er wütet, als Fortschritt, und dort, wo er noch nicht wütet, als Wutanfall. Dieser Konstellation verdankt er sein Renomee und diesem wieder, daß man ihn, wenn man ihm begegnet, überhaupt noch grüßt.

 

„Die Presse“, Wien, 2. Dezember 2006
„Konkret“, Hamburg, Jänner 2007