Michael Scharang

 

Der Künstler des Denkens

Rudolf Burger zum 70. Geburtstag

Nie greift Rudolf Burger so vehement an, wie wenn die Bescheidenheit antanzt und Verzicht predigt, Lebens- und Erkenntnisverzicht. Bescheidenheit ist die Vorhut allen Übels. Hat sie ihre Lügenarbeit geleistet, marschiert die handfeste Macht auf, um die Früchte des Verzichts zu ernten.

Burgers Gedanken umkreisend, entdecke ich Bescheidenheit als die mächtige Ideologie der Gegenwart. Es ist nicht die alte Bescheidenheit, in die jene flüchten, die keine andere Wahl haben. Es ist eine neue; sie gibt sich militant, preist Erkenntnisverzicht und Verachtung der Theorie als Lebenselixier; und wütet, wahnhaft, nicht nur gegen andere, sondern auch gegen sich selbst.

Philosophie, so verkündet diese Ideologie, habe die Menschen mit aufrührerischen Gedanken vergiftet, bis das Unglück, die Revolution, losgebrochen sei. Diese Epoche der Zerstörung ist nun vorbei. Hochgestimmt tritt man in die Epoche der Selbstzerstörung ein.
 
Denken wird nicht untersagt, im Gegenteil, es wird erhöht, wenn auch nur zum Dekor. Vorbei ist auch die Zeit der Verbote. Rudolf Burger zeigt das exemplarisch an der Philosophie. Keine Instanz ist in Sicht, die Druck auf die Philosophie ausübte - oder auf sonst jemanden. Dialektik, das Denken in Gegensätzen, sofern es sie als reale ernstnimmt, wird suspendiert. Niemand gilt als ausgebeutet, unterdrückt, zerstört; man hat sich gefälligst selbst zu zerstören, und das hingebungsvoll.

„Denken“, schreibt Burger, „wird zum Danken; aber man fragt sich, wofür“. Denken, an sich ein biologischer Vorgang, ist zur Reflexion fähig, zum Denken über das Denken. Dabei verfährt es vor allem gnadenlos mit sich selbst. Danach erst ist es legitimiert, vor nichts Halt zu machen. Selbstkritik und Kritik vereinigen sich bei Rudolf Burger zu einer Leidenschaft, die taktische Erwägungen so wenig kennt wie die Schonung der eigenen Person. Sein Denken ist das Gegenteil von Danken. Als Philosoph zu danken, hieße, mit einem Kotau vor der gesellschaftlichen Selbstzerstörung abzudanken.

Philosophie, konstatiert Burger, löse sich in Schein auf. „Sie lebt“, sagt er, „parasitär von ihrer eigenen Vergangenheit und verkommt zur Wahrsagerei“. Ein Prozeß, für den er die wunderbare Formulierung findet: „Verschönerung der Theorie durch Zelebration ihres Zerfalls“.

Zwischen Verschönerung und Schönheit tut sich eine Kluft auf wie sonst nur zwischen Neuerung und Erneuerung, zwischen jener, die Neues verlangt, und
dieser, die den alten Dreck in die Gegenwart schleppt. Verschönerung der Theorie verhält sich zur Philosophie wie die Verschönerung der Stadt zur Baukunst.

Wer sind diese bescheidenen und doch aggressiven Dekorateure des Denkens? Rudolf Burger nennt sie „die prototheologischen Sänger der Apokalypse“, „jene kleinen Profiteure des Schrecklichen, die das reale Grauen, metaphysisch aufgeblasen, zum ästhetisch Erhabenen stilisieren und über das angenehme Gruseln am Untergang vergessen machen, was vorher geschieht und warum es geschieht“.

Diese Sänger der Apokalypse mahnen, so Burgers grandiose Einsicht, „die Vernunft zur Bescheidenheit“, „als ob das, wovor sie in die Knie gehen soll, nicht das Produkt ihrer eigenen Verstümmelung wäre“. Exakt schildert er den aktuellen Prozeß der Selbstzerstörung, vor dem der naive Betrachter ratlos verharrt, weil er sich an die Bilder der alten Zerstörung gewöhnt hat, auf denen der eine gegen den anderen aufsteht und einer über den anderen siegt.

