Die Fetzen fliegen nicht mehr
Interview über das Erscheinen des Romans „Charly Traktor“ vor 40 Jahren, Sprachkunst und Klassenkampf, Liebe,Kapitalismus und Antikommunismus, Österreich, die EU und konspirative Treffen ohne Wein
Frage: Vor 40 Jahren ist Ihr erster Roman, „Charly Traktor“, erschienen. Inwieweit setzen Sie sich mit Ihren frühen Werken noch auseinander? Lesen Sie diese erneut?
Antwort: Ich lese meine früheren Werke nicht, ich habe sie aber, insbesondere den „Charly Traktor“,
in guter Erinnerung. Ich lese sie deshalb nicht, weil Lesen für mich eine Art des Schreibens ist, also Arbeit. Lese ich einen bereits publizierten Text, ist sofort der Wunsch vorhanden, an dem Text zu arbeiten, ihn besser zu machen. Ich käme nicht zu neuer Produktion. Lese ich Texte anderer, stellt sich sogleich die Frage, ob ich von diesen Texten etwas lernen kann. Die Folge ist, daß ich wenig lese.
A: Wenn Sie wenig lesen – was lesen Sie?
F: Ich lese immer wieder Karl Kraus. Warum? Literatur als Kunst gibt es noch nicht lange. Musik als Kunst gibt es seit der Wiener Klassik. Seit jenen Streichquartetten Mozarts, die er Haydn gewidmet hat, besteht ein Vorrang der Komposition vor dem Musizieren. Ein Meister gibt sein Bestes im Wissen, daß es einen anderen Meister gibt, der diese Arbeit versteht. Malerei als Kunst hat damals schon seit zwei Jahrhunderten existiert. Literatur als Kunst gibt es erst viel später, seit Karl Kraus.
Mit dessen Dritter Walpurgisnacht beginnt Literatur als Sprachkunst, der Vorrang der Sprachkomposition vor dem Schreiben. Die Gattungen werden irrelevant. Es gibt nur eine literarische Form, den Satz. Ein mißglückter Satz, und das ganze Werk ist mißglückt. Kurzum, ich lese Kraus und den von ihm verehrten Meister, also Nestroy. Und ich lese Musil, der intelligente Literatur verlangt, und ich lese Brecht, dessen unvergleichlich kämpferisches Werk. Nochmals: Lesen heißt für mich lernen.
F: Ich greife das Wort „kämpferisch“ auf. Charly Traktor kämpft im Betrieb, Handlungsorte des Romans sind Fabriken, Betriebsversammlungen, Wirtshäuser. Die „Komödie des Alterns“ dreht sich um eine sozialistische Farm in der Wüste, konkrete Klassenkämpfe spielen kaum eine Rolle. Findet hier eine Verlagerung ins Utopische statt?
A: Ich habe mich schlampig ausgedrückt. Brecht spricht ausdrücklich vom kämpferischen Realismus als Widerpart zum bürgerlichen. Der kämpferische Realismus ist nicht nur antibürgerlich, er ist antikapitalistisch. Er ist, anders als der bürgerliche Realismus, vorwärtsgerichtet, auch ästhetisch. Kunst ist die Darstellung der Welt, die Frage ist, w i e die Welt vom Künstler dargestellt wird, fortschrittlich oder reaktionär. Kunst ist immer politisch und nie utopisch. Einzig im Wie, in der Formfrage, liegt ein Moment des Utopischen.
Charly Traktor, ein Hilfsarbeiter, ungebildet, noch dazu aus der Provinz, ist mehr Rebell als Revolutionär. Er haut alles, was ihm in den Weg kommt, kurz und klein. Und er geht daran n i c h t zugrunde. Denn damals, Anfang der siebziger Jahre, steckte die Konterrevolution, die auf 1968 folgte, noch in den Kinderschuhen, die Kämpfe und die Solidarität in den Betrieben waren noch nicht erstickt. Ganz anders die Situation in der „Komödie des Alterns“. Sie spielt in unseren Tagen, die Konterrevolution steht im Zenit, die Personen des Romans weichen in die ägyptische Wüste aus, um eine Farm zu gründen, antibürgerlich, antikapitalistisch. Die Produkte der Farm werden kapitalistisch vermarktet. Insofern kann es keine sozialistische Farm sein.
F: Also ein taktischer Rückzug in die Wüste bei gleichzeitigem Erproben neuer Formen des Zusammenlebens, der Produktion, bis die Bedingungen vorhanden sind, gegen die Konterrevolution wieder in die Offensive zu kommen?
A: Schön wär’s.
