Michael Scharang

 

Rede anlässlich der Verleihung des Berliner Theaterpreises an Elfriede Jelinek im Theater „Berliner Ensemble“
gehalten im Mai 2002

Seit über dreißig Jahren verbinden Elfriede Jelinek und mich literarische, politische, persönliche Interessen. Kein
Interesse aber war so stark wie das gemeinsame Desinteresse am Theater. Heute endlich ernten wir die Frucht dieses Desinteresses, Elfriede Jelinek bekommt das Fruchtfleisch in Gestalt des Berliner Theaterpreises, mir als Theaterpreisredner bleibt immerhin der Kern der Frucht. Ich stecke ihn in die Berliner Erde, möge der Same aufgehen, auf daß das Desinteresse am Theater nicht aussterbe.
 
Die Antidramatikerin Jelinek als Theaterpreisträgerin - das könnte man ein historisches Ereignis nennen, wüßte man nicht aus Jelineks Texten, daß das historische Ereignis, auch wenn es im Augenblick siegreich strahlt, seinerseits Geschichte hat. Und die ist im Fall der Theaterschriftstellerin Jelinek niederschmetternd. Nur die Autorin und ihre Freunde haben noch eine lebendige Erinnerung an die vielen Jahre, in denen es zu den Selbstverständlichkeiten der Welt zählte, Jelineks Stücke nicht zu spielen.

Man nannte auch einen Grund, und es ist derselbe, aus dem sie heutzutage gespielt werden. Er lautet: Die Texte sind unspielbar. Deshalb werden sie heute gespielt, deshalb wurden sie früher nicht gespielt. So einfach und geistlos ist Theatergeschichte. Darüber, über Willkür und Kurzlebigkeit theatralischen Kunstgewerbes, braucht man sich nicht zu unterhalten. Sehr wohl über die Texte, über Literatur, über Kunst.

Kunst, die Darstellung der Welt, hat Grenzen zur Philosophie und Wissenschaft. Elfriede Jelineks unermüdliche Expeditionen in die Nachbarländer der Deutung und Forschung haben jedoch nichts mit Recherche zu tun, sie sind Momente der künstlerischen Arbeit selbst. Das macht Jelinek zur exemplarischen Autorin der ästhetischen Moderne, einer Moderne, die in der deutschsprachigen Literatur, traut man nicht dem Schein, sondern der Sache, nie großen Anwert hatte, schon gar nicht heutzutage, da deutsches Kriegsleid und deutsche Literatur nach fünfzigjähriger Verlobung endlich Hochzeit halten, eine Hochzeit, auf der die deutsche Kritik, indem sie mit der Ziehharmonika aufspielt, alles gibt, was sie noch hat.

Sich jahrzehntelang von der Schlammlawine des literarischen und politischen Kunstgewerbes nicht wegreißen zu lassen und sich ästhetisch, politisch und als Feministin dagegenzustellen, ist eine ans Übermenschliche grenzende Anstrengung Jelineks, eine Anstrengung, die ihre Gegner so viel Kraft gekostet hat, daß sie es nur mehr wagen, ihr mit der Dreckschleuder gerüstet zu begegnen.
 
Die Sache der ästhetischen Moderne, für die Elfriede Jelinek steht, befindet sich noch im Versuchsstadium und dieses erst am Beginn. Es gibt zwar in der deutschsprachigen Literatur zwei Vorläufer im 18. und 19. Jahrhundert, Goethe und Nestroy, im 20. Jahrhundert aber, in dem die Moderne angeblich auf der Tagesordnung stand, meldeten sich nicht viele zu Wort. Eine der großen Ausnahmen ist meiner Ansicht nach Karl Kraus, aber diese Ansicht würde nicht einmal er mit mir teilen, richtiger: er schon gar nicht, die großen Ausnahmen sind in jedem Fall Musil und Brecht.

Von ihren systematischen Expeditionen über die Grenzen der Kunst hinaus brachten sie jene Schätze mit, die es ihnen ermöglichten, nicht intellektuelle, sondern das Gegenteil: intelligente Literatur zu schreiben. Die Haltung beider ist experimentell in einer Weise, die mit dem Begriff des literarischen Experiments nicht mehr zu fassen ist. Bei Jelinek vertieft diese Haltung sich zu einer ästhetischen und politischen Radikalität, die jedoch, anders als bei den Altvorderen, auf  keine Gewißheit setzen, auf keine Hoffnung bauen kann, nicht auf den Fortschritt der Wissenschaft, nicht auf eine Klasse als historisches Subjekt, nicht auf eine Geschichte, die sich selbst an der Hand nimmt und ans Ziel führt.

