Michael Scharang

 

Das Ende der Kultur - endlich
Thesen über Mythos, Kultur und Kulturindustrie

I. Mythos

Gewiß sind auch in mythischer Zeit die Menschen verschieden von den Göttern gewesen. Und doch waren sie mit diesen aufs engste verbunden. Kein Gedanke, kein Schritt, der nicht von Göttinnen und Göttern geleitet wurde. Die Götter hielten buchstäblich die Hand über den Menschen. Ohne diesen Schutz hätte er sich aus Angst vor der Naturgewalt fortwährend in Gefahr befunden, dem Wahnsinn zu verfallen. Und im Banne der Todesangst wäre eine Entwicklung des Menschen nicht möglich gewesen.

Zur Angst vor der äußeren Natur gesellte sich, schrecklicher Beginn der Selbsterkenntnis, das Entsetzen über die eigene, die menschliche Natur. Nicht nur durch einen Felssturz konnte ein Menschenschädel zertrümmert werden, das gleiche, nahm er einen Stein zu Hilfe, vermochte auch der Mensch.

Gegen seinesgleichen konnte er sich wehren, in der Praxis von Fall zu Fall, theoretisch immer. Gegen die Naturgewalt war er wehrlos. Bevölkerte er sie aber mit Göttern, war sie zumindest nicht mehr anonym. Was einen Namen hatte, erschien zwar noch als mächtig, doch nicht mehr als übermächtig. Dieses damals entdeckte Vermögen, Entsetzen zu bannen, indem man ihm einen Namen gibt, wohnt der Sprache heute noch inne.

Anders als die Natur ließen die Naturgötter mit sich reden. Und sie ließen mit sich handeln, noch ehe die Menschen untereinander Handel trieben. Das freilich war ein ungewisses Geschäft. Meinte man, über den Preis für den Schutz der Götter - die erste Form des Schutzgeldes - übereingekommen zu sein,  und schlug die Natur dennoch zu,  war guter Rat teuer, tatsächlich teuer. Es schien, daß man den Göttern zu wenig geboten hatte. Doch was hätte man noch offerieren sollen, da man ohnedies schon, indem man Menschen opferte, den Höchstpreis zahlte.

Der Ausweg, sich das Schicksal zu kaufen, war ausweglos. Die Erfahrung mit den Göttern- man konnte sie inzwischen schon vertraulich die alten Götter nennen- war derart schlecht, daß man zu dem Experiment schritt, Götter zu erfinden, in der Hoffnung, die neuen würden billiger sein. Doch wie man die Sache drehte, die Götter stahlen sich nach Belieben aus dem Vertrag. Zum tausendsten Mal unternahmen sie nichts gegen den Sturm, der Schiffe  zerbrach und Menschen ertränkte. Die Überlebenden empfanden das als gegen jede Vernunft.

Das mythische Verhältnis des Menschen zu den Göttern: daß der Mensch die Götter braucht, diese den Menschen aber nicht; daß der Mensch immerfort gibt, die Götter aber nur nehmen, ohne die Garantie einer Gegenleistung- dieses mythische Verhältnis von Gott und Mensch ist das klassische Modell der Ausbeutung. Der Mensch, je weniger er an die Götter glaubte, lernte aus diesem Modell, seinesgleichen so zu übervorteilen, wie die Götter ihn übervorteilt hatten. Das Modell bewährt sich zugunsten, aber auch zuungunsten der Menschen seit abertausend Jahren, und es wird, was mythisches Zwangsverhältnis war und ist, immer noch hingenommen als menschengemäß.

Die mythische Bindung der Menschen an die Götter war ebenso eng wie beengend. Dafür, daß man den Göttern nahe sein durfte, liebte man sie; daß deren Gegenliebe auf Willkür beruhte, vergalt man ihnen mit Verachtung. Das Willkürliche dieser Bindung wurde wettzumachen versucht, indem man die Willkür, welche auf Erden und im Himmel herrschte, als notwendig und logisch betrachtete. Hatte der Wunsch zu überleben sich erfüllt, verwandelte er sich in ein wahnhaftes Bedürfnis nach Sicherheit. Galt zuerst als größtes Glück, eines natürlichen Todes zu sterben, bestand man bald auf einem ewigen Leben. Gegen die Götterwillkür stellte der Mensch die ideologische Sicherheit, jenen Schrecken, gegen den bis auf den heutigen Tag kein Gott etwas ausrichten kann.

Alle Systemversuche, die religiösen, philosophischen, ökonomischen, politischen, gehen auf jenen Sicherheitswahn zurück. So wurde der Mythos, die Göttersache, herausgeputzt zu einem Logos, er wurde das erste logische System, das die Menschen hervorbrachten, und es war die erste große Gestalt von Aufklärung. Deren Pech: Sie, die frühe Aufklärung, schloß die Götter in ihr Erklärungssystem ein. Das wollte die spätere, die moderne, nicht als Aufklärung akzeptieren. Der Preis für diese Ignoranz ist hoch. Weil moderne Aufklärung die alte als irrational abtut, nur sich als rational akzeptiert und das Nachdenken über sich verweigert, wird sie selbst irrational.

Der Mythos, in seinem perfekten System von Göttern und Menschen, war die erste Maschine. Noch befand sie sich im Kopf der Menschen. Sie produzierte dort die Götter, die man brauchte. Der Mythos war nicht nur die erste Gestalt der Aufklärung, sondern die erste Form der Industrie. Und die Götter waren die erste Massenware. Da die wenigen alten Götter teuer kamen und dennoch nichts taugten, setzte man auf viele neue, die zwar auch nichts taugten, was aber nicht störte, da man sie ja wegwerfen und auf dem Göttermarkt die allerneuesten erwerben konnte.