F: Einige Themen ziehen sich durch alle Ihre Romane – etwa Beziehungen zwischen Freunden und Liebenden, um die gegen die Zumutungen des kapitalistischen Alltags gekämpft werden muss. Immer wieder scheitern die Beziehungen Ihrer Protagonisten auch, zumindest vorübergehend. Ist Liebe und Freundschaft unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen überhaupt möglich?
A: Liebe und Freundschaft gehören zu jenen großen Gefühlen, bei denen die Vernunft eine große Rolle spielt. Wer nicht weiß, daß im Kapitalismus Liebesverhältnisse den Besitzverhältnissen und Gefühlsbeziehungen den Warenbeziehungen nachgebildet sind, dem bleiben die Freuden der Aufklärung verschlossen. Wer es weiß, wird dadurch nicht glücklich. Denn das Wissen um die Verdinglichung befreit nicht von ihr. Aber, und das ist entscheidend, dieses Wissen macht widerstandsfähig. Insofern sind Liebe und Freundschaft nicht nur möglich, sondern auch notwendig. Ohne sie verkümmert der Widerstand zum Reformwillen. Andrerseits: ohne Widerstand gegen das Bestehende vertrocknet die Liebe zur Beziehung, die Freundschaft zur Nachbarschaftshilfe. In der Liebe sind außerdem die Idee der Kunst und die Idee der Revolution eingekapselt.
F: Die Idee der Revolution wurde von bürgerlichen Kommentatoren spätestens 1991 für tot erklärt. Ein Ergebnis der gegenwärtigen Krise ist, dass wieder über Kapitalismus geredet wird und Kapitalismus-Kritik bis in die Feuilletons der großen Zeitungen vorgedrungen ist. Haben sich die Voraussetzungen für die Arbeit eines linken Schriftstellers während der letzten Jahre verändert?
A: Wer K a p i t a l i s m u s sagt, dem wird unterstellt, er sei gegen den Kapitalismus, es sei denn, er betont das Gegenteil. Die Folge der Heuchelei ist Scheinkritik. Das ist die Kloake, aus der die Kapitalismuskritik entsteigen muß. Daß solche Kritik das Ziel hat, das bestehende System zu stürzen, weil es sich endgültig als unbrauchbar, unmenschlich, unproduktiv und verbrecherisch erwiesen hat, wird vergessen. Man bleibt lieber in der Kloake stecken und rät dem Kapitalismus, sich zu bessern. Das ist der Stand heutiger Kapitalismuskritik. Eine herrlicher Zustand: Ein System ist am Ende, es wird nur noch von seinen Kritikern am Leben erhalten: Für einen linken Schriftsteller eine ideale Situation, zumal in meinem Alter. Für Heiterkeit ist gesorgt.
F: Bringt es das Alter mit sich, der Realität mit mehr Heiterkeit begegnen zu können?
A: Nein.
F: Dennoch: Gerade Ihre polemischen Essays laden dazu ein, den Herrschenden auch mal ins Gesicht zu lachen.
A: Die Fetzen fliegen nicht mehr, die Oberen haben gesiegt. Das Leichentuch wird über die Gesellschaft gebreitet, damit man nicht sieht, daß die Unteren im Todeskampf liegen. Sie sind nicht tot, man braucht sie noch zwecks Ausbeutung, aber sie können nicht mehr kämpfen, und dafür werden sie von den Siegern auch noch verachtet. Das ist, was die materiellen Verhältnisse anlangt, grausam. Im Bereich der Kultur wirkt das komisch. Die einzige geistige Frage, die das Establishment beschäftigt, lautet: Wie kann man die geknechteten Menschen so verblöden, daß sie nie wieder eine geistige Regung von sich geben? In der Art allerdings, wie das Establishment die Leute vertrottelt, gibt es die eigene Trottelhaftigkeit preis. Das ist selbst dann zum Lachen, wenn es nichts mehr zu lachen gibt. Nebenbei: Das österreichische Radio meldete dieser Tage, daß in Wien ein Literaturmuseum eingerichtet wird. Viel war die Rede vom Aufbruch der österreichischen Literatur in den siebziger Jahren. Nun bemüht sich sogar der Staat selbst um deren Abbruch und sperrt die Literatur ins Museum. Ist auch höchste Zeit.
F: Ist es um die Literatur anderswo besser bestellt?
A: O ja, im Schlaraffenland. Dort wird jemand, der einem Schriftsteller eine solche Frage stellt, ins Land der Frau Holle geschickt, wo ihm alle Fragen beantwortet werden, nur die eine nicht, warum er drei Jahre umsonst für Frau Holle arbeiten muß.
