Der regelmäßige Christbaum
Erzählung
Maria, schrien die zwei Alten wie aus einem Mund. Ja, das ist sie. Sie ist die Schönste gewesen landauf, landab.
Man wird es über den ganzen Hauptplatz von Celje gehört haben. Denn es begab sich in einem Gastgarten auf dem Hauptplatz, daß ich den beiden zahnlosen und schwerhörigen Mannern das Photo hinhielt. Sie erkannten die Abgebildete sofort.
Noch eines wußten sie mit Bestimmtheit zu sagen: Es war im Jahr 1908 gewesen, vor siebzig Jahren, zu Weihnachten, am Heiligen Abend. Statt zur Mitternachtsmette ging Maria zum Bahnhof. Sie fuhr mit dem Zug weg und kam nie wieder.
Fuhr weg aus Celje, wie der eine sagte, der seine Rede slowenisch begann, doch dann ins Deutsche fiel. Aus Zilli, wie der andere sagte, dem das Deutsche vertrauter war.
Wie kommst du zu dem Photo? schrien sie mir nach. Doch ich war schon auf dem Weg über den Hauptplatz. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß noch jemand lebt, der die junge Frau auf dem Photo erkennt. Was die zwei wußten, war mir nicht neu. Sie ahnten wohl, daß jemand, der im Besitz dieses Photos ist, mehr über die Abgebildete weiß als sie, die beiden Alten. Mir aber war nicht danach, mich ausfragen zu lassen. Und was ich in Erfahrung bringen wollte, hatte ich bereits erfahren.
Gleich nach meiner Ankunft in Celje war ich einer Frau mit einem vollen Einkaufskorb begegnet. Sie trug nach Art alter Bauerinnen ein schwarzes Kopftuch, wirkte ortskundig, also fragte ich sie, ob ihr ein Bauernhof bekannt sei, der einmal einem Mann namens Leibner, Leibner Heinrich, gehört habe.
Sie lachte. Ich befande mich hier in einer Stadt, klärte sie mich auf, nicht in einem Dorf, wo jeder jeden kenne. Sie riet mir aber, in der Molkereigenossenschaft nachzufragen.
Dort wußte tatsachlich jemand, daß der alte Leibner, nachdem dessen Sohn Franz mit der Magd Maria aus dem Ort gefluchtet war, noch dreißig Jahre gelebt, den Hof heruntergewirtschaftet und schließlich in Brand gesteckt hatte. Der Bauer war in den Flammen umgekommen. Er, der Angestellte der Molkerei, kannte den Fall aus Aufzeichnungen der Genossenschaft, er war zu jung, um den Bauern gekannt zu haben. Also brauchte ich ihm das Photo von Maria, der Magd, der Mutter meiner Mutter, gar nicht zu zeigen.
Ich quartierte mich in Celje ein, denn nun, da ich hier nichts mehr verloren hatte, konnte ich den nächsten und übernächsten Tag damit verbringen, in der Stadt und deren Umgebung umherzuspazieren, in dem seligen Glauben, daß dort, wo ich ging, einmal die Großmutter gegangen war.
Ein paar Tage vor ihrem Tod hatte sie mir einen Brief geschrieben, der nur aus einem Wort bestand: Komm. Ich kam und fühlte mich geehrt. Man sagte ihr nämlich nach, sie rede mit niemandem mehr.
Das stimmte nicht. Sie war, wie sie mir erklärte, auf ihre vier Kinder, also auch auf meine Mutter, zornig. Nur zornig, wie sie betonte. Die Kinder, alle um die sechzig, hatten ihr vor ein paar Wochen, als sie beim Kaufmann war, den Strohsack aus dem Bett gerissen und durch eine Matratze ersetzt.
Seit Jahren gab es derartige Übergriffe. Doch fruher hatte sie die Kraft, sich zu widersetzen. Sie besorgte sich einen neuen Strohsack und warf die große, einteilige Matratze nächtens über die Böschung in den Fluß, wo sie zum Entzücken der Großmutter dahintrieb als ein Floß, das in ihrer Einbildung von einem Fischotter bis ins Schwarze Meer gesteuert wurde, wo in einer Bucht ein Dutzend ähnlicher Matratzen auf die neue warteten.
