Die Arbeitslosigkeit steigt
Die Arbeitslosigkeit steigt, sie steigt die Stufen hinauf in den ersten Stock, klopft bei Frau Uhlir an die Tür, es ist niemand zu Haus. Die Arbeitslosigkeit steigt weiter die Stufen hinauf, im zweiten Stock klopft sie bei Herrn Kaier an die Tür, sie will ihm mitteilen, daß er die Arbeit verloren hat, es ist niemand zu Haus. Also steigt sie weiter die Stufen hinauf, sie klopft bei Frau Danic, niemand öffnet.
Die Arbeitslosigkeit lächelt verständnisvoll. Sie versteht, daß die Menschen nicht hören wollen, daß sie die Arbeit verloren haben. Sie versteht aber nicht, daß die Menschen nicht verstehen, daß sie, die Arbeitslosigkeit, nicht schuld an der Arbeitslosigkeit ist. Man wirft schließlich auch der Krankheit nicht vor, schuld an der Krankheit zu sein.
Also steigt die Arbeitslosigkeit weiter die Stufen hinauf und gelangt auf das flache Dach des Hauses. Dort wohnt niemand. Wie schön, sagt die Arbeitslosigkeit zu sich, setzt sich auf den Boden und ist entzückt von der Aussicht auf die Stadt. Frau Uhlir, Herr Kaier und Frau Danic, die sich aus Angst hinter einem Kamin versteckt haben, schleichen sich an die Arbeitslosigkeit heran, packen sie und werfen sie vom Dach. Glücklich laufen sie die Stufen hinunter.
Als sie aus dem Haus treten, steht die Arbeitslosigkeit vor ihnen und teilt ihnen mit, daß sie die Arbeit verloren haben. Die drei sind entsetzt, daß die Arbeitslosigkeit den Absturz unversehrt überstanden hat. Ich bin nicht umzubringen, sagt sie, nicht in dieser Gesellschaft. Wenn ihr mich loswerden wollt, müßt ihr vorher diese Gesellschaft loswerden. Das aber ist zum Glück nicht mein Problem. Und sie geht ins nächste Haus und setzt ihre Arbeit fort.
Volksstimme, Wien, Februar 2013