Michael Scharang

 

Schluß mit dem Erzählen
und andere Erzählungen

Kritiken

Otto Breicha in der „Frankfurter Rundschau“ vom 26. 6. 1971

Bemüht, den gewissen essayistischen Elan aus seinen Anti-Erzählungen herauszuhalten, kann Scharang auch bei diesen seinen literarischen Texten sein Interesse am Beispielhaften und Grundsätzlichen nicht verleugnen. Literatur und ihre Produktion sind ihm nichts Außerordentliches, sondern ein bewußtes Herausstellen bestehender Zustände und Übereinkünfte, ihrer Widersprüche und der Notwendigkeit der Veränderung. Das Ergebnis: Texte zum Gebrauch. Indem Scharang Verfahrensweisen sprachlichen Ausdrucks mit gesellschaftlichem Verhalten konfrontiert, macht er diese durch jene transparent.

 

 

Thomas Rothschild in der „Stuttgarter Zeitung“ vom 2. 10. 1971

Die Monotonie der Scharangschen Texte verleiht ihnen eine große Eindringlichkeit. Was bei anderen Autoren zu einem formalistisch-manierlichen Effekt erstarrt, ist hier der Aufdeckung  politischen Verhaltens, das sich sprachlich manifestiert, untergeordnet. Scharang beweist, daß Themen von alltäglich aktueller Brisanz, wie sie etwa auch Günter Wallraff in seinen Reportagen aufgreift, durch Stilisierung nicht auf eine ästhetische Ebene der Unverbindlichkeit gehoben werden müssen, daß die Umordnung des Materials, seine „künstliche“ Präsentation schlecht ausgeleuchtete Partien der sozialen Wirklichkeit plötzlich reliefartig hervortreten lassen kann. Das muß gar nicht esoterisch, das kann von bestechender Klarheit sein.

 

 

Edwin Hartl in der „Presse“, Wien, 3. 10. 1970

In dieser geharnischten Kurzprosa wird gesellschaftliches Engagement avantgardistisch in Angriff genommen und literarisch avantgardistische Haltung als Konsequenz gesellschaftlichen Engagements aggressiv vorgetragen, eine doppelte, allenfalls doppelbödige Kampfansage also. „Schluß mit dem Erzählen und andere Erzählungen“ ist auf dem Umschlag zu lesen, doch das sind, wie sich später herausstellt, zwei Schlagzeilen aus dem Eingangsstück „Vorspruch und Widerspruch“. Wenn man in „protokolle 69“ den glänzenden Essay „Kritik und Praxis im Angesicht der Barbarei“ von Michael Scharang gelesen hat (Untertitel: „Zur Dritten Walpurgisnacht“ von Karl Kraus“),  kann es einem nicht zweifelhaft erscheinen, daß hier, wohlüberlegt, die Überschrift „Sprüche und Widersprüche“ variiert wird, die den ersten Aphorismusband von Karl Kraus (vor mehr als 60 Jahren) nicht nur betitelte, sondern auch ethisch motivierte: Phrasenübel als Menschheitsübel. In dem besagten „Vorspruch“ wird auf pointierte Art  die Parole „Schluß mit dem Erzählen“ als berechtigt verteidigt und als Parole beklagt. Sowie nämlich der Aufruf zum Ruf und dieser zur Parole geworden ist, gerät er notwendig in Widerspruch mit sich selbst, und die Leute schließen, „sie könnten den Schreibenden in einen Topf werfen, und das taten sie auch, sie hatten recht“.

 

 

Harald Hartung im „Tagesspiegel“, Berlin, 31. 1. 1971

Scharangs sprachliche Etüden sind als gesellschaftliche Lehrstücke im Sinne Brechts gedacht. Ob diese Lehren über das Buch hinaus wirksam sein können oder ob sie als Reflexe linker Positionen und Aktionen bloß zur Selbstvergewisserung von Sympathisanten zu dienen vermögen, ist eine offene Frage. Skeptisch stimmt – bei aller Präzision der vorgeführten Sprachmodelle –, daß das Individuum, um dessen Emanzipation es doch letztlich geht, ausgespart bleibt. Soll es bloß auf die Zeit nach der Revolution hoffen und harren?

 

 

Helmut Heißenbüttel im „Norddeutschen Rundfunk“ am 7. 11. 1970

Ins Methodische hineingezogen hat dagegen den Konflikt Michael Scharang. Die Irritation an der Situation, in die er hineingewachsen ist, wird programmatisch mit „Schluß mit dem Erzählen“ bezeichnet. Scharangs Nicht-Erzählungen befassen sich mit der gesellschaftlichen Lage, der gesellschaftlichen Ungerechtigkeit: mehr als die Reportagen über unmittelbare soziale Mißstände erfaßt er etwas von dem Wesen der Arbeitswelt in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Scharangs Buch ist am reflektiertesten, in ihm ist nicht nur interessante, sondern Zukunft öffnende Literatur zu erkennen.

