Vergeßt dieses Europa
Der Weltgeist ist zurzeit in einem geistlosen Zustand,
zumindest derjenige, der für Europa zuständig ist. Europa, fast schon identisch mit der Europäischen Union, ist ein Desaster. Genau das darf es aber nicht sein. Schließlich wurde und wird für die EU so massiv geworben, daß einem Hören, Sehen und Denken vergeht. Politik und Medien stehen in Reih und Glied und trommeln. Gott ist tot, seine Stelle nimmt der Götze Europäische Union ein. Der Lautsprecher in seinem Mund verkündet, daß es zur EU keine Alternative gibt, daß die EU notwendig, vernünftig und segensreich ist. Das ist dumm, aber nicht neu. Dazu gesellt sich die peinliche Tatsache, daß sich alle großen, überschwenglichen Versprechungen als kleine, schäbige Lügen erweisen.
Auch das könnte man hinnehmen. Unerträglich wird es, wenn Versprechen, die sich als leer erwiesen haben, weiterhin gemacht werden. Der Geist erlahmt, um bei dem Blick in die Kluft, die sich zwischen Propaganda und Wirklichkeit auftut, nicht irr zu werden. Er stellt sich tot. Ein ganzer Kontinent wird von Geistlosigkeit befallen. Die EU ist nicht Gegenstand der Analyse und der Kritik, sie ist zu einer Glaubensfrage heruntergekommen. Aus guten Gründen. Denn der Analyse und der Kritik hält sie nicht stand.
Damit ist der Untergang der EU besiegelt. Den aber will selbst der schärfste Kritiker nicht heraufbeschwören. Auch er kann sich der Panikmache nicht entziehen. Brechen Währungsunion und Europäische Union auseinander, so heißt es, stürzen die Staaten Europas ins wirtschaftliche Elend und ins weltpolitische Nichts. Man kann einwenden, daß die Staaten Europas, seit sie sich zur EU zusammengeschlossen haben, unaufhaltsam der ökonomischen und politischen Bedeutungslosigkeit zustreben.
Und man kann wiederholen, was längst jeder weiß: daß viele Staaten Europas sozial in einer Weise zerfallen, wie man sich das vor Jahrzehnten nicht hat vorstellen können. Es wird einem geantwortet, das alles wäre ohne EU noch schlimmer. Ein Glaubenssatz, der nicht widerlegt werden kann. Womit Kritik sich allerdings nicht abfertigen läßt. Sie sucht festen Boden unter den vielen Schichten von Zuckerguß.
Erste Schicht: Die Europäische Union, ein Friedensprojekt. Für Eric Hobsbawn eine Propagandalüge. Er, einer der wenigen, welche die jüngste Geschichte zu deuten wußten, erinnerte daran, daß die meisten EU-Mitglieder der NATO angehören, dem aggressivsten Militärbündnis, das derzeit existiert. Krieg gegen Jugoslawien, gegen Libyen. Man zettelt Kriege an, kann sie aber nicht erfolgreich führen. Selbst hier sind Hetze und Propaganda alles, vorne weg die Maulhelden Frankreich und England. Zum siegreichen Abschluß bedarf es wie immer der USA. Auch wenn die anfangs keine Lust zeigen, dem eropäischen Größenwahn schon wieder zu Diensten zu stehen.
Deutschland schaut zu und lacht sich ins Fäustchen. Das vereinigte Deutschland, zu einem Hauptschauplatz geworden, begibt sich nicht auf Nebenschauplätze. Dort bedecken sich glorreiche Mitglieder der EU zuerst mit Kriegsruhm und werden dann den General-Stab gegen den Bettelstab tauschen müssen.
Zweite Schicht: Die Europäische Union, das Sozialprojekt. Während der eine oder andere illuminierte Intellektuelle noch vom europäischen Friedensprojekt halluziniert, wird das soziale Lied, das nirgendwo so schön erklang wie in Europa, abgelöst vom Jammergesang des sozialen Leids. Ganze Länder in wenigen Jahren sozial verwüstet, ganze Völker ins Elend getrieben - sinnlos. Es sei denn, man sieht in Kapitalinteressen nicht menschenfeindliche Umtriebe, sondern hehre Menschheitsziele.