Krieg gibt es zwar noch, er bestimmt aber nicht mehr den Gang der Welt. An seine Stelle tritt die Industrie. Deren Materialschlacht ist nicht notwendig ans Menschenschlachten gebunden. Nach dem letzten Weltkrieg wurde dem Wert nach mehr an Waffensystemen verschrottet, als in zwei Weltkriegen an Waffen zum Einsatz kam. Die Barbarei des Krieges zeigt ihre Kehrseite, die Segnungen einer Zivilisation, die auf Kleinkriege nicht verzichtet, diese fast immer verliert, ihre großen Waffensysteme jedoch, die einen guten Teil des gesellschaftlichen Reichtums vernichten, nur als Drohung einsetzt. Die Botschaft dieses der Vorstellung nicht mehr zugänglichen Vernichtungspotentials lautet: Wir vernichten euch nicht; vernichtet euch selbst.

Ewiges Drohen wird unweigerlich zur leeren Drohung. Der letzte, der darauf hereinfiel, war der letzte Generalsekretär der kommunistischen Partei der Sowjetunion, der die Theorie vom nationalen und internationalen Klassenkampf, die, wie schematisch auch immer, reale Gegensätze nachzeichnete, von sich wies, die Vernunft zur Bescheidenheit mahnte und sie als dieserart verstümmelte zur eigenen Verstümmelung einsetzte.

Wen Menschen nicht kümmern, der wendet sich an die Menschheit. Der einzelne will leben, das falsche Ganze will überleben. Der letzte Generalsekretär verschönerte die Theorie, wandte sich an die Menschheit, löste Gegensätze auf, nahm dem Denken den Inhalt, was, verbunden mit seiner weltpolitischen Macht, die erste große Selbstzerstörung einer Gesellschaft in der jüngsten Geschichte auslöste.

In der bürgerlichen Aufklärung, die im Hegelianer Marx ihren Gipfel erreichte, wird Denken materialistisch und drängt zur Tat. Wie Rudolf Burger das ausführt, mit einer Schärfe der Einsicht, verbunden mit einer Brillanz der sprachlichen Darstellung - die eine bedingt die andere -, ist in der deutschsprachigen Philosophie nach Adorno einzigartig. „Wer Erkenntnis sagt“, schreibt er, „sagt Objektivierung, sagt Vergegenständlichung“. „Und die Gegenständlichkeit des Objekts ist dem erkennenden Subjekt niemals trivial, sondern immer auch fremd und insofern für Überraschungen gut… Daran hält Dialektik fest.“

Niemals, sagt Burger, könne die Nichtidentität von Subjekt und Objekt, könne diese Differenz aufgehoben werden: „weil durch die erkennende Vermittlung mit dem Objekt das Subjekt als Subjekt sich überhaupt erst und immer wieder neu konstituiert; wodurch sich aber auch das Objekt verändert und neue Seiten der Fremdheit zeigt… Das nötigt Dialektik zum Materialismus.“

Materialistisches Denken trägt gesellschaftliche Rebellion in sich. Es ist an lebendige Erfahrung gebunden, auf keine Eingebung angewiesen und geht in der Gegenwart auf. Es läßt Hoffnung, auch die Blochsche, nicht an sich heran, denn Hoffnung verschönert, was war, um über das, was kommen wird, schön reden zu können. Dialektisches Denken destruiert den Schein, der in der Realität als gewaltige Macht dasteht, weshalb es tendenziell auf reale Zerstörung zielt, ohne je zur Handlungsanleitung zu verflachen. Auch die Differenz von Denken und Handeln ist nicht aufzuheben. Aufklärung geht in Richtung Zerstörung, die Gegenaufklärung, die Auflösung der Philosophie in Schein, leitet eine Periode der Selbstzerstörung ein, die ausgerechnet mit dem Wüten der Sowjetmacht gegen sich selbst, also im Zentrum des Materialismus, begann.

Als ich damals einen Artikel schrieb mit dem Titel „Der Endsieg des Westens über den Osten trägt sein Ende bereits ins sich“, ahnte ich nicht, obwohl ich Rudolf Burgers Gedanken über die Auflösung der Philosophie in Schein schon kannte, daß der Kapitalismus, befreit von seinem sozialistischen Widerpart, diese Freiheit nur zwanzig Jahre genießen kann und sich dann in einem Feuerwerk, immerhin dem ersten globalen, selbst zerstört, wobei, was auf dem Himmel als mediales Lichterspiel erscheint, auf dem Boden in den Flammen einer historisch nicht gekannten Wertvernichtung untergeht.

Der Kapitalismus stolpert immer wieder über das eine Problem: Wie kann derjenige Ertrag der Arbeit, der den Arbeitenden vorenthalten und der als Mehrwert zu Kapital wird, sich fortan weiter und weiter mehren. Wie alle Möglichkeiten sind auch die der Kapitalverwertung begrenzt, was das Kapital aufs äußerste erbost. Es ruft nach einer Theorie, welche die Realität außer Kraft setzt. Als Vorbild dient die Postmoderne. Sie macht das Philosophieren zum Geschwafel, parallel dazu wird Literatur zum Geschwätz. Bis Rudolf Burger die Geduld reißt, er die Postmoderne der Federn entkleidet und zeigt, was sich darunter befindet: ein schäbiges Kästchen mit vielen Löchern, in welchen die Federn staken.  