 

 

Michael Krüger im „Westdeutschen Rundfunk“ am 19. 9. 1970

Diese dialektischen Sprechtexte, die an jeweils einem skandalösen Fall dieser Gesellschaft die entweder naturgegebenen oder zwanghaft hingestellten Unterdrückungsmechanismen entwickeln und für deren baldige Abschaffung plädieren, sollten laut gelesen werden. Dann erst tritt ihr wahrer politischer Kern hervor; dann erst wird deutlich, daß es hier nicht um Literatur als Schöpfung geht, um Fiktionen, um einen mehr oder weniger guten Stil, um strikte Arbeitsteilung zwischen Literatur einerseits und Kritik und politischer Aktion andererseits. Denn die beabsichtigte Wirkung bleibt nicht aus: diese Übungen im richtigen Sprechen werden zu Übungen im richtigen Denken.

 

 

Wilhelm Grasshoff im „Bayerischen Rundfunk“, 16. 6. 1971

Die Stimme, die hier jeweils das Wort ergreift, ist nicht die Stimme des Erzählers, der erfindet, fabuliert, Spannungen, Verwicklungen erzeugt und diese wieder auflöst, es ist vielmehr die Stimme des Beobachters, der seine Erfahrungen, seine Wahrnehmungen nachschreibt und beschreibt; Wahrnehmungen, die den Leser nicht mit dem Außergewöhnlichen, sondern mit dem Alltäglichen, mit den Zuständen unserer Gesellschaft konfrontieren. Scharang ist wie fast alle Schreibenden seiner Generation (er wurde 1941 geboren) ein politisch engagierter Autor. Sein Ziel heißt: gesellschaftliche Veränderung durch Aufklärung – daher der didaktische Charakter seiner Stücke. Die Sprache wird zum Skalpell, das pathologisches Gewebe freilegt und ausschneidet. Dabei versteht es sich von selbst, daß es hier nicht mehr um ein Erfinden, sondern nur mehr um ein Finden, ein Aufspüren gehen kann.

 

 

Hans Peter Klausenitzer im „Süddeutschen Rundfunk“, Karlsruhe, 15. 3. 1971

Aufforderungen zum Ungehorsam, Vorschläge zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, Argumente, die über Belletristik hinausweisen – hier durchbricht Scharang den circulus vitiosus, der die Wirkung der Schriftsteller einengt. Natürlich wird Dichtung nicht zur materiellen Gewalt, aber sie kann zur Meinungsbildung beitragen, restaurierend aber auch revoltierend. Heißt es „Auf Poesie ist die Sicherheit der Throne gegründet“, so kann das auch heißen, daß Poesie an der politischen Macht rüttelt, erschüttern wird sie die Throne nicht. Michael Scharangs experimentelle Agitationsprosa faßt Widersprüche zusammen, die weder durch formalistische noch sozialistisch realistische Gestaltungsmethoden zu lösen sind, weil sie im außer-literarischen Bereich liegen.

 

 

Reinhold Grimm im „Hessischen Rundfunk“ am 1. 10. 1971

Was Scharang propagiert, läßt sich leicht erraten: es ist die Literatur als Waffe, der unmittelbare Kampf. Kein ästhetischer oder geschichtsphilosophischer, sondern nur noch ein Gebrauchswert wird dem Schreiben des Schreibenden zugemessen. Daß es sich dabei um einen politisch-sozialen Kampf handelt, muß wohl nicht eigens hervorgehoben werden. Diese Haltung hat unstreitig etwas Imponierendes. Sie ist so ehrlich und entschieden wie diejenige des jungen Brecht, der ja bekanntlich auch den Kunst-Ast, auf dem er saß, mit heiterem Zynismus durchsägte – allerdings bloß, um sich dann höchst elegant auf einen desto festeren und dauerhafteren zu schwingen. Bei Scharang bleibt eine solche Pointe noch abzuwarten.

 

 

„Die Furche“, Wien, 10. 10. 1970

Dialektische Methoden sind Scharangs Stärke. Spannung resultiert aus den Sprachmechanismen seiner Prosatexte selbst. Er braucht dazu keine Kurzschlüsse zwischen den gesellschaftlichen Zuständen und seiner Existenz, seiner Sprache. Der Widerspruch zwischen dem Schreibenden und dem Handelnden spielt sozusagen als grundlegendes Moment mit. Immer wieder stößt man in den Texten auf Scharangs „politisches Bekenntnis“: Der Zusammenhang zwischen richtigem Sprechen und logisch-konsequenten Denken ist Ausgangspunkt für die Eroberung der Sprache. Jedenfalls demonstriert er immer wieder, wie Sprache politische Modellfunktion entwickeln kann, in welche Richtung sie sich entfalten kann.

 

 

„Revue des Questions Allemandes Documents“, Paris, Köln, Juli/August 1971

Bref, un enchainement de faits concrets et limités destiné à provoquer un changement fondamental. Scharang propose ici des modèles a reprendre pour chaque situation. Il est dans la ligne de Peter Schneider qui, dans « Ansprachen » proposait des modèles analogues de comportement.