Jahrmarkt der Finanzen
Die Kritische Theorie lehrt, daß bürgerliche Aufklärung, da sie sich weigert, den Mythos als Aufklärung zu begreifen, selbst in den Mythos zurückfällt. Keine Begriffsstutzigkeit kommt die Welt so teuer zu stehen wie diese. Sie hat statt aufklärerischer Erhellung demagogische Verdunkelung zur Folge. Den Mythos nicht als Aufklärung zu akzeptieren ist selbstzerstörerisch. Denn von allen Formen der Aufklärung, welche die Menschheitsgeschichte kennt, ist der Mythos nicht nur notwendig, er ist lebensnotwendig.
Ohne die Welt mythologisch, als Götterwelt, zu deuten, hätte der Mensch nicht existieren können. In der Frühzeit wurde er von der Natur dermaßen bedroht, daß er sich, um nicht dem Wahnsinn anheimzufallen, den Schrecken erklären mußte. Er gab ihm Namen und Gestalt. Die war der menschlichen Gestalt ähnlich, sie mußte aber mächtiger sein: eine Göttin oder ein Gott, dem Menschen ähnlich und unähnlich zugleich. Der Blitz, der vom Himmel niederfährt, nun aber Donnergott heißt, verliert den absoluten Schrecken. Aufklärung ist geglückt.
Der Mythos ist eine Welterklärung, die den Zweifel nicht kennt. Naturkräfte sind nicht beeinflußbar, an ihrer Gewalt zu zweifeln wäre lächerlich. Naturgewalten als Götter darzustellen macht die Welt verständlich, das Leben freudvoll. Der Mythos als Weltordnung, dem Zweifel fremd ist – das soll Aufklärung sein, fragen die Nachgeborenen hämisch. Und sie gebärden sich als Aufklärer, welche den Beginn aller Aufklärung, den Mythos, verachten, nicht um Aufklärung als befriedetes Leben gesellschaftlich zu versuchen, sondern um sie insgesamt zu hintertreiben.
Der Mythos rächt sich für die Verhöhnung. Er kehrt wieder, als Spottgestalt: als eine Aufklärung, die alles im Unklaren läßt. Der Mythos, der einst half, den Schrecken zu bannen, versetzt nun die Menschheit in Angst und Schrecken. Statt der Götter, welche der Mensch geschaffen hat, bevölkern Institutionen die Welt, die sich als Götter gerieren. Sie tragen zwar Namen, aber was sich hinter diesen verbirgt, bleibt im Dunkeln. Die Institutionen sprechen gebetsmühlenhaft. Die Angesprochenen stimmen in die Leier ein.
Und so hört man weltweit das Raunen: Finanzmärkte, Ratingagenturen, Banken, Zentralbanken, Börsen, Währungsfonds. Diese leben zwar oben im Olymp, doch anders als die alten Götter bringen sie nicht Ordnung in die Welt, sondern Chaos. Spräche sich das herum, wären sie bald gestürzt. Deshalb nennen sie das Chaos die neue, liberale Weltordnung und werden dafür bewundert.
Die Untergötter heißen Investoren und Spekulanten. Sie dürfen nicht nur bewundert, sie müssen auch gehaßt werden, damit die Obergötter sich glänzend von ihnen abheben. Die Untergötter machen die Drecksarbeit, die darin besteht, daß sie nicht arbeiten, den Menschen aber immer mehr Arbeit aufhalsen. Denn die Wirtschaft muß wachsen, sonst haben die Investoren nichts zu investieren, die Spekulanten nichts zu spekulieren.
Was im antiken Mythos das Unheil war, ist heute die Wirtschaft. Wußte man damals, daß es galt, das Unheil einzudämmen, meint man heute, die Wirtschaft müsse ungehemmt wüten. Der totale Krieg, Inbegriff des faschistischen Zerstörungs- und Selbstzerstörungswahns, setzt sich fort in der totalen Wirtschaft. Der Mythos tat, was er konnte, um das Entsetzliche zurückzudrängen. Die Neomythologie im Gewand bürgerlicher Aufklärung tut alles, um den Vernichtungswahn als normal zu etablieren.
Die Dinge werden neu benannt. Die Gesellschaft heißt fortan Leistungsgesellschaft, das Individuum Leistungsträger. Da diese Verunglimpfung hingenommen wird, ohne daß die Menschen sich erheben, gibt es für die bürgerliche Aufklärung, die nun in Barbarei umschlägt, kein Halten mehr. Wieder ist die Chance vorhanden, das Individum zu liquidieren.