Elfriede Jelinek stellt Versuche an, sprachliche, theoretische, wobei unter anderem an den Tag kommt, daß die Gesellschaft schlecht eingerichtet ist. Menschen deformieren das Gemeinwesen, bis dessen Wesen sich als gemein erweist, dieses gemeine Wesen wiederum verunstaltet Menschen zu Bürgern, kleinen, großen. Im Angesicht solcher Welt greift die vorurteilslose Autorin zu dem Vorurteil, das Bestehende nicht zu akzeptieren. Daß Menschen von den Verhältnissen als dessen lächerliche Anhängsel weggeschoben werden, könnte man, wäre man deformiert genug, begrüßen und als Zynismus verscherbeln. Solche Salonkritik, die das Negative parfümiert, damit das Publikum erregt daran schnüffelt, hat Jelinek immer angewidert. Ebenso die Rückseite der Medaille, der Terror des Positiven. Das Idealbild, wie der Mensch, wie die Welt sein müssen, sucht man bei Jelinek vergebens.     

Sie stellt in ihren Texten das Schlechte an den Zuständen dar, aber so, und darin ist Elfriede Jelinek unübertroffene Meisterin, daß das falsche, abgestorbene Leben noch einmal lebendig wird. Das Falsche vollkommen, geradezu in seiner Vollkommenheit zu erfassen, das ist, vermutlich nicht nur heute, das einzige, was sich über das Richtige, das möglich wäre, sagen und zeigen läßt. Von dieser Dialektik werden Jelineks Texte wie von einer Furie angetrieben, angefeuert noch von einem Sprachspiel, das wie jedes Spiel unbeschwert daherkommt, den Oberflächensinn der Sprache bezirzt, wenn es sein muß mit Unsinn, um den Wörtern und Dingen den Hintersinn zu entlocken.
 
Die List der Vernunft ist alt und faul geworden, und so hat Elfriede Jelinek etwas Neues entdeckt: den Witz der Vernunft. Die Rede ist von jenem Witz, der, wohnhaft in unerreichbarer Entfernung vom Humor, sich für die Waffenlosen als Waffe bereithält, damit sie nicht wehrlos sind, kurzum, die Rede ist von der Jelinekschen Art der Aufklärung: heilsam verletzend, unerbittlich hoffnungslos, unbarmherzig zuversichtlich. Dämonisieren gilt dieser Aufklärung als Verharmlosen und umgekehrt, demgemäß sollte, wer es schon nicht schafft, kritisch vom Kapitalismus zu sprechen, ihn nicht als Globalisierung verniedlichen.

Das Spiel mit der Sprache ist für Jelinek der Weg, der zum Theaterspielen führt. Im Weg stand ihr allerdings die Einsicht, daß der Mensch, von der Propaganda in den Mittelpunkt gestellt, in der Realität  immer weniger Rolle spielt. Das Theater antwortet darauf immer noch mit dem Rollenspiel. Wird der ausgebeutete, ja selbst der ausgelöschte Mensch auf der Bühne gezeigt, dann als jemand, der eine Rolle spielt.

Elfriede Jelinek reagiert darauf in ihren konsequentesten Stücken so, daß im Text, als wäre das Verhängnis bereits unwiderruflich, keine Rollen mehr existieren. Das wenigstens müßte man begreifen, will man Jelinek nicht irgendwie, sondern angemessen spielen. Ihre Stücke sind aber auch eine Reaktion auf ein Theater, in dem lebende Autoren kaum vorkommen, weil Regisseure damit beschäftigt sind, tote Autoren umzuschreiben. Der Wut des Regisseurs, nicht Autor zu sein, begegnet die Autorin, indem sie ihm rollenlose Stücke hinwirft, für die, um sie spielen zu können, der Regisseur tatsächlich Autorenarbeit leisten müßte. Für so viel Konfusion am Theater gesorgt zu haben, dafür gebührt Elfriede Jelinek Dank.

 

„Theater heute“, Berlin, Juni 2002