Der Sozialstaat ist eine europäische Errungenschaft aus dem 19. Jahrhundert. Der Bürger, ökonomisch, nicht politisch führend, hatte über sich Fürsten, unter sich Sozialisten. In Wien fand der Arbeiterführer im Kaiser einen Fürsprecher. Das Kapital verdankt sich zwar der Ausbeutung, die aber kann, wenn der Monarch interveniert, eine mildere Form annehmen. Nach dem Sklaven und dem Knecht ist das arme Geschöpf, das Mitleid verdient und Zuwendung erfährt, der sozialdemokratische Arbeiter. Der Kommunist, der den Kapitalismus stürzen will, ist der einzige Störenfried dieser Idyllle.
In den USA kommt es nicht zum Sozialstaat, dort verlaufen die Ereignisse geradliniger, weniger kitschig, aber brutaler. Der Kitsch ist übrigens im Leben und in der Kunst ein mildtätiger Faktor, der nur von denen verachtet wird, die nicht Klarheit und Schönheit schätzen, sondern Konsequenz und Härte. Der Bürger in den USA jedenfalls schafft sich einen Staat, in dem er endlich allein Herr im Haus ist. Ohne Könige. Aber auch ohne Sozialisten. Da der Bürger den Arbeiter braucht, muß er auch mit den Gefahren der Arbeiterbegwegung und des Sozialismus rechnen. Was tun? Wenn die Arbeiterführer sich nicht kaufen lassen, liquidiert man sie. Al Capone, dessen philosophische Schriften ich gerade ins Deutsche übertrage, schreibt: Es gibt nichts Besseres als ein gutes Gespräch. Wenn das aber zu nichts führt, braucht man ein gutes Gewehr.
Europa ist anders, weil es anders sein muß, insbesondere nach dem 2. Weltkrieg. Westeuropa hat einige große kommunistische Parteien und lebt Tür an Tür mit sozialistischen Ländern, die der Sowjetunion verbunden sind. Nie zuvor, nie danach sitzt dem Kapital in Europa so sehr die Angst im Nacken.
Sozialdemokratische Betriebsratsobmänner nennt man damals Betriebskaiser, sie sind mit den Unternehmern gut Freund, die Arbeitsplätze sind sicher, die Löhne steigen, die Unternehmer geizen nicht mit betrieblichen Lustbarkeiten, kurzum, der Sozialstaat blüht.
Dann bricht die Sowjetunion zusammen und auch diejenige westeuropäische Linke, die mit der Sowjetunion nichts zu tun haben will. Die Europäische Union gibt es bereits. Sie nutzt die Gunst der Stunde und teilt der Arbeiterbewegung mit, daß deren Stunde geschlagen hat. Diese einst mächtige Bewegung ist bewegungslos geworden. Und doch muß sie sich noch einmal bewegen: wenn sie zur Schlachtbank geführt wird.
Das Ende der Sowjetunion wird im Westen mit einem konterrevolutionären Volksfest begangen, in Europa aber anders als in den USA. Wo es keinen Sozialstaat gibt, kann keiner zerschlagen werden. Die Konterrevolution erschöpft sich in ideologischem Getöse, das nur die Oberfläche der amerikanischen Gesellschaft streift. Die einfältige Botschaft lautet: Es gibt keine Alternative zum Kapitalismus. Das Publikum, das aufgerüttelt werden soll, ist immer schon dieser Meinung gewesen.
Der bürgerliche Intellektuelle in den USA ist von anderem Zuschnitt als die Kollegenschaft in Europa. Er sieht sich wie der Bürger als Herr im Haus Amerika und nicht als Knecht. Er hat keine Angst, redet unumwunden und weiß, daß er keine Wirkung erzielt. Er bezeichnet den konterrevolutionären Lärm als pöbelhaft, die amerikanischen Kapitalisten als unfähig und beschränkt, das kapitalistische System als ebenso verrottet wie das dazugehörige politische System und beendet seinen Sermon mit einem Bekenntis zu Amerika und zum Kapitalismus.
In Europa ist für solche Herrenwitze kein Platz. Hier erfaßt die Konterrevoltion das Innerste der Gesellschaft und zerstört die sozialen Verhältnisse. Der Kapitalist, angesichts der kommunistischen Nachbarländer im eigenen Land ein eingeengter Despot, der die Menschen zwar ausbeuten darf, aber als Menschen behandeln muß, kann nun die Ketten sprengen und sich in Freiheit entfalten.