Dazu, sagte die Großmutter, und sie drückte mir dabei die Hand, als suchte sie in ihrem einzigen Enkelsohn einen letzten Verbündeten, dazu, nun auch die neue Matratze, die ihr untergeschoben worden war, wegzuschleppen, habe sie nicht mehr die Kraft. Doch nicht um mir das zu sagen, hatte sie mich zu sich gebeten.
Sie wollte vor ihrem Tod ihren Kindern von jenem Tag erzählen, jenem einen, einzigen Tag, in den sie die Energie ihres ganzen Lebens gesteckt hatte. Im Alter von achtzehn. So daß sie die Jahrzehnte danach nur mehr die Kraft hatte zu überleben, kaum noch Lebenskraft. Da sie aber mit ihren Kindern zurzeit nicht spreche, habe sie nach mir gerufen.
Es war, erzählte sie, am 24. Dezember 1908. Sie begann ihr Tagwerk nicht wie üblich im Stall. Diese Arbeit machte an diesem Tag Franz. Er war seit September ihr Mann. Das aber wußte außer dem Pfarrer, dem Bürgermeister und den Trauzeugen – dem Gemeindediener und dem Mesner – niemand. Franz war das einzige Kind des Bauern, und sie, Maria, war die Magd. Im Frühjahr war sie auf den Hof gekommen, nach einer Woche waren Franz und sie ein Liebespaar. Sie empfand den um zwei Jahre Älteren, erzählte Großmutter, als ein großes Kind, tüchtig zwar als Jungbauer, fachkundiger in jedem Fall als sein besserwisserischer Vater, und doch nicht erwachsen; gewiß nicht so ernst und lebenserfahren wie sie selbst.
Wann immer Franz sie sah, wollte er sie zum Lachen bringen. Die merkwürdigsten Kosenamen dachte er sich aus, Hund nannte er sie einmal und wollte sich nur bellend mit ihr unterhalten, eine Tigerin nannte er sie ein anderes Mal, deren Streifen verrutscht seien, und die rückte er sorgfältig auf ihrem Körper zurecht, dann wieder sagte er, es gebe nichts Schöneres für ihn, als mit ihr zu schnattern, und er formte die Lippen zum Schnabel und quatschte drauflos, wobei er Liebesbeteuerungen und Unsinn durcheinandermischte, bis sie vor Lachen vom Schemel fiel.
Bevor sie auf den Hof kam, hatte Franz täglich mit dem Vater Streit gehabt, wobei es stets darum ging, die willkürliche Einmischung des Vaters abzuwehren. Franz hatte sich schon überlegt, alles hinzuschmeißen. Seit aber die neue Magd da war, kümmerte ihn der Vater nicht mehr, der konnte noch so schimpfen und toben, Franz nickte ihm nur fröhlich zu.
Diese Lebensfreude, erzählte die Großmutter, weitete sich aus zum Liebesübermut, und schließlich heirateten sie. Heimlich, um in diesem Glücksmoment den Altbauern nicht sehen zu müssen: dessen eisgraues Haar, das an ein Leichentuch gemahnte, dessen starres Gesicht, das von keiner Gemütsregung bewegt werden konnte, dessen faßformigen Leib, der den Tag über mit Speck gestopft und am Abend mit Schnaps aufgefüllt wurde.
Wir sagen es dem Vater im Winter, entschied Franz. Es gab seiner Ansicht nach einen Tag im Jahr, an dem das Herz seines Vaters sich erweichen ließ, den Heiligen Abend. Wenn der Vater einen Christbaum sieht, der nach seinem Geschmack hergerichtet ist, so Franz, stehen ihm Tränen in den Augen, und in diesem Augenblick werden wir ihm unsere Liebe gestehen.
Der Baum, erklärte Franz, muß von absoluter Regelmaßigkeit sein. Äste, die aus der Reihe tanzen, werden abgesägt, Löcher werden in den Stamm gebohrt und passende Äste eingesetzt. So daß man, um einen perfekten Christbaum zustandezubringen, einige Fichten opfern muß.