Die Postmoderne der Ökonomie ist der Neoliberalismus, eine neoromantische Schwärmerei, die, als es an Verwertungsmöglichkeiten für das Kapital mangelte, solche Möglichkeiten sich herbeiwünschte und das mit der Wahrsagerei garnierte, je größer die Unwahrscheinlichkeit sei, daß ein Geschäft zustandekomme, desto höher dessen Rendite.

Lenin stellte sich eine Gesellschaft vor, in welcher der Staat überflüssig wird. Die neuromantische Ökonomie macht damit ernst. Sie richtet in kurzer Zeit mehr Schaden an, als die klassische in Jahrzehnten an Nutzen stiftete, fordert selbstbewußt vom Staat Hilfe, der seine letzten Mittel in ein Faß wirft, das keinen Boden hat, und sich zu einem unbedeutenden Anhängsel der Wirtschaft degradiert. Diese Privatisierung des Staats durch die Finanzindustrie ist das Ende des bürgerlichen Nationalstaats, das Ende eines Selbstzerstörungsprozesses, der mit der Auflösung der Philosophie in Schein begann und mit dem Zerfall der Wirtschaft, immerhin der materiellen Grundlage der Gesellschaft, zu einem Abschluß kommt. Sterben aber kann der Kapitalismus schon deshalb nicht, weil sonst das Heer seiner Gesundbeter, die Profiteure der Krise, arbeitslos würde. 

Dennoch ist die Sache nicht verloren, so lange Rudolf Burger mit seinen Schriften interveniert. Er nennt sie philosophische Erzählungen. Philosophie holt sich die Kraft zur Intervention vom Erzählen, das der Polemik und der Satire nahesteht und dem Philosophieren jene Streitlust und Schärfe zurückgibt, die es als akademische Disziplin verloren hat. Der philosophische Begriff revanchiert sich, indem er das Erzählen zu einer Genauigkeit der Sprache anleitet, die letztlich die Schönheit der Burgerschen Texte ausmacht, die ihresgleichen zur Zeit nicht nur in der philosophischen, sondern in der Literatur schlechthin nicht hat. 

Philosophie und Literatur dieserart zusammenzuwerfen, ist, wenn man sie zuvor getrennt hat, legitim. Rudolf Burger, der Künstler des Denkens, spricht aus, was die Routiniers der Zünfte, Philosophen und Schriftsteller, nicht einmal mehr erträumen, geschweige denn denken  können, daß, so Burger, „in der Moderne Philosophie und Kunst in ihrem Anspruch auf Wahrheit konvergieren, also um das gleiche Ziel mit verschiedenen Mitteln konkurrieren“.

Da Kunst und Philosophie ebenso weit voneinander entfernt wie eng verwandt sind, drängt es sich auf, theoretische Arbeit philosophisches Erzählen zu nennen, auch wenn das außer Rudolf Burger noch niemandem eingefallen ist. Wie denn auch, da der Essay - von dem ich mich in der eigenen Arbeit, in Erinnerung an Adornos schönen Text über den Essay als Form, nicht verabschieden mag -, da also der Essay gegenwärtig zur Plauderstunde verkommen ist, in der sein Scherflein beizutragen sich keine Plaudertasche entgehen läßt.

Philosophisches Erzählen ist die einzige österreichische Unart, die von intellektueller Art ist. Sie ist Nestroy, Kraus und Musil geschuldet, deren Formulierungen wie Blitze in das träge Wortgeflecht, welches Erzählen immer auch ist, einschlagen, wodurch das Wort zur Vernunft kommt, wobei es sich mit gespieltem Erschrecken fragt, wie es dazu komme, sich das bieten zu lassen. Diese anmutige Pirouette macht die Eleganz der Sprache aus.

Rudolf Burger steht wie jeder dieser Altvorderen eigenständig und auf eigene Weise in der Tradition jener Unart  Ich verneige mich vor seinem Werk in Liebe und Respekt, scheue aber das Versinken im Werk des anderen, also jene Umarmung, die bereits den Dolch gegen den Rücken des Umarmten richtet.

 

„Die Presse/Spectrum“, Wien, 6. 12. 2008
„Konkret“, Hamburg, Jänner 2009