F: Dann lieber schnell weg aus dem Schlaraffenland, zurück nach Europa. Kürzlich veröffentlichten Sie in einem Essay einen Abgesang auf die EU. Zur gleichen Zeit feierten Politiker und Mainstream-Medien den EU-Beitritt Kroatiens, als gäbe es nirgendwo eine Krise. Wie erklären Sie sich die beinahe ungebrochene EU-Ideologie nicht zuletzt bei sogenannten linksliberalen Intellektuellen und Kommentatoren?
A: Die EU war ein Experiment mit ungewissem Ausgang. Das Ziel bestand darin, in Europa alle Reste von sozialistischen und sozialen Verhältnissen auszumerzen. Ob das gelingt, war nicht klar. Die weltpolitische Konstellation war jedenfalls ideal. Wenn das europäische Kapital, angeführt vom deutschen, diese Gelegenheit - den Zusammenbruch der Sowjetunion - nicht genutzt hätte, wäre es nicht das Kapital, sondern eine Wohlfahrtseinrichtung. Ein Name, unter dem das Unternehmen lief, war rasch gefunden: Frieden. Die EU als Friedensprojekt. Mitten im Frieden sich für den Frieden stark zu machen, dafür konnte man die Intellektuellen leicht gewinnen. Sich für etwas einzusetzen, das es ohnedies gab, war eine geistige Leistung nach ihrem Geschmack.
Dann löste das Kapital den Finanzkrieg aus. Der Ausgang war ungewiß. Denn die Wirtschaftskrise, die dem Finanzkrieg folgen mußte, hätte die Betroffenen veranlassen können, das Kapital mitsamt seiner EU anzugreifen und zu stürzen. Das fand nicht statt. Auch dieses Experiment ging gut aus. Die Wirtschaftskrise erwies sich sogar als Segen. Man lebt in der EU in tiefem Frieden und in tiefer Krise. Dieser Zustand soll zum Dauerzustand werden. Die Gesellschaft erstarrt in Ehrfurcht vor dem Frieden und in Furcht vor der Krise. Der Intellektuelle ist zum Spachrohr der Erstarrung geworden.
F: Was bleibt für den Einzelnen angesichts dessen zu tun? Sich in eine antikapitalistische Farm in der Wüste zurückzuziehen ist wohl nur für die wenigsten eine Option. Die organisierte Linke in Mitteleuropa liegt nach wie vor auf dem Boden oder ist mit sich selbst beschäftigt. Vielleicht doch mal zumindest wieder die Stechuhr kaputtschlagen wie Charly Traktor?
A: Der Frage, was für die einzelne, den einzelnen zu tun ist, geht die Frage voraus, ob es sich bei dem einzelnen um ein bürgerliches Arschloch handelt oder um einen kommunistischen Aktivisten. Die Kommunistin, der Kommunist arbeitet politisch dort, wo die Arbeit ihn hinverschlägt. Das ist bei Charly Traktor so, das ist in dem Roman „Komödie des Alterns“ nicht wesentlich anders. Wer den Roman gelesen hat, weiß, daß kein Mensch sich in eine Farm in der Wüste zurückzieht, sondern daß ein Ägypter mit seinem österreichischen Freund in die ägyptische Wüste geht, Wasser findet und mit viel Mühe eine Farm aufbaut. So wie der kommunistische Schriftsteller dort, wo er lebt und arbeitet, die Kollegenschaft organisiert, und zwar nicht, um am Schreibtisch Revolution zu spielen, sondern um die Produktionsbedingungen der Schriftsteller zu verbessern. In den siebziger Jahren haben wir mit dem Arbeitskreis der Literaturproduzenten einen Anfang gemacht. Wenn wir ihn nun noch einmal machen, sind wir schon ein Stück weiter.
F: Der kommunistische Aktivist in Österreich ist mit einem Antikommunismus konfrontiert, der umso aggressiver zu werden schien, je marginalisierter die immer schon kleine kommunistische Bewegung des Landes wurde. Hat Österreich sich je vom Brecht-Boykott erholt?
A: Der Antikommunismus in Österreich hatte gute Gründe. So wie man Aufführungen von Brecht verboten hatte, hätte man gern auch die KPÖ verboten. Doch das war nicht möglich. Die KPÖ war Mitbegründerin der Zweiten Republik. Das hatte zu tun mit der Präsenz sowjetischer Soldaten in Österreich. Dieses Land war wegen seiner Lage eines der Weltzentren des Kalten Krieges, es grenzte an drei sozialistische Staaten. Der Antikommunismus, anderswo Pflicht, wurde im neutralen Österreich zur politischen Leidenschaft. Mit der Folge, daß das geistige Leben nur aus Propaganda bestand. Schule, Universität, Politik, Medien, sie alle lebten von ein paar reaktionären Phrasen. Statt Führer, Krieg und Völkermord hielten sie nun Freiheit und Demokratie hoch. Die geistige Leere fand Ausdruck in vertrottelten Visagen. Auf diese Weise schuf der Antikommunismus den neuen österreichischen Menschen.