Sie hat, erzählte Großmutter, den Dezember genutzt, um sich in der Technik des Bohrens von Stämmen und des Einsetzens von Ästen an mehreren verkümmerten Fichten zu üben. Schließlich hat sie am 24. Dezember aus sieben wunderschönen Fichten einen geradezu überirdisch regelmaßigen Christbaum gefertigt und mit weißen Kerzen und roten Äpfeln geschmückt.
Und wirklich, Heinrich Leibner stand am Heiligen Abend fassungslos vor dieser Pracht, und als ihm auch noch Tränen in die Augen traten, umarmte sein Sohn ihn, rief, diese Herrlichkeit habe man Maria zu verdanken, Maria, die seit geraumer Zeit seine Frau sei und somit die Schwiegertochter des Vaters.
Unvermittelt brüllte der Altbauer los, ohne seine andachtsvolle Haltung zu verändern. Er schimpfte Maria eine erbschleicherische Dirne, seinen Sohn verfluchte er sogar. Und er wies beide vom Hof.
Sie rannte in der Nacht, die eine heilige Nacht auf dem Bauernhof hätte werden sollen, zum Bahnhof, erzählte Großmutter, nur mit dem Rucksack, ohne ihren Koffer. Franz, ohne jede Habe, lief ihr nach und rief immerfort, sie brauchten sich diese Gemeinheit nicht bieten zu lassen. Auch er löste eine Fahrkarte, vorerst bis Ljubliana. Der Schaffner, dem sie sagten, daß sie das Land verließen, und den sie fragten, ob er wisse, wo es Arbeit gebe, sagte: in Belgien.
Dorthin fuhren sie. Es gab Arbeit in den Kohlengruben. Zwei Jahre später in Hollands Landwirtschaft. Dann im Ruhrgebiet. Dort, sagte die Großmutter, im Ruhrgebiet, kam deine Mutter zur Welt, im Jahr 1913. Sie war das jüngste der vier Kinder. 1914 aber hieß es zurück nach Österreich und hinein in den Weltkrieg. Franz war unter den ersten Gefallenen. Er wird vergessen haben, sagte sie, in Deckung zu gehen. Er wirkte ja seit jenem Heiligen Abend wie vor den Kopf geschlagen.
Sie zog mit den Kindern weiter, immer dorthin, wo es Arbeit gab. Schließlich war auch die jüngste Tochter, meine Mutter, alt genug, um Arbeit suchen zu müssen. Dabei traf sie auf einen jungen Mann, meinen späteren Vater, der ebenfalls auf Arbeitssuche war.
Alle in unserer Familie, sagte die Großmutter, kamen dort zur Welt, wo es gerade Arbeit gab. Auch du. Nach dem Ersten Weltkrieg, alle redeten von Wirtschaftskrise, hieß es, daß in der großen Fabrik in dem kleinen Kapfenberg Arbeiter gebraucht werden. Dort bist du zur Welt gekommen. Aber du bist nicht dort geblieben, obwohl du dir bereits alle Untugenden dieser Gebirgsgegend angeeignet hattest, das Schifahren und das Klettern.
Du gehst dorthin, wo es für dich Arbeit gibt, wo man deine Geschichten liest, wo man deine Geschichten druckt, wo man deinen Geschichten lauscht. In verschiedenste Städte, in verschiedenste Länder und Kontinente. Das beruhigt mich. Das beruhigt mich so sehr, sagte die Großmutter, daß ich in Ruhe sterben kann.
Doch ehe sie starb, beschaffte ich ihr am Weihnachtstag einen Strohsack. Die Matratze trug ich zum Fluß, legte sie aufs Wasser, stellte einen kleinen Christbaum drauf und daneben eine Kerze, damit die Matratze, wenn sie im Schwarzen Meer ankommt, im Schein der Kerze die anderen Matratzen findet.
Erschienen in:„Der 24. Dezember. Neue Weihnachtsgeschichten“
Suhrkamp, Berlin, Herbst 2011