Michael Scharang

 

Februar 34 – ein Glücksfall


Was für ein Triumph, was für eine Heldentat. Im Februar 1934 greifen Arbeiter zu den Waffen. Sie kämpfen gegen den Faschismus, der seit einem Jahr auf Österreich lastet. Es ist ein heroischer Kampf; denn er setzt sich in scharfen Gegensatz zum Zug der Zeit. In Europa verkündet der Faschismus, daß seine Zeit gekommen ist. Dafür liefert er Tag für Tag schlagende Beweise.

Widerstand existiert nur an den äußersten Rändern. Im Norden, in Rußland, regieren die Sowjets. Im Süden, in Spanien, halten sich die Republikaner, doch die Faschisten werden gegen sie anrennen. In der Mitte Europas, in Deutschland, ist schon der Todfeind der Demokratie und des Sozialismus an der Macht. Er nennt sich, zynisch bereits in der Namensgebung, Nationalsozialismus.

Hitler, unterstützt von Mussolini, verhilft den spanischen Faschisten zum Sieg. Als strotzte der Bürgerkrieg nicht ohnedies von Greueln, nützt man die Intervention, um eine neue Technik zu erproben: den Krieg als Kriegsverbrechen. Gegen die Sowjetunion allerdings nützen Interventionen nichts, es bedarf eines Kriegs.
Der Feind, verteufelt als jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung, gewinnt mit seinen Verbündeten den Weltkrieg – zum Entsetzen der deutschen und österreichischen Herrenmenschen, die wenigstens dem Ausland als Unmenschen in Erinnerung bleiben.

Als am 12. Februar 1934 in Österreich der Kampf aufflammt, hat man in den Ländern rundum bereits aufgegeben. Die Welt ist schockiert, als Hitler die Macht ergreift, ohne daß der Gegner sich wehrt, ohne daß ein Schuß fällt. Die große deutsche Sozialdemokratie und die starke kommunistische Partei lassen sich abservieren, und das im Wissen, daß sie nicht in der Abwasch landen werden, sondern im Keller, wo, wie der Führer es angekündigt hat, die Köpfe rollen.

Die österreichische Linke hat 1934 zwei Gegner, das christlich-soziale Bürgertum und die heimischen Nazis.
Die österreichische Bourgeoisie, 1918 politisch am Boden, herrscht, den Nazis eifersüchtig nachstrebend, seit 1933 diktatorisch. Das ist in all den Jahrhunderten, die sie existiert, ihr erster Erfolg. Ein Jahr später, im Februar 1934, erreicht sie mit der Niederschlagung des Arbeiteraufstands den Gipfel ihrer kläglichen Entwicklung.

Die Geschichte des österreichischen Bürgertums ist trist. Jahrhundertelang wird es vom Feudalismus gedemütigt. Von der Aufklärung, der größten bürgerlichen Errungenschaft, hält man es gewaltsam fern, als wäre es unmündig, und begehrt es auf, wird es niederkartätscht. Schließlich erhebt es sich nicht mehr, vermodert im gesellschaftlichen Faulbett und wird zum Garanten immerwährender geistiger und politischer Kapitulation.

Die Liebedienerei bleibt nicht unbelohnt. Wer es in der Monarchie zum Unternehmer schafft, erhält einen Adelstitel, der Rest des Bürgertums wird in den Beamtenstand erhoben. Der Beamte, stolz darauf, seinem Unterdrücker dienen zu dürfen, ist für die Unterdrückung anderer wie geschaffen. Was dieserart an Selbsthaß aufgestaut wird, bricht sich in der Ersten Republik Bahn als Haß gegen die Linke, ein Haß, der nach alter Sitte auch einer gegen die Juden ist.

Der Austrofaschist empfindet sich als Krone der bürgerlichen Schöpfung. Der Bürger, auf den 1848 geschossen worden ist, kann nun selbst schießen lassen. Endlich verfügt er über Militär. Wie die revolutionären Bürger von 1848 mit ihren Gewehren gegenüber den schweren Waffen keine Chance gehabt haben, so unterliegen 1934 die revolutionären Arbeiter mit ihren Gewehren der Artillerie der Bürger.