Die EU ist von Anfang an ein Projekt des Kapitals. Sie hätte auch ein Projekt der Linken sein können. Das ist wie alles eine Machtfrage. Wer mit der Yacht segelt, kommt schneller ans Ziel, als wer im Schlauchboot dümpelt. Bei der Gründung der EU ist nicht absehbar gewesen, daß das Kapital so bald und so gründlich aufräumen würde. Zurzeit besteht die europäische Realität in einem Rachefeldzug gegen die Lohnabhänigen. Die sollen bis ans Ende ihrer Tage dafür büßen, daß man für eine kurze Zeit gezwungen gewesen war, auch sie leben zu lassen. Wie bei jedem Rachefeldzug bleibt nur verbrannte Erde zurück.
Zwei Schichten Zuckerguß sind abgehoben worden, Europa als Friedensprojekt, als Sozialprojekt. Die dickste Schicht, die es zu untersuchen gilt, ist besonders süß und unbekömmlich: Europa als Wirtschaftsprojekt. Was für ein Gezeter landauf, landab: Diese vielen Staaten in diesem kleinen Europa, wie sollen die sich behaupten in der großen Welt? Je größer die Staaten, allen voran Deutschland, desto lauter das Geschrei, man müsse sich zusammentun, um in der Welt bestehen zu können.
Ein ungeduldiger Zeitgenosse ruft: Also tut euch zusammen, schafft den Sozialstaat ab, zettelt Kriege an, seid die brutalsten Rackets der Welt. Aber legt gute Wirtschaftsergebnisse vor. Auch dieser Zeitgenosse wird enttäuscht. Die Wirtschaft in der EU ist ein Mühlstein am Hals der kopflosen Weltwirtschaft.
Der Grund liegt nicht nur im Kapitalismus, sondern auch im Nationalstaat. Sich vom anderen Nationalstaat klar abzugrenzen, ist dessen Bestimmung. Völlig unbekannt kann das den Gründern der EU nicht gewesen sein, selbst wenn sie Lügner, Betrüger und Menschenfeinde gewesen sein sollten. Nationalstaaten, eine Errungenschaft der bürgerlichen Befreiung - die mit der Emanzipation der Menschheit nicht identisch, aber verflochten ist -, Nationalstaaten haben den Makel, daß sie das kapitalistische Prinzip der Konkurrenz zum Staatsprinzip erheben.
Eine Union von Nationalstaaten zu gründen und diese in eine Währungsunion zu pressen, aus der es kein Zurück zu geben scheint, ist abenteuerlich. Die Akteure wissen oft nicht, wie es in der nächsten Minute weitergehen soll. Das liegt in der Natur dieser Sache. Daß Wirtschaft und Politik, die gewöhnlich auf Nummer Sicher gehen, sich in ein unsicheres Unternehmen stürzen, dem auch keine sichere Zukunft winkt - darin besteht das Faszinosum der EU. Die Schwachen verlieren fast alles, die Starken gewinnen nicht alles. Dieser Kampf findet nicht innerhalb eines Landes statt, was überschaubar wäre, sondern in und zwischen zahlreichen Nationalstaaten namens EU.
Der faszinierte Blick fällt auf einen Kontinent mit Millionen Podesten, auf denen Abermillionen Rednerinnen und Redner unverständlich, aber von sich selbst ergriffen, vor sich hin reden. Der Blick wird vor Schreck starr. Das Faszinosum endet, wo das trostlose, nicht endenwollende Geschwätz von der Überwindung der Nationalstaatlichkeit, vom Ende des Nationalismus beginnt. Die EU als Desaster ist weitaus erträglicher als jene Wunderheiler, die vorgeben, bereits im gemeinsamen Haus Europa zu wohnen, an dem sie auch schon schadhafte Dachziegel ausgebessert haben, weshalb man auch bei Regen gemütlich beisammensitzen und einander die Volkslieder aus den verschiedenen Regionen vorsingen kann.
