Anschlag
Kritik
Gisela Stümpel in „epd/Kirche und Rundfunk“, Nr.37 vom 3. 10. 1973
Die Doppeldeutigkeit des Wortes „Anschlag“ bildet den Ausgangspunkt. Dem Anschlag am Wirtshaus, der auf das „Preisschnapsen“ am kommenden Samstag hinweist, folgt ein tätlicher Anschlag au jenes Wirtshaus, in dem das Preisschnapsen hätte stattfinden sollen. Sodann verübt die zu dem Anschlag auf das Wirtshaus herbeigeeilte Polizei ihrerseits einen Anschlag auf die bei dem Anschlag aus das Wirtshaus nicht beteiligten Zeugen des Anschlags und verdächtigt sie als Verschwörer. Das Experimentieren mit dem Text und die von Michael Scharang daraus logisch entwickelte Abfolge von Szenen erhebt nicht den Anspruch, den realen Ablauf eines Geschehens zu beschreiben. Aus konkreten Vorgängen konstruiert, entsteht vielmehr ein abstraktes Modell eines Geschehens, das Wirklichkeit im Detail spiegelt. Diese Arbeitsweise ermöglicht dem Autor, nicht bloß einen Einzelfall kritisch darzustellen, sondern auf Zusammenhänge hinzuweisen. Die Eindringlichkeit des Stückes besteht gerade darin, dass tatsächliche Ereignisse und deren Verbalisierung in Presse und Öffentlichkeit durch die experimentelle Konstruktion des Autors komprimiert werden. Zudem wird der Hörer mit einer akustischen Szenerie konfrontiert, die als Originalton realen Ereignissen der jüngsten Vergangenheit – Demonstration, Polizeiaktionen etc.- entnommen zu sein scheint.
Helmut M. Braem in Funk-Korrespondenz vom 26. 9. 1973
„Anschlag“, im doppelten Sinne des Wortes, ist ein szenisches Plakat. Schon der Untertitel, wenn auch ungerechtfertigt zum Barock neigend, verweist auf das Plakative: „Ein Hörspiel über das Verhältnis von öffentlichem und privatem Terror unter Verwendung öffentlicher und privater Geräusche.“ Scharang hat die Bildertafel des Moritatensängers, die sich drehende Litfaßsäule, das Modell der Bei-Spiele Brechts als Materialien für eine dialektische Übung so gut verwendet, daß am Ende eine dramaturgisch nahezu geschlossene Einheit erkennbar war. Lediglich der Einstieg war eher konstruiert schlicht als überzeugend einfach.
Alles hat seinen Anfang genommen mit einer Wirtshauskeilerei: Die von einem Polizisten vernommenen Zeugen halten es nicht für ausgeschlossen, nun seien sie auf die „Schwarze Liste“ geraten. Bei einem weiteren Verhör auf dem Revier (oder im Präsidium?), wo der leitende Beamte vornehmlich mit Unterstellungen arbeitet und die Antwortgeber durch ihren Artikulationsmangel ins schiefe Licht geraten, ballen sich die aggressiven Emotionen. Wut und Furcht vermischen sich. Die Stimmung ist gereizt. Die Staatsdiener meinen, „Verschwörer“ vor sich zu haben. Der Staat sieht die Säulen seiner Verfassung in Gefahr, sieht auf einmal überall „Gruppenbildungen und Zusammenrottungen“, die er verbietet, durch Massenverhaftungen zu zerstören sucht. Die Verfolgten verschwören sich gegen die Verfolger. Die Hysterie auf beiden Seiten ist vollkommen. Der sich bildende Kern zur heraufbeschworenen Revolution wird diktatorisch mit Waffengewalt vernichtet.
Ein Modell-Spiel der Realität, an dem sich der Steiermärker Scharang schon mehrfach erprobt hat. Die psychische Szene ist bedrückend wirklichkeitsnah; Erinnerungen an die Baader-Meinhof-Gruppe drängen sich dort auf, wo Emotionen mit Ideologien gefüttert werden. Sobald jedoch Ideologien politische Gedanken festigen sollen, gerät Scharang an leere Formeln, teilt er frei über der Szene schwebende Behauptungen mit: Die Regierung bange um die Unterstützung der herrschenden Klasse, fühle sich deshalb zu gesteigerter Aktivität gezwungen, erfinde Verschwörer, um eine neue Welle der Unterdrückung in Bewegung zu bringen. Hier dient die (bloße) Rede der Anonymität der Macht, wird die Macht ins gefährliche Dunkel des Mystischen geleitet. Daß sie alles andere als anonym ist, beweist die Militärjunta in Griechenland, in Chile.
Die Einsicht in das Wechselspiel von öffentlichem und privatem Terror, die sich beide beeinflussen und gerade dadurch zur überhitzten Situation beitragen, ist klar erkennbar demonstriert. In Schrecken versetzt hat mich jedoch erst der offizielle Berichterstatter mit seinen scheinbar sachlichen Mitteilungen über die Entwicklung der angeblichen Verschwörung. Obgleich er in Konjunktiven und von Annahmen sprach, verwandelte sich in seinem Mund der Anschein zur Tatsache, die schließlich die Exekutive dann zum „Durchgreifen“ zwang.
In der Realisation Claus Villingers blieb offen, ob die „Verwendung öffentlicher und privater Geräusche“ vom Autor dramaturgisch schwach organisiert oder von der Regie widerspruchsvoll inszeniert war: Im Wirtshaus Gepolter, wie es einem „action-play“ angemessen ist, bei der polizeilichen Vernehmung zur Person dann aus dem Vorhof des Sphärischen Klang- und Stimmproduktionen nach der fernen Art von Dieter Schnebel.
Ganz geschlossen hingegen das Hör-Bild der Sprecher, die mit ihrem Hochösterreichischen (oder wie immer diese Syntax, diesen Tonfall Dialektologen nennen mögen) etwa erreichten, was unserer Bühnensprache meist verwehrt ist: das Engagement an einer Sache und zugleich die Distanzierung zu ihr. Ob dieser Gewinn auch auf hochdeutscher Ebene zu erzielen wäre, muß ich vorerst bezweifeln.