Die Austrofaschisten bilden aber, anders als die Nazis, keine neue politische Kraft. Sie sind identisch mit der nach dem Ersten Weltkrieg weiterwirkenden christlich-sozialen Partei, die wirtschaftlich das Kapital vertritt, politisch das Bürgertum, aber ebenso hingebungsvoll auch Kirche und Monarchisten. Sie lösen das Parlament auf, beenden 15 Jahre demokratische Republik und etablieren als Konkurrenz zu den gottlosen Nazis einen klerikalen Faschismus.

Die katholische Gegenreformation, bis 1918 ein Unternehmen der Krone gegen die Bürger, wird nun zum Feldzug der Bürger gegen die Arbeiter. Aber auch gegen die Nazis. Die Austrofaschisten profitieren vom Industriekapitalismus, wollen aber eine Gesellschaft nach mittelalterlichem Vorbild aufbauen: nach Ständen. Sie stehen für das katholische Österreich und stellen sich gegen das überwiegend protestantische Deutschland.

Wie immer sind die, die für etwas stehen, die ersten, die gehen, wenn es gilt, für etwas einzustehen. Als Hitler 1938 in Österreich einmarschiert, haben die Austrofaschisten militärisch eine kleine, solide Chance, die schlecht ausgerüsteten Deutschen, deren stärkste Waffe die Präpotenz ist, in Scharmützel zu verstricken, eine Chance, in der große außenpolitische Möglichkeiten stecken. Doch sie ergreifen diese Chance nicht. Sie fürchten Hitler. Mehr noch fürchten sie die österreichischen Arbeiter. Mit denen gegen Hitler? Niemals.

Der Schock vom Februar 34 steckt den Austrofaschisten in den Knochen. Mit einem bewaffneten Arbeiteraufstand haben sie nicht gerechnet. Seither gelten die Arbeiter als unberechenbar. Berechenbar hingegen ist die sozialdemokratische Partei. Auch sie hat mit einem Aufstand nicht gerechnet. Sie schon gar nicht. Die Führung der Partei ist stolz auf die Parteidisziplin, die durchzusetzen den Hauptteil ihrer Tätigkeit ausmacht. Die Parteiführung bekommt Wind davon, daß ein Aufstand bevorsteht. Sie ist strikt dagegen. Der Aufstand findet trotzdem statt. Die Partei ist schockiert. Der Februar 34 - ein Glücksfall von Widersetzlichkeit.

Die österreichischen Nazis lachen sich angesichts des Bürgerkriegs ins Fäustchen. Ansonsten haben sie in Österreich vorerst keinen Grund zu lachen. Sie sind führerlos, ihr Landsmann Hitler hat in Deutschland zu tun. Die Aufgabe, die der Führer ihnen stellt, ist der Anschluß Österreichs an Deutschland. Erst dadurch wird der Führer ein Deutscher. Bis dahin rennen die Deutschen einem Ausländer nach. Allerdings zu Recht. Denn es gibt nichts, was so deutsch ist wie ein Österreicher, der einen Deutschen mimt.

Ein leicht verständliches, deshalb nicht weniger abstoßendes Phänomen sind die österreichischen Deutschnationalen. In der Monarchie brüsten sie sich, edle Opposition zu sein. Später, unter Hitler, stellen sie das noble Personal, das eher für die Planung als für die Durchführung der Verbrechen zuständig ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg kommt ihnen wieder ihr Hang zu Höherem zupaß, und sie verseuchen Österreich mit jenem unnachahmlichen Gebräu aus Rassismus, Stumpfsinn und Arroganz, das nur Burschenschaften zustandebringen.

Der Deutschnationalismus ist ein Produkt der Gegenreformation. Die Protestanten, unterdrückt von Kirche und Krone, sehen nicht nur ihren Glauben, sondern das Geistesleben insgesamt gefährdet. Den geistigen Aufschwung der bürgerlichen Aufklärung lehnen sie allerdings ab, denn der kratzt am Glauben. Und so phantasieren sie sich ein spirituelles Mittelalter zusammen, aus dessen Tiefen der nationale Wahn in schwindelerregende Höhe steigt.

Aufklärung steht ohnedies nicht an der Tagesordnung. Als Auftakt zum 19. Jahrhundert formiert sich die größte Konterrevolution der Neuzeit, der Wiener Kongreß, und verpestet Europa. Gesellschaftliche Emanzipation Hunderter Jahre wird in kurzer Zeit vernichtet. Die monarchischen Häupter des Kontinents, früher immerfort im Krieg gegeneinander, ermannen sich, den Untergang vor Augen, in einem gemeinsamen Gewaltstreich jede geistige, politische, künstlerische Regung zu ersticken.