Am Ende der mythischen Zeit hatte der Mensch ein gespaltenes Bewußtsein. Er wußte noch, daß er sich ohne Götter nicht in der Welt zurechtgefunden hätte. Aber er wußte bereits, daß er sich ohne Götter besser in der Welt zurechtfindet. Es war ihm klar, daß er sich nie wieder so substantiell wird empfinden können wie früher, als er mit den Göttern eins war- und daß er das ewig beklagen wird. Genauso klar war ihm, daß er sich zum Narren machen würde, vertraute er weiter auf die Götter und nicht auf sich.
 
Mit dem Entschluß des Menschen- er fällt in die Blütezeit der griechischen Antike-, fortan auf sich zu setzen und die Götter in die Himmelsferne entschwinden zu lassen, beginnt die Epoche der Kultur. Sie endet ausgerechnet in dem Jahrhundert, in dem man meint, Kultur sei nicht wie alles andere geschichtlich, sondern ewig;  sie endet im 20. Jahrhundert. Im Augenblick ihres Endes wird alles und jedes zur Kultur, und Kultur wird buchstäblich zu nichts.

Das Ende der Kultur ist die Voraussetzung für die Entfaltung der Kulturindustrie- keineswegs ist die Kulturindustrie schuld am Ende der Kultur, wie das Ressentiment noch lange behaupten wird. Zu seiner Zeit war der Mythos, das universale System aus Mensch und Gott, die höchste Form der Aufklärung. Zu ihrer Zeit, von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, gab es keine höhere Form der Aufklärung als die Kultur. Sie zerbröckelte aber nicht von heute auf morgen, sondern schon seit der Renaissance. Sie löste sich auf, indem ihre Bestandteile: Religion, Philosophie, Kunst, Wissenschaft, sich selbständig machten.

II. Kultur

Der Mythos war eine Überlebenshilfe. Glückte das Überleben, war er auch noch eine Hilfe, die Welt zu erklären. Für alles stand zwar ein Gott, und dennoch stellte sich die Frage des Glaubens nicht. Die stellt sich nur, wenn auch die Möglichkeit besteht, nicht zu glauben. Wissen und Glauben aber waren im Mythos eins. Der Mensch schuf die Götter, anders er nicht überlebt hätte. Daß er überlebte, war der Gottesbeweis. Man wußte, daß es Götter geben mußte, also glaubte man an sie.

Die Zeit des Mythos währte Jahrtausende. Die darauffolgende Zeit der Kultur dauerte nur zweieinhalbtausend Jahre. Sie endete in der Mitte des 20. Jahrhunderts, und sie fand in Adorno einen Philosophen, der dieses Ende als erster zu deuten vermochte.

Die Kultur ist tot. Daß sie starb, ermöglichte das Entstehen der Kulturindustrie. Was Kulturindustrie sei, darauf  haben Vorurteil und Wissenschaft, sich fälschlich auf Adorno berufend, eine ebenso einhellige wie falsche Antwort: Kulturindustrie sei die zeitgemäße, also industrialisierte Form der Kultur. Diese halbe Wahrheit ist vollkommen falsch. Die Kulturindustrie ist Vorgängerin und Vorbild für die neue, avancierte Industrie, welche den alten Industrien ihr Gesetz aufzwingt.

Jedenfalls ist die Kulturindustrie heute ökonomisch das Gegenteil dessen, was sie Anfang der vierziger Jahre war, als Adorno sie als wirtschaftliches Anhängsel der großen Industrie beschrieb. Sie ist nicht nur selbst große Industrie, sie gibt auch die Richtung vor, in welche Industrie sich insgesamt entwickelt. Was Adorno als Kulturindustrie vorfand, hatte noch den Modergeruch von Kultur. Mit Kultur, daran läßt Adorno keinen Zweifel, hatte das nichts mehr zu tun. Die war tot.

Was sich heute als Kultur gebärdet, ist Kadaververwertung. Das Tote darf  nicht tot sein. Wo Leben nur gestattet wird, wenn es sich nützlich macht, ist der Zweck des Toten, ausgeschlachtet zu werden. Schon dem Mythos war nicht erlaubt, zu sterben. Statt den alten toten Mythos zu enträtseln, wird von modernen Mythen gefaselt, worunter man zum Glück nicht mehr eintausendjährige Reiche, sondern nur Erfrischungsgetränke und Schlagersänger versteht. Der toten Kultur ergeht es nicht besser.

Anders als der Mythos war die Kultur nie eigenständig, immer nur ein Dach über den verschiedenen geistigen Bestrebungen, eine Art geistiger Dachorganisation. Entscheidend waren die Stützen, die das Dach trugen, also Religion, Philosophie, Kunst, Wissenschaft.

Die Religion ist eine wackelige Säule geworden; sie wurde von der Aufklärung schwer beschädigt. Die Wissenschaft hat sich früh verselbständigt und ist Forschung und Faktor der Produktion geworden, Kunst und Philosophie haben sich spät befreit und sich zu einer ihnen gemäßen Forschungsarbeit- der Darstellung beziehungsweise Deutung der Welt-   aufgeschwungen. Das Dach Kultur, ihrer Säulen verlustig, krachte zusammen, und die Kulturtrümmer lagen herum.