In der Renaissance hat man, gestützt auf die Antike, das Wagnis unternommen, das Individuum vor den Institutionen, der geistlichen und weltlichen Herrschaft, zu retten. Zum Teil war es eine gesellschaftliche, im wesentlichen blieb es eine ästhetische Anstrengung. Mit der Renaissance begann die Moderne. Es war der Anfang endloser Niederlagen.
Die Renaissance ging in Religionskriegen unter, als deren Sieger die Gegenreformation triumphierte, die der Welt den Barock aufzwang: Stil als Gewalt. Die Französische Revolution wurde auf dem Wiener Kongreß geschlachtet, zerlegt und an die alten Mächte verkauft, die Pariser Kommune wurde in Grund und Boden geschossen, und die Oktoberrevolution, aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen, suchte in dem Berg von Millionen Toten des Zweiten Weltkriegs ihren revolutionären Ursprung. Sie fand ihn nicht.
Revolution und Aufstand, Kritik und Opposition immer wieder niederzuschlagen strengt an, deshalb ist es seit je der Traum der herrschenden Klassen, ein für allemal Ruhe zu schaffen, die Geschichte zum Stehen zu bringen. Die Sehnsucht nach dem Stillstand - das ist seit zwanzig Jahren die vorherrschende Stimmung. Die Vielfalt der Meinungen besteht in der einen, daß es keine Alternative zum Bestehenden gibt. Parallel dazu, das gehört zum abgekarteten Spiel, werden Reformen verlangt.
Diese Strategie, Veränderung nicht zuzulassen, aber nach ihr zu rufen, formt das gesellschaftliche Bewußtsein, also auch das politische, wissenschaftliche, künstlerische. Überall wird Veränderung verlangt, vorausgesetzt, daß sich nichts ändert. Die Gesellschaft erstickt an der Restauration eines Kapitalismus, der nach 1945 in Westeuropa nur mehr geduldeter Gast eines sozial ausgerichteten Gemeinwesens zu sein schien.
Was man duldet, hat man später zu erdulden. Der Kapitalismus kam mit dem Faschismus bestens aus. Um das zu kaschieren, tat er nach dem Zweiten Weltkrieg alles, um demokratisch und sozial zu erscheinen. Darüber geriet in Vergessenheit, daß das Kapital seiner Natur nach totalitär ist. Früher oder später zerstört es den Sozialstaat und legt die Demokratie lahm, indem es die veröffentlichte Meinung, die Medien, in seinen Besitz bringt.
Die Untergötter, Investoren und Spekulanten, schicken das Geld in die Arbeit, wo es Kapital wird. Wenn der Markt vor lauter Kapital überquillt und die Möglichkeit, es zu veranlagen, schrumpft, der Wert also nicht mehr verwertbar ist, kommt es zur Krise. Was die Akteure aber nicht veranlaßt, sich beschämt zurückzuziehen und einige Jahre in einem Meditationszentrum Urlaub zu machen. Marktgesetz ist Marktgesetz. Also muß weiter veranlagt werden, und wenn keine Anlagemöglichkeiten mehr vorhanden sind, müssen welche erfunden werden. Der Markt wird zum Jahrmarkt, die Vollstrecker des Marktgesetzes zu Schaustellern.
Während eine Ehekrise im günstigen Fall mit einer Scheidung endet, wird bestritten, daß es diese Möglichkeit in einer Wirtschaftskrise gibt: daß man sich von den Pseudogöttern der Finanzindustrie, die sich als Schausteller erwiesen haben, scheiden läßt. Stattdessen wird die Krise selbst mythologisiert. Bannte der alte Mythos den Schrecken, verbreitet der neue Mythos Angst. Sie nistet sich so tief in die Gesellschaft ein, als hätte sie schon immer dorthin gehört.
Die Menschen in jener Ersten Welt, in der die Finanzmacht sich zuammenballt, sind Opfer einer Finanzkrise, deren Ursache jenseits ihrer Erfahrung liegt. Kein Krieg hat stattgefunden, keine Naturkatastrophe ist hereingebrochen, man ist wie immer zur Arbeit gegangen, sofern man eine hatte, willfährig hat man eingekauft, was Supermärkte und Kaufhausketten angeboten haben.