Das System der Zensur, mit dem die Habsburger ihre Länder knebeln, erreicht eine Vollkommenheit, von der heute noch alle schwärmen, die sich Ordnung nur als Verordnung vorstellen können. Doch der österreichische Protestant, Opfer der alten Gegenreformation und der neuen Restauration, protestiert nicht. Statt sich gegen bedrückende Verhältnisse zu wenden, blickt er nach Deutschland, wo alles besser ist. Von dort erhofft er die Erlösung, und so denkt und fühlt er fortan deutschnational. Doch statt der Erlösung kommt die Endlösung. Der sehnsuchtsvolle Blick nach Deutschland hat neben hochverräterischem Charme nur zur Folge, daß man die Realität aus den Augen verliert.

Der österreichischen Arbeiterbewegung ist die Pose, die eigene Zukunft woanders, in einem sozialistischen Deutschland, zu suchen, nicht fremd. Diese politische Verrenkung erweist sich als völlig wirklichkeitsfern. Denn die deutsche Sozialdemokratie zeigt schon 1918 unzweideutig, daß sie ein sozialistisches Deutschland nicht will, ja, daß sie zusammen mit der Reaktion bereit ist, alle, die sozialistische Verhältnisse anstreben, niederzuschlagen, auch zu ermorden.

Im Österreich des Jahres 1918, einem Überbleibsel der Monarchie, das nicht weiß, wozu es auf der Welt ist, entwickeln die Dinge sich ähnlich und doch anders. Die österreichische Arbeiterbewegung ist identisch mit der Sozialdemokratie. Diese wiederum, letzte Vertreterin des Absolutismus, erklärt zu ihrem obersten Ziel, daß sie und nur sie die Einheit der Arbeiterbewegung verkörpert. Was links von ihr sich regt oder gar kommunistisch auftrumpft, wird abgekanzelt.

Als im Februar 1934 die Kämpfe ausbrechen, zerbricht das Programm der österreichischen Sozialdemokratie, dem unter dem Namen Austromarxismus immer noch folkloristischer Reiz anhaftet. Wie jede Theorie, die nur Aufputz fragwürdiger Praxis ist, läßt auch der Austromarximus sich in einem Satz zusammenfassen: Wir wollen den Sozialismus und wir wollen ihn nicht. Karl Kraus charakterisiert die Sozialdemokratie als staatliche Institution zur Vergeudung revolutionärer Energie. Das Gerede, die Partei sei zumindest verbal radikal, ist Geschwätz.

In den zwanziger Jahren und, wie der Metallarbeiterstreik vom Herbst 2011 zeigt, auch heute quält die Sozialdemokratie nicht die Frage, wie man die Lohnabhängigen mobilisiert, sondern wie man sie in Zaum hält. Das Österreich sowohl der Ersten als auch der Zweiten Republik ist wacher als es den politischen Funktionären genehm ist. Sie müssen, um ihre Anhänger nicht zu verlieren, mit den Lohnabhängigen eine gemeinsame Sprache suchen. Die grenzt an Radikalität. Schließlich redet man über die Wirklichkeit, über Arbeitsverhältnisse, Produktionsverhältnisse, den gesellschaftlichen Zustand.

Doch die gemeinsame Sprache erweist sich als Blendwerk, denn der sozialdemokratische Politiker zieht aus der Einsicht in die Wirklichkeit keine praktische Konsequenz. Das ist weder dumm noch verräterrisch, das entspricht dem Parteistatut. Die Sozialdemokratie will vom ersten Tag an, egal in welchem Land sie zu welcher Zeit gegründet wird, die Reform. Und sie wendet sich leidenschaftlich gegen Revolution. Geschichtlich hat die Sozialdemokratie die Aufgabe, den Kapitalismus wohlwollend zu mißbilligen und den Sozialismus konsequent zu verhindern. Psychoanalytisch betrachtet gehorcht sie dem Zwang, schon beim Ausholen zum Schlag sich selbst zu verletzen.