Deshalb gibt es seit dem Ende der Kultur Tausende von Kulturen. Keiner, der nicht ein Kultur- Teilchen für sich beansprucht: der Mundfaule die Streitkultur, der vom Leben Geprellte die politische Kultur, der Aufsteiger die Eß-, der Absteiger die Weinkultur, der Magenkranke die Tisch-, der Fernsehzuschauer die Lese- und der Würstelstandpächter die Unternehmenskultur. Zwischen diesen unzähligen kleinen Kulturteilchen liegen die großen Kulturtrümmer: Theater, Opernhäuser, Konzertsäle.

Diese weigern sich, als das zu fungieren, was sie sind: Museen. Anders als das Museum, das Kunstwerke ausstellt, sofern es so viele Kunstwerke besitzt, wie es über Ausstellungsfläche verfügt, was selten der Fall ist- , anders also als das Museum werden in den Theatern, Opernhäusern, Konzertsälen Kunstwerke aufgeführt. Nicht zu Unrecht. Schließlich wurden Theaterstücke, Libretti, Partituren nicht geschrieben, nur um gelesen zu werden. Sie wurden aber auch nicht geschaffen, damit man sie fortwährend neu interpretiert.

Die Neuinterpretation von Kunstwerken, die reproduzierende Tätigkeit von Schauspielern, Sängern, Musikern nimmt im 19. und 20. Jahrhundert stark zu. Der Industriekapitalismus bringt die ihm adäquate Kultur hervor: Gleich der Masse der Industriearbeiter, welche Massenwaren herstellt, produziert ein neues Heer von reproduzierenden Künstlern massenhaft Interpretationen von einigen dazu geeigneten Kunstwerken. Dieses Phänomen ist künstlerisch so unbedeutend wie kommerziell bedeutungslos. Es nennt sich deshalb nicht Geschäft, sondern Kultur.

In den letzten zwei Jahrhunderten bestand Kultur großteils aus Reproduktion von Kunst. In dieser Zeit ihres Niedergangs erblühte die Kultur zu einer ideologischen Macht: Sie erstarkte in der Welt des Geistes zum stärksten Faktor der Geistlosigkeit. Das Dach Kultur, der Säulen ledig, die es trugen, diente den reproduzierenden Künsten, der neuen Gestalt des Kunstgewerbes, immerhin als Draperie. Das Kunstgewerbe kostümiert sich als Kultur. In Wirklichkeit ist es deren verwesender Leichnam.

Die Kultur war angetreten, den Mythos nicht nur zu überwinden, sondern zu zerstören. Ihr Werkzeug war der Zweifel. Ihr Mangel an Selbstzweifel brachte sie schließlich selbst um. Den Mythos, die Einheit von Wissen und Glauben, zu zerstören, fiel leicht. Da diese Einheit vom Menschen geschaffen wurde, konnte der Zweifel daran nicht ausbleiben. Der machte sich als Wissen selbständig und ließ den Glauben zurück, als hätte er diesen nie gekannt. Die Trennung von Wissen und Glauben ist das Ende des Mythos und der Beginn der Kultur.

Einheit von Wissen und Glauben heißt: Einheit von Natur, Gott und Mensch. Sie zerfällt nun in ihre Bestandteile. Die Natur wird Gegenstand des Wissens; Gott Gegenstand der Religion; der Mensch Gegenstand der Kunst. Dazu gesellt sich die Philosophie mit der Behauptung, es müsse auch jemand für das Denken zuständig sein und für das Nachdenken über das Denken- somit für alles; denn kein Wissen, keine Religion, keine Kunst sei ohne Denken denkbar.

Der Mythos ist die Organisation des Überlebens, Kultur die Organisation des Lebens. Von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende haftet der Kultur die Eigenschaft an, unter Leben immer nur das menschliche zu verstehen. Es gebricht ihr an Respekt vor der Kreatur, vor dem Leben, gleich welcher Form es ist, und damit auch vor dem menschlichen. Das ist der barbarische Kern der Kultur: Unmenschlich kümmert sie sich nur um den Menschen, was dieser  letztlich als seine eigene Unmenschlichkeit sowohl praktiziert, als auch zu spüren bekommt.

Kultur stellt sich arrogant über die Natur, ja definiert sich gegen sie. Damit wird eine wichtige Einsicht verschüttet: daß der Mensch Teil der Naturgeschichte ist. Doch die Arroganz der Kultur kommt nicht von ungefähr. Der Mensch wendet sich nach den Ängsten des Überlebens den Freuden des Lebens zu. Er hat gelernt, in seinen Siedlungen geschützt vor der Willkür der Natur zu leben, und er weiß sich vor der Willkür der Götter zu schützen, indem er sie aus der Welt schafft. Zum erstenmal ist er auf sich gestellt.

Die große Leistung  zu Beginn der Kultur ist die Vertreibung der Götter von der Erde ins Jenseits. Ein Jenseits hat es zuvor nicht gegeben. Da bewohnten die Götter mit den Menschen die Welt. Die Götterwelt war zwar nicht sichtbar, sie existierte jenseits der Physis, sie war Metaphysik. Was aber sind die Götter jenseits der Welt? Religion. Die Philosophie sagt: schlechte Metaphysik.

Fortan ist das Diesseits die Menschenwelt, das Jenseits die Götterwelt. Religion ist die Lehre vom Jenseits. Doch wie alles in der Epoche der Kultur dient auch die Religion der Organisation des Lebens, der Gesellschaft. Der Himmel der Religion ist ein Experimentierfeld, auf dem ausprobiert wird, was in der weltlichen Praxis noch nicht möglich ist.
 