Der Bürger hat sich mit Hilfe des Nationalstaats von jahrhundelanger feudaler Unterdrückung befreit. Der Nationalstaat ist eine Kampfform, geschaffen gegen den Feudalismus, brauchbar aber auch gegen andere Nationalstaaten. Warum können sich nicht mehrere europäische Nationalstaaten zusammentun und dann als ein neuer, großer Nationalstaat, gewissermaßen als Neuling unter den Weltmächten, unheilvoll tätig werden? Weil sie es nicht wollen. Und sie wollen es nicht, weil sie es nicht können.
Das liegt im Wesen des Kapitals. Dieses ist, anders als behauptet wird, nicht international. Es ist im Nationalstaat zu Hause, es ist häuslicher als das Hausmütterchen, das Hausväterchen es je waren. Im Industriekapitalismus, in dem die Produktion explodiert, geht das Geschäft von dem Land aus, in dem das Kapital sitzt. Es erstreckt sich über die Welt, die Macht des Geldes aber ist zu Hause angesiedelt. Je mächtiger der Staat ist und je größer das Kapital, das sich in ihm ansammelt, desto stärker die Bindung an die Nation. Nur dort ist das Privateigentum sicher. Nur dort hat man die Macht, um jenes politische und militärische Personal zu rekrutieren, das man für das Leben im Sicherheitstrakt, früher Villa genannt, braucht.
Der Hausverstand wehrte sich gegen Europas Kleinstaaterei, gegen die vielen Grenzen, es kamen ja noch die Grenzen zu den Ländern des Ostens hinzu. Und doch zählten für viele die Grenzkontrollen zu den einzigen Erlebnissen, die sie hatten. Fuhr einer nach Weimar, berichtete er drei Stunden lang von den Grenzkontrollen und drei Minuten vom Goethehaus.
Der Unmut gegen die vielen Grenzen, die vielen Währungen, die vielen Unannehmlichkeiten forciert, was dann als Vergesellschaftung an den Tag kommt. Vereinzeltes fügt sich zusammen und erscheint in einer größeren und vernünftigeren Gestalt. So jedenfalls heißt es in einem der Lieblingsmärchen der Linken. Vergesellschaftung ist umgeben vom Schein historischer Notwendigkeit, gesellschaftlichen Fortschritts. Der Schein trügt. Nicht jeder Prozeß der Vergesellschaftung ist fortschrittlich – wie man an der EU sieht.
Das Reaktionäre an der Europäischen Union ist der nicht abflauende, eher anschwellende Haß auf alles, was nach 1945 und insbesondere nach 1968 sich als fortschrittlich regt. Auch insofern kann man die EU ein konterrevolutionäres Unternehmen nennen. Man sollte aber dessen rückschrittliches Potential nicht überschätzen und dessen Auswirkung je nachdem, auf welcher Seite man steht, weder lobpreisen noch fürchten.
Der Gegenschlag, der zurzeit die Linke in der EU trifft, ist nichts gegen den Vernichtungsschlag, der Anfang des 19. Jahrhunderts auf dem Wiener Kongreß eine jahrhundertelange bürgerliche Aufklärung zermalmt hat. Die finstersten Monarchien Europas sind aus den Gräbern erstanden, in denen man sie dank Napoleon gut untergebracht wähnte, sie sind zurück auf die Throne geschlurft, haben anstatt auf den eigenen auf den Tod der Revolution angestoßen und aus Europa einen Polizeistaat gemacht, in dem die höchste geistige Äußerung die Zensur war.
Die bürgerliche Aufklärung, schwer beschädigt durch die Gegenreformation, aber immer noch beschäftigt mit der Emanzipation der Menschheit, erlebt - nach der Renaissance in Italien - noch zwei Glücksmomente, einen politischen, die Revolution in Frankreich, und einen musikalischen, die Wiener Klassik. Nicht vorstellbar für Heutige, was den Menschen danach widerfährt, wie sie mit Militärgewalt und politischer Schikane zurückgestoßen werden in eine Vergangenheit, von der sie sich für immer verabschiedet hatten.
Beethoven komponiert diese Katastrophe zehn Jahre nach dem Wiener Kongreß in dem Streichquartett in cis-Moll. Seine Botschaft, hörbar aus jedem Takt: Ich sage euch eines. Es gibt nichts mehr zu sagen. Und das sage ich so, daß es euch noch in ferner Zeit das Herz zerreißt.