Die Sozialdemokratie ist wie die Kirche ein Verein, dem man nicht beitreten muß. Welcher Partei aber soll man sich in den zwanziger Jahren anschließen, wenn die Sozialdemokratie so stark ist, daß sie keine linke Gruppierung neben sich aufkommen läßt? Das fragen sich insbesondere die Februarkämpfer, nachdem sie den Kampf verloren haben. Immerhin hat die Partei sie im Stich gelassen.

Sie hat sie aber nicht verraten. Die Partei ist immer gegen einen bewaffneten Aufstand aufgetreten. Als Parteimitglieder dennoch den Aufstand auslösen, ist die Frage, was die Partei tun soll, keine politische, sondern eine Charakterfrage. Wendet man sich von den kämpfenden Genossen ab? Schaut die große Partei zu, wie das kleine Aufgebot von Kämpfenden gegen die militärische Übermacht untergeht?

Die Partei schaut zu. Sie schafft damit das definitive Entree in die österreichische Innenpolitik - allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg. 1934 flüchtet die Parteiführung ins Ausland, die Februarkämpfer, die gefaßt werden, enden am Galgen. Diese Kämpfer sind alles andere als draufgängerische Desperados – wären sie das, hätten sie, anstatt sich abschlachten zu lassen, den Ausgang der Schlacht eine Zeitlang offenhalten können.

Im wesentlichen sind die Februarkämpfer, auch wenn ihnen von den wenigen Kommunisten, die es in Österreich gibt, viele zu Hilfe eilen, disziplinierte Sozialdemokraten. Zu ihrem Verständnis von Disziplin gehört aber auch, daß sie die Waffen, die ihnen von der Partei anvertraut werden, nicht den Faschisten ausliefern. Als am 12. Februar 1934 im Morgengrauen die Polizei anrückt, um im Linzer Arbeiterheim, das den schönen Namen Hotel Schiff trägt, die dort lagernden Waffen zu konfiszieren, kommt es zum Kampf.

Die Arbeiter rechnen mit diesem Übergriff. Denn seit der politische Gegner dikatorisch regiert, muß man auf Schritt und Tritt auf Gewaltwillkür gefaßt sein. Es gehört zur Lebensfreude der Faschisten, das Gesetz nach Laune zu brechen. Anstatt die Waffen auszuliefern, greifen die Arbeiter zu den Gewehren. Die Waffen sind das letzte, was ihnen geblieben ist. 1918 hätten sie ohne Gewalt eine sozialistische Republik errichten können, sie haben aus Rücksicht auf den politischen Gegner die bürgerlich - demokratische Republik vorgezogen. Diese Noblesse wird ihnen 1933 vergolten: Der Gegner schafft die Republik ab.

Nach dem Ersten Weltkrieg sind die Arbeiter- und Soldatenräte die einzige Ordnungsmacht. Gegen sie formieren sich auf dem Land faschistische Bürgerwehren. Man muß der Volkswehr schließlich etwas entgegensetzen. Das Österreich der Ersten Republik kennt kein Gewaltmonopol des Staates. Es ist ein wildes Land. Es ist nicht so domestiziert wie die Zweite Republik, in welcher der Staatsbürger, von Mitbestimmung in seiner Arbeits- und Lebenswelt ausgeschlossen, von Einfluß auf das Gemeinwesen und dessen Verwaltung abgeschnitten, dem Staat nichts entgegensetzen darf, nicht einmal den Wunsch, ein Teil des Gemeinwesens zu sein - mit der Folge, daß staatliche Willkür ungebremst wuchert.

Die Arbeiter- und Soldatenräte der Ersten Republik werden, da faschistische Überfälle sich mehren, nach und nach zur Schutzmacht von Aufmärschen und Versammmlungen. 1923 entschließt sich die sozialdemokratische Partei, den Republikanischen Schutzbund zu bilden. Der ist bewaffnet. Der Gegner empfindet das als Provokation; da er eine staatliche Wehrmacht aufbaut, braucht er sich aber nicht zu fürchten. Vor diesem Schutzbund schon gar nicht. Der dient, wie sein Name sagt, dem Schutz, nicht dem Kampf.

Nur bewährte Parteimitglieder werden zugelassen, die wiederum besonders bewährten Anführern unterstehen, die allein wissen, wo die Waffen sich befinden. Der Schutzbund ist eine revolutionäre Truppe mit konterrevolutionärer Struktur. Die Sozialdemokratie hat im Schutzbund einen bewaffneten Arm, der keinen Zugriff auf Waffen hat.