Der Mythos war ein regionales Phänomen, Kultur hingegen kennt, wie die Redensart es später der Musik nachsagt, keine Grenzen, sie anerkennt keine Beschränkung, sie wähnt sich konzipiert für die ganze Welt. Dieses Konzept, überall und für alle zu gelten, hat die Kultur von der Religion übernommen.

Die imperialistische Kraft der Religion ist enorm. Nachmythische Religionen waren Weltreligionen. Jede setzte ihren einen Gott als einzig und behauptete dessen Zuständigkeit für alle Menschen. Alles andere wäre auch unlogisch. Das Reich des Jenseits ist nur vorstellbar als unbegrenzt, Gott nur als allmächtig.

Die Reduktion der unzähligen, gut vertrauten, jahrtausendealten Göttinnen und Götter auf den einen einzigen ist die rabiateste Rationalisierung in der Geschichte der Menschheit: Modell jeder künftigen Einsparung. Der eine Gott ist aber auch Inbegriff der Zentralmacht und Modell für eine bestimmte Art der Hierarchie, nämlich mit nur einem an der Spitze, dem König oder Kaiser. Der gilt denn auch als von Gott eingesetzt.

Die monotheistischen Religionen hätten sich, das Christentum zeigt das exemplarisch, nicht so rasch und triumphal durchgesetzt, wären sie nur Modelle für überregionale, imperiale Reiche von monarchischem Zuschnitt. Das Christentum hatte für seinen Furor der Götter- Rationalisierung auch ein soziales Motiv. Die Armen und Versklavten konnten sich die vielen Götter, welche die Vermögenden in Gestalt von Götterstatuen bei sich zu Hause aufstellten, nicht leisten. Im spätrömischen Reich, als die Epoche des Mythos sich schon überlebt hatte, war der Privatbesitz von Göttern in Gestalt von Statuen eine Frage des Prestiges und die Produktion von Götterstatuen ein blühender Wirtschaftszweig.

Zu Beginn war der Mythos eine Maschine, die im Kopf des Menschen Götter als Massenware produzierte, an seinem Ende fabrizierten wirkliche Maschinen Götterstatuen in durchaus frühindustrieller Weise. Das hatte jedoch noch nichts mit Massenproduktion für die Masse zu tun, weniger aus technischer Unzulänglichkeit, sondern weil man den Begriff der Masse nicht kannte und nicht kennen wollte. Die Epoche des Mythos wurde dominiert von Sklavenhaltergesellschaften.

Die Epoche der Kultur ist von Beginn an gegen Sklaverei. Den Mut dazu gibt ihr die Religion mit der revolutionären Verheißung, vor Gott seien alle Menschen gleich. Die Religion, die sich anders als der Mythos nicht haftbar machen läßt für das, was auf der Welt passiert, kann allen alles versprechen.

Aus dem Versprechen, vor Gott seien alle gleich, entspringt die Idee der Gleichheit. Sie ist von allen Ideen die radikalste, sie rast nach dem Ende des Mythos uneinholbar durch die Geschichte, ihr auf den Fersen die Idee der Freiheit. In deren Windschatten erst kommen die anderen Ideen angetanzt, die des Wahren zum Beispiel, des Schönen, des Guten, der Solidarität.

Die Radikalität der Gleichheitsidee rührt daher, daß der Mensch nicht hinnimmt, vor Gott zwar den anderen Menschen gleich zu sein, von Menschen aber, die sich als höhergestellt bezeichnen, nicht als gleich akzeptiert zu werden. Gleichheit bedeutete nie, wie Demagogen seit jeher unterstellen, daß einer dem anderen gleicht, sondern daß keiner über dem anderen steht. Dieser soziale Sinn der Gleichheitsidee verwirklicht sich in der Geschichte durch Revolutionen, aber nicht nur durch politische und soziale, sondern auch durch ökonomische und technische. Die Kulturindustrie ist eine solche technisch- ökonomische Revolution- mit sozialen und politischen Folgen. Sie produziert die Idee der Gleichheit als das Immergleiche.

Die Epoche der Kultur ist an ihrem Beginn feudalistisch, an ihrem Ende bürgerlich. Mit der Kultur endet auch die bürgerliche Gesellschaft. Kulturindustrie ist bereits ein Charakteristikum der nachbürgerlichen Zeit. Das christliche Versprechen von der Gleichheit der Menschen vor Gott gerät vorerst nicht in Widerspruch mit dem Feudalismus, da der König und die Seinen sich als von Gott eingesetzt betrachten und sich insofern als gottgleich über die anderen erheben. Die adelige Existenz weltlicher und kirchlicher Fürsten erschöpft sich im Besitz von Grundstücken, seien es Ländereien, seien es Länder; sie ist bis heute eine der komfortabelsten und zugleich dümmsten Existenzweisen. Sie währte tausend Jahre.

Wer nicht adelig war, mußte gezwungenermaßen intelligenter existieren: feilschend, produzierend, Kunst und Wissenschaft treibend; kurzum, er mußte bürgerlich leben. Die bürgerliche Art der Existenz war der feudalen derart überlegen, daß der Adel sie mit Kriegsgewalt niederschlagen mußte, wollte er nicht mitsamt seinen Burgen und Schlössern untergehen. Was der Bürger am Adeligen am meisten haßte, war dessen Anmaßung, gottgleich zu sein. Den Feudalismus abschaffen hieß deshalb für die bürgerliche Aufklärung auch Gott abschaffen.