Daran gemessen ist die jetztige Konterrevolution harmlos. Anders als das beharrliche Bestreben der bürgerlichen Aufklärung wird der sowjetische Versuch, eine sozialistsche Gesellschaft zu schaffen, schon nach wenigen Jahrzehnten abgebrochen. Die Freude darüber ist verfrüht, denn der Versuch wird in China fortgesetzt. Dort vermutet man, daß in der Sowjetunion die Planwirtschaft nicht funktioniert hat, und experimentiert mit einer, wie man es in China nennt, sozialistischen Marktwirtschaft.
In der ziviliserten Welt ist der Jubel über die Konterrevolution, über den vorläufigen Sieg des Westens über den Osten, klugerweise gedämpft. In Europa ist die Konterrevolution Herzenssache. Nicht weil Europa ein Ort finsterer Reaktion, sondern weil es ein Kontinent ist, in dem soziale Gegensätze und politische Widersprüche nicht mehr ausgetragen werden. Das könnte ja das große Ganze, die Europäische Union, die ohnedies gefährdete, noch stärker gefährden.
Der deutsche Idealismus, philosophisch der Anwalt des großen Ganzen vor dem kleinen Einzelnen, hat in Zeiten des Konjunktureinbruchs wieder Konjunktur. Allerdings in verfälschter Gestalt. Die Philosophie spricht von einer Dialektik von Ganzem und Einzelnem, von Allgemeinem und Besonderem, und vergißt nicht auf den Hinweis, daß Dialektik, das Denken in Gegensätzen, einer Gesellschaft entstammt, die aus Gegensätzen besteht.
Die gegenwärtige Propaganda in der EU verkürzt Philosophie zur Lüge. Um das Ganze zu schützen, muß das Einzelne schutzlos preisgegeben werden. Das ist das Ende des guten Lebens und des kritischen Denkens. Ein Ende kritischer Theorie ist auch notwendig: Denn die EU - das ist eines ihrer Lieblingsprojekte - will sich geistig und kulturell so abgebildet sehen, daß das Event noch öder ist als die Realität. Das, so die kulturpolitische Spekulation, lenkt von der Wirklichkeit ab. Realismus in der Kunst wird als feindselig empfunden, ein kämpferischer Realismus, wie Brecht ihn entwickelte, als gefährlich.
Die Klientel der EU-Kultur ist nicht groß, aber wichtig: Leute, die noch nicht im Sozialmarkt Lebensmittel mit abgelaufenem Datum kaufen müssen und als Dank für dieses gnädige Schicksal zu Wahlen gehen und ins Kabarett. Das Kabarett, das den Sachzwang der Ökonomie zum Lachzwang veredelt, wird zur führenden Kultureinrichtung und gibt der Literatur, dem Theater, der Musik, der Bildenden Kunst die Richtung vor.
Die Witzelei tötet den Witz, der Gag die Pointe, die Kultur die Kunst. Die Ästhetisierung der Politik, die alte Technik des Faschismus, macht Politik zu dem kulturellen Ereignis, das sie unter autoritärer Kapitalherrschaft wird: zur Verkündigung, die man, weil sie inhaltsleer ist, für formvollendet hält. Die Avantgarde, Todfeind der Moderne, in Europa stets verbündet mit reaktionären und faschistischen Tendenzen, sieht ihre Stunde gekommen und packt ihre alte, tödliche Waffe aus: das Gesamtkunstwerk. Elektronische und andere Installationen verbreiten die aktuelle mystische Botschaft von der beglückenden Leere des Nichts.
Die Kunst, alt, gerissen, desillusioniert, bleibt auch von diesem Spektakel unberührt. Kunst ist die Darstellung der Welt. Kultur deren Verschönerung. Im schönen Schein der Kultur leuchtet die graue Gegenwart als rosige Zukunft. Im Licht der Kunst sieht man durch die Risse in der Gegenwart die bedrohliche Vergangenheit emporsteigen. Ein neuer Faschismus versucht die alte Demokratie zu strangulieren. Europa ist für beides wie geschaffen.
„Die Presse, Spectrum“, Wien, 22.6.2013
„Konkret“, Hamburg, August 2013