Weniger feinsinnig ist die Bürgerpartei. Sie entschließt sich nach der Wahlniederlage von 1927, die verschiedenen faschistischen Heimwehren zu einer zu bündeln, im Wissen, daß sie diese paramilitärische Truppe niemals unter Kontrolle bringt. Die Heimwehr schenkt dann ihre Sympathie zunehmend den Nazis und nicht den Christlich-Sozialen. Auch aus ihr rekrutiert Hitler in Österreich seine Kader.

Die Kämpfe im Februar 34, die als Schießerei im Linzer Arbeiterheim beginnen, weiten sich aus, in Österreichs Industrieregionen werden, von niemandem koordiniert, Arbeiter aktiv. Überall, auch in Wien, das gleiche: Schutzbündler versammeln sich, die Anführer erscheinen nicht oder geben die Waffen nicht heraus. Oft gibt es keine Anführer mehr, da die es vorgezogen haben, sich von der Polizei in Haft nehmen zu lassen. Schutzbundführer in Schutzhaft – ein Sittenbild.

Wenige Ereignisse wühlen Österreich so auf wie der Februar 34. Was sich ereignet, grenzt an Bürgerkrieg, deshalb gräbt es sich tiefer in die Erinnerung als die beiden Weltkriege. Den Ersten schiebt man dem Kaiser in die Schuhe, den Zweiten Hitler. Der Februar 34 ist man selbst. Und ist man an einem Ereignis beteiligt, stellt man es so dar, daß man vor sich selbst möglichst gut dasteht. Nur so läßt es sich unbeschwert weiterleben. Mit der Folge, daß der andere schlecht dasteht.

Daraus ergibt sich ein unlösbares Problem. Um dieses zu lösen, beschäftigen die involvierten Parteien bis zum heutigen Tag Historiker, auch Parteihistoriker genannt, die nachweisen, daß die auftraggebende Partei nicht anders hat handeln können, als sie gehandelt hat, und somit frei von Schuld ist. Denn nur schuldlose Parteien können miteinander Politik machen, im andern Fall müßte sogar die Debatte über die Preiserhöhung eines Fahrscheins damit beginnen, dem anderen alles Vergangene vorzurechnen, und mit der Schuld an der Preiserhöhung enden.

Hinter dem Rücken dieses pragmatischen Friedens geht der Krieg weiter, denn jede Partei bleibt von der Schuld des Kontrahenten überzeugt. Zu Recht. Man geht nicht wegen nichts und wieder nichts aufeinander los, sondern weil man die Richtung beeinflussen will, in welche die Gesellschaft sich bewegt. Im Bürgerkrieg geht es um politisch-ökonomischen Landgewinn. Auf der einen Seite will jeder ein Stück Land, auf der anderen will niemand von seinem Land etwas abgeben. Deshalb verheilen die Wunden eines Bürgerkriegs nie.

Daß die Gesellschaft sich bewegt, ist nicht zu bestreiten. Die Geschichte zeigt, daß die Menschen - es sei denn, es handelt sich um Sklavenhalter und deren Künstler und Philosophen – sich mit einem Sklavendasein nicht abfinden. Im andern Fall hätte die Antike prolongiert und der Feudalismus verewigt werden können. Was durchaus in der A bsicht jener Epochen gelegen ist. Es will ja auch das gegenwärtige bürgerlich - kapitalistische System lieber mitsamt der Welt zugrundegehen, als einer menschlicheren Gesellschaft Platz zu machen.

Wie alle derartigen Fragen wird auch die über die Zukunft der Gegenwart nicht unbedingt durch Gewalt, aber durch Macht entschieden, nicht durch Moral. Die Februarkämpfer wissen das, als sie sich für den Kampf entscheiden, obwohl sie wissen, daß sie unterliegen werden. Ihre Gegner wissen das auch. Die Faschisten kämpfen für das Alte, die anderen für das Neue. Karl Kraus sagt über Österreichs Erste Republik, daß das schlechte Neue niemals so schlecht ist wie das gute Alte.


„Die Presse, Spectrum“, Wien, 10. 2. 2012
„Konkret“, Hamburg, Juli 2012