Der Bürger holt Gott auf die Erde und nennt ihn Gesetz. Fortan sind alle Menschen nicht mehr vor Gott, sondern vor dem Gesetz gleich. Religion wird abgelöst von Politik. Und wie zu Beginn der kulturellen Epoche die Religion die stärkste Kraft, die tragende Säule der Kultur war, so wird das nun, in der Mitte dieser Epoche, die Politik. Das Himmelreich heißt fortan Staat, Gott heißt Gesetz. Gleich dem Feudalen, der sich an Gottes Statt setzte, thront der Bürger, der das Gesetz formuliert, über den anderen. Dennoch ist die Menschheit einen Schritt weitergekommen.

Die Gleichheit vor Gott ist ideell. Die Gleichheit vor dem Gesetz hat zwar noch keinen materiellen Aspekt, sie stellt ihn aber in Aussicht. Der politisch Gleiche ist dazu aufgerufen, die weltliche politische Sphäre zu nutzen, um die materielle, die soziale Gleichheit anzustreben. Dieses Streben als niedrig, materialistisch zu denunzieren, ist die Mission der Kultur, nachdem Kunst, Wissenschaft, Philosophie sich von ihr, der Kultur, verabschiedet haben. So daß Kultur ausgedünnt wird zu etwas gleichsam Religiösem, das sich nur dadurch definiert, daß es über der Wirklichkeit schwebt.

Kultur, nicht länger belästigt von der Widersetzlichkeit der Kunst, der Wissenschaft, der Philosophie, gehorcht im 19. und 20. Jahrhundert nur mehr den Gesetzen des Establishments. Vom äußersten Rand der Kunst rekrutiert sie das Billige, den Schund, von der Wissenschaft das noch Unwissenschaftliche, Propagandistische, von der Philosophie das noch Unreflektierte, Feierliche. Diesen Abfall ernennt sie zu Kulturgütern. Und das Kulturleben tritt an die Stelle des geistigen.

Das Kulturgut hat drei Eigenschaften: Es eignet sich nur fürs Geschäft, es eignet sich nur für Propaganda, und es eignet sich im Idealfall für beides. Das Kulturgut ist der Prototyp des späteren, sich völlig von der Kultur emanzipierenden kulturindustriellen Produkts. In Gestalt des Kulturguts wird das Immergleiche, in welchem der Stumpfsinn seit jeher seinen Ausdruck findet, zum erstenmal zur Ware.

III. Kulturindustrie

Die bürgerliche Revolution holt Gott auf die Erde, nennt ihn Gesetz und macht alle Menschen vor dem Gesetz gleich. Die Industrie entreißt Gott die Eigenschaften der Unendlichkeit, der Allmacht und des ewigen Lebens und produziert dank der unendlichen Ausdauer der Maschine und der Allmacht des Kapitals unendlich viele Waren für eine sich göttlich wähnende Menschheit. Und während der Mensch der Illusion nachhängt, sich die Erde untertan zu machen, wächst die Industrie über ihn hinaus. Im Gegenzug freilich versorgt sie ihn- in manchen Teilen der Welt- so reichlich, wie er in seiner kummervollen Geschichte noch nie versorgt worden ist.

Dank der Industrie wurde das Bürgertum wirtschaftlich mächtig und hätte dem Feudalismus die Macht entwinden können, hätte es das gewollt. Der Bürger aber, dem Aristokraten jahrhundertelang intellektuell und ökonomisch überlegen, war von diesem so lange malträtiert worden, bis er ihm hörig wurde und es für ihn nichts Erstrebenswerteres gab, als den Aristokraten zu imitieren.

So geriet die Kultur des Bürgers, schon gar die Kultur seines Jahrhunderts, des neunzehnten, zu einer einzigen Imitation, einer grandiosen freilich. Der geldstrotzende Bürger konnte die gesamte Kultur des Feudalismus in Gestalt aller Stile von der Romanik bis zum Klassizismus nicht nur kaufen, er konnte sie, sobald er sie besaß, auch nach Belieben mischen. Deshalb ist die Kultur des Bürgers immer auch peinlich und lächerlich. Dieser Umstand zwang die bürgerliche Kunst, mit der bürgerlichen Kultur zu brechen- ein Bruch zwischen Kunst und Kultur, der einzigartig ist in der neueren Geschichte. Das Resultat ist die ästhetische Moderne. Und, fast gleichzeitig, die Kulturindustrie.

Der Bürger, die Industrie als Trumpf in der Hand, erobert wirtschaftlich die Welt und geht in der Sphäre der Ökonomie auf. Doch sein Bewußtsein wird vergiftet durch das Schuldgefühl, kultur- und geistlos zu sein. Kultur ist für ihn immer die des Aristokraten. In Wirklichkeit war die kulturelle Substanz des Feudalismus längst aufgebraucht. Das Vakuum wurde mit Krieg gefüllt. Im Ersten Weltkrieg sprengte der Feudalismus sich schließlich in Stücke.

Danach existiert Kultur noch kurze Zeit als glosende Ruine. Ein fatales Erbe für den Bürger, der nach dem Ende der europäischen Monarchien auch die ersehnte kulturelle Herrschaft antreten will. Da mit Kultur kein Staat mehr zu machen ist, ernennt der Bürger sich zum Kulturmenschen. So taucht am Ende der zweitausendjährigen Kulturepoche als deren Spottgestalt der Kulturmensch auf, Mitglied eines Kulturvolkes und Angehöriger einer Kulturnation. Der Bürger als Kulturmensch wird Nationalist und Rassist. So endet er nicht als Blüte, sondern als Sumpfblüte der Geschichte.