Dieser Mensch zeigt sich aber erst jetzt, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges, in seiner ganzen Pracht. Das mitanzusehen, das zu erleben, gehört für mich zu den Freuden des Alters. In Österreich ist der Antikommunismus nach wie vor die einzige Ideologie, auch jetzt, da es keinen kommunistischen Feind mehr gibt. Wenn die gesamte ideologische Anstrengung eines Landes gegen Nichts und ins Nichts gerichtet ist, wirkt das selbstzerströrerisch. Man schlägt auf etwas ein, das nicht vorhanden ist – was für eine Vergeudung von Kraft! Die Folge ist Verbitterung. Die vertrottelten Visagen wirken zunehmend haßerfüllt.
Der autoritäre Charakter, in Österreich zu Hause wie nirgendwo sonst, jubelt über jede autoritäre Bevormundung. Er treibt die Dinge in Richtung demokratischen Faschismus und ist insofern vorbildlich für die EU. Womit man sich nicht abfinden kann: daß Brüssel in Belgien liegt und nicht in Österreich. Das alte Zentrum Wien als neues Menschheitsgeschwür. Der schwache Trost: Berlin hat Brüssel als Hauptstadt der EU abgelöst.
Wenn man sich und anderen predigt, daß es zur bürgerlich-kapitalistischen Herrschaft keine Alternative gibt, und wenn man dann sieht, wie dieses System zerfällt, steht man ohne Alternative da. Das ist bitter. Das ist die Stunde der Kommunisten.
F: Einstweilen scheinen die Herrschenden aber doch noch einige Tricks auf Lager zu haben. In Österreich lenken etwa Scheinalternativen zu den etablierten Parteien derzeit noch von der Krise des Systems ab. Und eine Lieblingsfigur des Österreichers – der Milliardärs-Onkel, der schon alles richten wird – ruft derzeit in Gestalt eines Dietrich Mateschitz oder Frank Stronach bei nicht wenigen Begeisterung hervor. Was bedeutet das, wenn etwa Letzterer bei Wahlen auf Anhieb bis zu elf Prozent der Stimmen abräumt?
A: Das bedeutet nichts. Genauer: Das bedeutet nur, daß Politik an Bedeutung verliert. Wenn eine der beiden Seiten glaubt, den Klassenkampf endgültig für sich entschieden zu haben, kommt nur mehr so viel Politik zum Einsatz, wie zum Machterhalt nötig ist. Politik wird Teil der Unterhaltungsindustrie, der Politiker zum Wurstel. Früher hat man den Politiker eine Charaktermaske genannt, die vom Gemeinwohl faselt und fürs Kapital arbeitet. Diese Maske aufzusetzen ist nicht mehr notwendig. Der Politiker sitzt seine Amtszeit ungeduldig ab und geht dann in die Leitung eines Unternehmens, wo er endlich ordentlich verdient. Früher schickte das Kapital jenes Personal, das fürs Geschäft nicht taugte, in die Politik. Jetzt schickt es ein Personal in die Politik, das auch für die Politik nicht taugt.
Wenn Politik keine Rolle spielt, kann man sich das leisten. Das wird sich ändern, wenn es wieder gesellschaftliche Auseinandersetzungen gibt. Bis dahin ist Politik für gelangweilte Milliardäre ein lustiger Zeitvertreib. Es ist egal, ob sie sich einen Rennstall kaufen oder eine politische Partei. Kein Grund zur moralischen Empörung. Die Käuflichkeit der Welt ist ein historischer Fortschritt. Das Dumme ist nur, daß andere sie schon gekauft haben, wenn wir kommen und auch was von der Welt haben wollen. Dann wird der Handel zum Raufhandel.
F: Im Ausland werden vor allem Wahlerfolge der FPÖ beobachtet und kommentiert. Wie beurteilen Sie den Stellenwert bzw. die Funktion von Jörg Haider früher oder Heinz-Christian Strache heute innerhalb der österreichischen Politik?