Und plötzlich wird einem gesagt, man befinde sich in einer Wirtschaftskrise. Die trete weltweit auf und habe teuflische Züge. Sie treffe zuerst die Reichsten, die Banken. Weshalb man zusammenstehen müsse, alle Schichten und Klassen, die Ärmsten nicht ausgenommen, um die Banken zu retten. Im andern Fall würden alle miteinander untergehen.
Eine Bevölkerung, die sich dermaßen verarschen läßt, verliert sogar das Bedürfnis nach Selbsterhaltung. Wenn die Lohnempfänger der Propaganda aufsitzen, sie würden verarmen, wenn sie nicht zugunsten der Reichen Verzicht üben, hat die bürgerliche Aufklärung gewonnen und die Barbarei die Herrschaft übernommen. Ausbeutung wird zur Ausplünderung und Existenzvernichtung.
Die Gewerkschaft, die dem nichts entgegenstellt, bekommt in Österteich bereits die Rechnung präsentiert. Eine nationale Partei fordert die Abschaffung der Gewerkschaft. Zu sagen, das sei nationalsozialistisch, ist richtig und falsch zugleich.
Europa, bislang das Labor der Weltgeschichte - diese Zeiten sind allerdings vorbei -, ist das Dorado der Nationalstaaten. Den europäischen Staaten - die meisten sind Mitglieder der Europäischen Union - vorzuwerfen, sie gerieten immer stärker unter den Einfluß nationalistischer, rechtsextremer Parteien, ist insofern lächerlich, als der Nationalstaat keinen höheren Wert kennt als den Nationalismus.
Das trifft auch auf das Kapital zu, dem zwar zu Recht internationale Ambitionen nachgesagt werden, das aber seine Konkurrenzkämpfe von nationalem Boden aus führt. Deutschland gewinnt gerade den Krieg, der ein Finanzkrieg ist, gegen Frankreich. Dort ist es nicht gelungen, die Löhne so zu drücken wie in Deutschland, so daß man vor den deutschen Exporten kapituliert. In seiner Verzweiflung stürzt Frankreich sich in einen Krieg gegen Libyen, den es zwar nicht gewinnt, aber zum Gaudium Deutschlands führen muß, ohne ihn bezahlen zu können. So sehen die Helden der Europäischen Union aus.
Der Nationalstaat war für das Bürgertum der Hebel, mit dem es den Feudalismus kippte. Politische Macht, Freiheit, das alles verdankt es dem Nationalstaat. Er ist der Gott des Bürgers, das Geld dessen Religion. Die Nation ist außerdem ein gnädiger Gott. Sie ist für alle da. Hat einer sonst nichts, hatte er früher den Gott im Himmel, nun hat er die Nation auf Erden.
Im Nationalstaat ist jeder mehr, als er ist. Denn eine Nation existiert dadurch, daß sie sich gegen andere Nationen abgrenzt, insbesondere gegen benachbarte. Fühlt eine sich stark genug, führt sie gegen die anderen Krieg, gestern einen konventionellen, heute einen Finanzkrieg. Haß und Verachtung nach außen, gegen die jeweils andere Nation und gegen alles Fremde, spiegeln Verblödung und Verrohung im Inneren.
Die Europäische Union, die mit der Lüge antrat, ein Friedensprojekt zu sein, nützt den politischen Stillstand, indem sie sich daran ergötzt, wie die stärkeren Nationen die schwächeren vernichten und demütigen. Die Sieger verlangen, als Wohltäter gefeiert zu werden.
Diese politisch-ökonomische Perversität findet ihre Entsprechung im geistig-kulturellen Leben. Stillstand dort, Rückschritt hier. Der künstlerische Fortschritt beschäftigt sich mit der Vergangenheit. Die Untaten der Nazis und der Kommunisten sind Beweis für die untadelige Gegenwart. Die allerdings nur in musealer Form existiert. Keine Stadt in Österreich ohne Festspiele, kein Dorf ohne Symposion. Das beliebteste Areal in Wien heißt Museumsquartier.
Wenige Meter weiter steht das Parlamentsgebäude, eine Orgie baukünstlerischer Geschmacklosigkeit und falscher Symbolik: eine griechische Göttin vor einem griechischen Tempel an der Wiener Ringstraße. Der Ort der griechischen Demokratie war jedoch die Agora, der Marktplatz.
Nun, da das Parlamentsgebäudegebäude baufällig ist, könnte man es abreißen und durch eine elegante Halle aus Wellblech ersetzen. Das wäre der Beginn einer neuen Renaissance.
„Die Presse, Spectrum“, Wien, 20. 8. 2011
„Konkret“, Hamburg, September 2011