Im Zweiten Weltkrieg vernichtet das Bürgertum sich selbst. Mit dieser Selbstauslöschung geht auch die Epoche der Kultur  abrupt zu Ende. Der nachbürgerliche Mensch bringt eine neue, nachkulturelle Epoche hervor, man wird sie die Epoche der Zivilisation nennen. Nach dem Ende des realen Sozialismus, der als Erziehungsdiktatur eher ein kultureller als ein ökonomischer Versuch war und deshalb scheiterte, bekommt der Kapitalismus eine neue Intensität. Und eine neue Industrie, deren Prototyp die Kulturindustrie ist.

Nicht daß der Kapitalismus die ganze Welt erobert, ist bemerkenswert- international war er immer schon- , sondern daß er die Gesellschaft und den einzelnen vollkommen erfaßt und dabei tiefgreifend verändert. Er duldet nichts mehr außerhalb von sich. Das Instrument dieser Herrschaftsform ist die Kulturindustrie. Sie ist zugleich Zuckerbrot und Peitsche, Vergnügen und Trostlosigkeit, kurzum: trostloses Vergnügen. 

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Kulturindustrie ideologisch kraftvoll, doch ökonomisch schwach, heute ist sie und die aus ihr hervorgegangene Industrie auch technologisch und ökonomisch führend. Die alte Industrie ahmt sie nach aus Angst, hoffnungslos zurückzubleiben oder gar abzusterben.

Die Industrie des 19. Jahrhunderts bewirkte anders als die Philosophie tatsächlich die Umwertung aller Werte. Gegen Nietzsches Verherrlichung des Starken als eines ewigen Siegers wie auch gegen Marx’ Idealisierung des Ausgebeuteten als eines historischen Subjekts setzt die Industrie sich als der wahre Materialismus durch, dessen Wahrheitsstreben sich allerdings im Gewinnstreben erschöpft.

Ihrer Idee nach kann die Industrie alles herstellen und das in unbeschränkter Menge und von mal zu mal billiger. Sie kennt nur eine Krise, den geringen Absatz. Da diese Krise in jedem Fall eintritt- von jeder Ware gibt es irgendwann zu viel-, bereitet die neue Industrie sich nach dem bewährten Vorbild der Kulturindustrie auf die Krise vor, und zwar mit industriellen Lösungen, die notwendig zu einer immer intensiveren Industrialisierung der Gesellschaft führen.

Die Ware ist nichts, wenn sie nicht gekauft wird. Der Mensch, auf den noch nie Verlaß war, soll wenigstens als Kunde zuverlässig funktionieren. Die Industrie verwandelt deshalb die Menschheit in eine Kundschaft. Das ist immerhin eine Emanzipation von der nationalistischen und rassistischen Bestimmung des Menschen.

Die Industrie hätte sich ohne Kapitalismus nicht entfaltet und umgekehrt. Ebenso sind Industrie und Technik aufeinander angewiesen. Die technischen Neuerungen orientierten sich am wichtigsten Gebot der Industrie, die Ware so zu konzipieren, daß sie von möglichst vielen gekauft wird.

An den großen alten Erfindungen wie Eisenbahn und Kino ist das Exempel bereits statuiert worden. Die Industrie ruhte nicht, ehe sie nicht jedem seine eigene Eisenbahn, nämlich das Auto, und sein eigenes Kino, den Fernsehapparat, verkauft hatte. Doch das gehört der Frühgeschichte der Industrie an, als diese primär ein wirtschaftlicher Faktor zu sein schien. Heute ist die Industrie der  gesellschaftliche Faktor, der industrielle Prozeß bestimmt den gesellschaftlichen bis ins Innerste. So daß die Industrie heute die einzige noch wirksame geschichtliche Kraft ist.

Die Industrie materialisiert alles, macht auch die Menschen zu Gegenständen und trivialisiert Gott und die Welt. Aus dem ewigen Gott wird das Idol für eine Saison, aus dem Krieg, der Völker hatte verschlingen können, die Rüstungsindustrie, die den Krieg nicht mehr braucht- sie kann ihre Produkte genauso gut verschrotten. Aus Freiheit wird Freizeit, über welche die Freizeitindustrie strikter gebietet als die klassische Industrie über die Arbeitszeit, aus der Liebe wird die Beziehung,  zu deren Gestaltung die Medienindustrie mehr Tips produziert, als es Beziehungen gibt. Der Mensch richtet sich darauf ein, selbst das, was er früher für sein geheimes Seelenleben gehalten hat, zu verwerten, und das in Medien, die sich darauf spezialisieren, ihr Geschäft mit der Veräußerung des angeblich Innersten zu machen.

Empört wird von der Durchkapitalisierung des Lebens, von der kompletten Kommerzialisierung der Gesellschaft gesprochen, wo es doch im wesentlichen um Industrialisierung geht. Deren Resultat wird nicht selten als postindustrielle Wirklichkeit empfunden, was daher rührt, daß angesichts fortgeschrittener Industrialisierung die Industrie als gesondertes Phänomen nicht mehr wahrgenommen wird. Industrialisierung, einmal technisch möglich geworden, ist nicht aufzuhalten und setzt sich auch gegen den Willen der Menschen durch. Das klingt bedrohlich. Andrerseits: Vor der Industrialisierung, vor dem Industriekapitalismus, bestand der Wille des Menschen im Willen des Feudalherrn, was für den Rest der Menschheit auch nicht ersprießlich war.