A: Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in Österreich Versorgungsprobleme. Eines war: Wie versorgt man die vielen Nazis so, daß es ihnen in der Zweiten Republik nicht schlechter geht als im Dritten Reich. Die beiden Großparteien ÖVP und SPÖ waren nicht groß genug, um alle Nazis aufnehmen zu können, also gründeten sie eine eigene Partei. Um klarzustellen, daß ihr nichts verhaßter ist als die Freiheit, nannte sie sich freiheitlich. FPÖ. Sie hatte alle Eigenschaften einer Nazi-Partei, sie war deutschnational, antisemitisch, autoritär, und sie wurde vom Kapital verhätschelt. Der Deutschnationalismus blieb abstrakt, Hoffnung auf den ersehnten Anschluß an Deutschland konnte man sich im Kalten Krieg nicht machen. Entsprechend klein und leise blieb die Partei.
Bis Kanzler Kreisky sie entdeckte. Er ließ seine erste Regierung, eine Minderheitsregierung, von der FPÖ unterstützen. Dafür bekam sie dank einer Wahlrechtsreform mehr Stimmen. Kreisky machte die alten Nazis salonfähig. Er stärkte die FPÖ in der Hoffnung, die ÖVP zu schwächen. Eine gestärkte FPÖ, eine geschwächte ÖVP, und vor diesen beiden bürgerlichen Parteien uneinholbar an der Spitze die SPÖ. Das vernünftige Kalkül wurde von der List der Vernunft blamiert. Bald taten sich FPÖ und ÖVP zusammen und bildeten die erste Bürger-Regierung der Zweiten Republik, eine Regierung, die man insofern nicht loswird, als die Gerichte sich noch immer mit ihr beschäftigen.
Die Stunde Haiders kam mit Österreichs Beitritt zur EU. An einen Anschluß an Deutschland war nicht mehr zu denken. Der Deutschnationalismus wurde aufgegeben, nicht aber der Nationalismus. Die FPÖ erfand den Österreich-Nationalismus. Die junge österreichische Nation hat dank der Partei der alten Nazis ihren eigenen Nationalismus. Nun erst wird die FPÖ stark. Sie hat ein Fünftel der Stimmen, manchmal mehr, die alten Großparteien je ein Viertel. Man ist für das Bestehende und gegen die Altparteien, Inbegriff des Bestehenden. Man ist für die Wirtschaft und gegen die Ausländer, welche die Wirtschaft in Gang halten. Die reaktionären Medien lieben die FPÖ, die liberalen leben von ihr. Die Unterhaltungsindustrie hat auch auf diesem Gebiet nichts mehr zu bieten.
F: Sie nehmen an dem, was man als „Literaturbetrieb“ bezeichnet, nur selten teil. Mit wem verkehren Sie, wenn nicht mit Schriftstellerkollegen?
A: Zum Literaturbetrieb habe ich keinen Kontakt mehr, nicht, weil er schlecht, sondern weil er langweilig ist. Ich trete öffentlich nicht mehr auf, um meine Arbeitskraft zu schonen. Ich treffe gern meine Töchter und meine Enkeltochter, meine Freundinnen und meine Freunde, darunter Schriftstellerinnen und Schriftsteller, darunter Genossinnen und Genossen von der KPÖ. Aber auch Leute, die mit der KPÖ nichts zu tun haben wollen – und umgekehrt. Die Rede ist von Extremisten. In meinen Schriften muß das Feuer des Extremismus lodern, anders kann ich es mir nicht erklären, daß immer wieder linke Extremisten die Begegnung mit mir suchen. Ich liebe diese Begegnungen. Sie sind streng konspirativ. Zettel im Postkasten, Straßenbahnhaltestelle, Transport in einem Kastenwagen mit verhängten Scheiben an einen unbekannten Ort. Man trifft nie mehr als vier Leute, meist zwei Männer und zwei Frauen.
Diese kleinen Gruppen haben meiner Ansicht nach keine Verbindung zueinander. Wozu auch, sie sind ein Zeichen der Zeit. Das Regime sagt: Veränderung kommt nicht in Frage. Also wollen sie es mit Gewalt versuchen. Mit Waffengewalt. Sie berufen sich auf den Februar 1934. Sie wollen wissen, was ich davon halte. Ich sage, daß die Gesellschaft unter guten Ratschlägen erstickt. Ich habe keinen und gebe keinen Rat. Das gefällt ihnen. Sie sind es gewohnt, daß man ihnen von Waffengewalt abrät. Dann wird man zurückgebracht zur Straßenbahnhaltestelle. Die Verköstigung ist leider schlecht. Es gibt keinen Wein. Man darf auch keinen mitbringen. Wo das noch hinführen wird!
Das Gespräch führte Simon Loidl
„Junge Welt“, Berlin, 28./29. 9. 2013