Adorno deutete die Kulturindustrie bereits, als sie in den USA ihre erste Blüte erlebte. Wozu sie sich auswachsen würde, war damals, Anfang der vierziger Jahre, nicht zu erkennen. Auch nicht, daß Kultur insgesamt im Absterben begriffen ist. Ein Vierteljahrhundert später schreibt Adorno allerdings unmißverständlich, Kultur sei Schrott, einschließlich der Kritik daran.

Kunst und Kultur sind für immer auseinandergebrochen, die Kultur, einmal das Dach auch über den Künsten, liegt da als ein Haufen Schrott. Ein großer Wirtschaftszweig, eine Art neues Kunstgewerbe, gewaltig subventioniert von den sich als Kulturnationen rühmenden Ländern, vertreibt den Schrott als Kulturgüter an das internationale Spießbürgertum, für das immer mehr Festspiele, Museen und- für die aufgeschlossenen Spießer- präfabrizierte Avantgardisten aus dem Boden gestampft werden. Der Spießer, der Betrogene dieser Welt, immer schon kunstfremd und wissenschaftsfeindlich, wird abermals betrogen: Nun, da sie tot ist, überläßt man ihm die Kultur.

Mit Kulturindustrie hat das nichts zu tun, wenngleich Kulturphilosophen und Kultursoziologen fortwährend das Gegenteil behaupten. Sie und das von ihnen informierte Publikum stellen sich unter Kulturindustrie eine Kultur vor, die dermaßen kommerzialisiert worden ist, daß sie nur mehr in Warenform existiert. Dieses Vorurteil, das sich seiner Beliebtheit wegen zu einem Urteil aufwirft, hält der Überprüfung nicht stand. Kultur und Kunst kennen schon lange keine andere als die Warenform. Sogar „die reinen Kunstwerke“, sagt Adorno, „die den Warencharakter der Gesellschaft schon dadurch verneinen, daß sie ihrem eigenen Gesetz folgen, waren immer zugleich auch Waren“.

Die alte Industrie spannte den Menschen ein und entließ ihn dann doch für ein paar Stunden in die Freizeit. Die neue Industrie entspannt den Menschen, befreit ihn von Schwerarbeit, entläßt ihn aber nie. Sie vereinheitlicht die Sphären von Arbeit und Freizeit und bewirkt eine perfekte Geschlossenheit der Gesellschaft, in welcher der einzelne sich dennoch nicht eingesperrt, sondern, nicht ganz zu Unrecht, frei fühlt. Wer über den engen Horizont nicht mehr hinauszublicken vermag, empfindet ihn nicht als eng.

Als die Tagesarbeitszeit zehn bis zwölf Stunden betrug und das Entgelt ein Schandlohn war, konnte die karge freie Zeit noch nicht als Freizeit industriell organisiert werden. Heute ist die wirtschaftliche und ideologische Strukturierung der Freizeit so weit fortgeschritten, daß sie zum Vorbild für den Arbeitsprozeß wird. Diese Verkehrung der Verhältnisse wurde von der Kulturindustrie zustandegebracht.

Eine Industrie, zugeschnitten auch auf die Freizeit, ermuntert die Leute, innovativ, flexibel, zufrieden und glücklich zu sein. Sobald sie sich dieser Tugenden befleißigen, legt man ihnen nahe,  diese Moral zu ihrer Arbeitsmoral zu machen. Nicht wenige Menschen, die seit dem innovativ, flexibel, zufrieden und glücklich arbeiten, scheuen sich, den Arbeitsplatz öfter als unbedingt notwendig zu verlassen, um den Zwängen der Freizeit zu entgehen.

An ihrem Beginn war der Kulturindustrie nicht anzusehen, daß sie die Kraft haben würde, die klassische Industrie, als deren bloße Reklame sie erschien, derart fortzuentwickeln, daß die Gesellschaft insgesamt unter die Räder dieser Veränderung gerät. Und doch trug bereits das Radio die wichtigsten Merkmale der kommenden Industrie in sich. Der Radioapparat hat anders als das  herkömmliche Elektrogerät keinen Nutzen, er bedarf eines Programms. Nach diesem Schema: Gerät plus Programm, heute sagt man: hardware plus software, funktioniert mittlerweile jene avancierte Industrie, die als Neue Technologie firmiert.

Das Radio ist prototypisch auch als ein Produkt, das sich erklärtermaßen an alle Kunden der Welt wendet, mit der bestechenden Botschaft, es müsse gekauft werden, weil es eine unerhörte Neuigkeit darstelle, die noch dazu für alle erschwinglich sei. Und der Besitzer eines Radios, dessen Wohnung nun rund um die Uhr Ort professioneller Unterhaltung ist,  wird zum Modell für den idealen zeitgemäßen Arbeiter, dessen Mobilität darin gipfelt, daß er die Wohnung zum Arbeitsplatz macht.

Bereits die Dualität von Gerät und Programm birgt das Geheimnis jener Dynamik, mit der die Industrie heute die Gesellschaft mit sich fortreißt. Das Gerät, das nie ermüdet, verlangt nach einem Programm, das nie endet. Was wiederum eine Musikindustrie erheischt, die ununterbrochen für Nachschub sorgt. Dabei kommt eine Musik zustande, die noch stärker mechanisiert und normiert ist als der industrielle Prozeß selbst. Ihr Trumpf besteht darin, daß die Primitivität der musikalischen Struktur sich als Quell der Freude des Hörers erweist. Er genießt es, von der Musik, also vom Vergnügen, noch mehr abgestumpft zu werden als von der Arbeit. Auf solche Weise soll Arbeit wieder Freude machen. Immerhin ist diese Gängelung ein Fortschritt gegenüber dem Versprechen der nationalsozialistischen Massenmörder, Arbeit mache frei.

Die Musikindustrie, geschaffen, um die Radioprogramme zu speisen, läßt sich nicht an die Leine ihres ursprünglichen Zwecks legen. Sie emanzipiert sich in Form der Schallplatte, der Tonkassette, der Kompaktdiskette als eigenes Programm und animiert gleichzeitig die Geräteindustrie zur Herstellung der nötigen Apparate. Daß zwei Industrien erforderlich sind, um eine Sache zu bewirken, erweckt die Hoffnung, daß die Sättigung des Marktes sich endlos hinausschieben läßt.

Eine andere große Errungenschaft der Musik- und damit der Kulturindustrie, die vorbildhaft weiterwirkt, ist die Etablierung des Veraltens als erstrebenswerter Eigenschaft. Der Musikindustrie gelingt die massenhafte Produktion des Immergleichen in immer neuen Variationen. Nun liegt es aber in der Natur des Immergleichen, bereits im Augenblick des Entstehens veraltet zu sein. Deshalb sehnt der Konsument, kaum mit der neuesten Variation des Immergleichen konfrontiert, schon die nächste Variante herbei.

Sagte man der alten Industrie nach, die Haltbarkeit ihrer Produkte mit Absicht herabzusetzen, so gesteht man der neuen zu, die kleinste technische Verbesserung als einen Fortschritt zu preisen, der das alte Produkt auf die Müllhalde verdammt, auf welche der Kunde es mit Freude wirft. Danach singt er, lauter als Reklame es könnte, ein Loblied auf das neue Produkt und ist entzückt darüber, was dieses, wie er sich auszudrücken pflegt, alles könne.

Am folgenreichsten erweist die Kulturindustrie sich allerdings mit ihrer Konzeption von Kundschaft. Der krankhafte Wunsch nach dem gesunden Kunden, den die Kaufkraft nie verläßt, gebiert nicht das Bemühen, die Kaufkraft der möglichen Kunden zu erhöhen, um sie als Käufer zu gewinnen, sondern die Produkte so zu verbilligen, daß gewissermaßen jeder als Kunde in Frage kommt.

Diese Konzeption ist insofern revolutionär, als sie auf das Versprechen hinausläuft, vor der Industrie seien alle Menschen gleich. Es ist das erste Gleichheitsversprechen mit materieller Substanz. Die anderen großen Versprechen: die Gleichheit vor Gott, die Gleichheit vor dem Gesetz, wagten sich nicht so weit vor.

Das Versprechen der Industrie bleibt nicht im Ideellen, jedoch im Formalen stecken. Selbstverständlich geht es ihr nicht um die wirkliche materielle Gleichheit der Menschen. Durchaus aber um die Imagination einer materiellen Gleichheit der Kunden. Der Arbeitslose kann auf vieles verzichten, nicht aber auf den Computer und das Mobiltelephon. Mittels des technologischen Schundes, der ihm wie nichts sonst am Herzen liegt, kommt der Arbeitslose sich wie jener jederzeit erreichbare Manager vor, welcher ihn auf die Straße gesetzt hat, wo übrigens auch er, der Manager, jederzeit landen kann.

Die Industrie gelangt zu der Konzeption einer formalen und doch materiell verankerten Gleichheit nicht aus Menschenliebe, sondern aus Eigennutz. Angetrieben von Konkurrenzkampf und Profitstreben, muß sie noch den Ärmsten als Kunden erreichen. Die Kulturindustrie zielt bewußt auf das billigstmögliche Produkt. Und die neue Industrie tritt in ihre Fußstapfen. Wenn es nach ihr geht, werden die Armen zwar nicht alles haben, was sie zum Leben brauchen, aber alles gekauft haben, was für das Leben der Industrie erforderlich ist.

Die Kulturindustrie verführt die Menschen zu der Ansicht, daß sie, was der Industrie nützt, unmittelbar als ihren Nutzen betrachten. Damit nicht an den Tag kommt, wie sehr diese Ansicht von Propaganda getränkt ist, muß die Industrie darauf achten, daß der Nutzen, den sie verheißt, nicht ausschließlich ihr, sondern zu einem Teil auch der Kundschaft zugutekommt. Diese, industriell versorgt, dünkt sich als Menschheit, welcher es endlich gelungen ist, das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. In Wirklichkeit ist sie weit davon entfernt. Und sie ist diesem Ziel doch näher denn je.

Benjamins Spekulation, das Bewußtsein der Menschen hinke der Wirklichkeit, welche sie schaffen, hinterher, findet sich nach wie vor bestätigt. Die Menschen scheinen noch nicht daran interessiert zu sein, bei der Beantwortung der Frage, was ihnen guttut, ein entscheidendes Wort mitzureden. Der Weg, auf dem der Fortschritt sich dahinschleppt, ist in der Tat gewunden.

 

„konkret literatur“, Nr. 33, Hamburg, 2008/2009
„Literatur und Kritik“, Sazburg, Mai 2002