Michael Scharang

 

Einer muß immer parieren
Hörspiel

Kritiken

Michael Krüger in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 30. 1. 1974.

Aber bloße Dokumentierung schlechter Wirklichkeit hat politisch resignativen Charakter. Deshalb ist es notwendig, wirkungsvolle Dokumentationstechniken zu entwickeln, die sich von gesellschaftlichen Kategorien herleiten lassen. Als Beispiele möglicher Realisierungen dieses Programms werden zwei O-Ton-Hörspiele mit Wiener Arbeitern samt Arbeitsberichten abgedruckt. Gerade jene, die in den Massenmedien nicht vorkommen, die Massen, sollen ihre Meinung sagen dürfen. Wie das zu machen ist, zeigt dieses wichtige Buch aus dem theoretischen Umkreis der „Literatur der Arbeitswelt“. Ein Beispiel für eine gelungene Dokumentation.

 

 

Lothar Baier im „Hessischen Rundfunk“ am 29. 4. 1974

Während Alexander Kluges frühe Prosaarbeiten noch Vorformen dokumentarischer Literatur signalisierten, ist in der Zwischenzeit eine regelrechte Dokumentar-Welle über die Verlage und Rundfunkanstalten hereingebrochen. Ein Produkt dieser Welle und zugleich ein Versuch, ihre bloß modischen Erscheinungsformen zu überwinden und die Resultate dokumentarischer Arbeit kritisch auszuwerten, ist der in der Sammlung Luchterhand erschienene Band „Einer muß immer parieren“ von Michael Scharang. Wie man in Scharangs Aufsätzen nachlesen kann, stand am Anfang seiner Arbeit mit dokumentarischen Techniken keine euphorische Aufbruchsstimmung im Angesicht unbegrenzter neuer Möglichkeiten, sondern Skepsis darüber, was Dokumentation denn überhaupt bedeutet und ob ihre Methode denn schon von Haus aus einen Fortschritt gegenüber der literarischen Fiktion darstellt. Ihm wie manch anderem Autor scheint der Köhlerglaube vergangen zu sein, daß es schon genügt, mit Mikrophon und Bandgerät herumzulaufen, um in Zukunft gegen alle Versuchungen der Ästhetisierung und Verschleierung von Realität gefeit zu sein. „Dokumentation ist keine Technik“, schreibt Scharang, „bei der man sich verlassen kann, daß nichts Übles dabei herauskommt. Eine solche Technik gibt es nicht. Dokumentation ist folglich keine einfache, sondern eine sehr komplexe Technik, voll von gesellschaftlichen Vermittlungen.“

Wenn Scharang sich danach die Aufgabe stellt, eine akustische Dokumentation zum Thema Selbstdarstellung von Arbeitern anzufertigen, darf man erwarten, daß er in seinem Konzept von den gesellschaftlichen Vermittlungen der Dokumentartechnik ausgeht. Konkreter gesagt, daß er sich nicht damit zufrieden gibt, das Mikrophon hinzuhalten, wenn Arbeiter aus ihrem Leben erzählen, und dann schon zu glauben, im Unterschied zum schreibenden Hörspielautor gesellschaftliche Realität unmittelbar einzufangen. Weil Scharang sich außerdem Walter Benjamins Definition des Autors als Produzenten zu eigen gemacht hat, heißt dokumentarische Methode für ihn auch: die eigene Produktionsweise ändern. Der erste Schritt dazu ist die Entscheidung, die interviewten Arbeiter nicht nur als Rohstofflieferanten für ein Hörspiel zu behandeln, sondern sie als Mitautoren in die Produktion einzubeziehen.

Damit ist die Frage zwar noch nicht gelöst, ob dieser Umgang mit Originalaufnahmen die geeignete Technik ist, die gesellschaftliche Vermittlung der darzustellenden Realität auch sichtbar zu machen, aber es ist ein Verfahren eingeleitet, an dem nicht nur die beteiligten Arbeiter, sondern der Autor selbst lernen können. So hat Scharang gelernt, daß es nicht ausreicht, Mitbestimmung bei der Hörspielproduktion zu proklamieren, man muß sie vor allem organisieren. Sein Plan, die Co-Autoren des ersten Hörspiels „Das Glück ist ein Vogerl“ beim Schneiden und Montieren der Tonbänder mitwirken zu lassen, ist nämlich an dem rein praktischen Problem gescheitert, daß die Arbeiter während der Öffnungszeiten des Studios ihren Arbeitsplatz nicht verlassen und so auch nicht mitproduzieren konnten. Beim zweiten Projekt wurde die Zusammenarbeit zwischen Autor und Co-Autoren so organisiert, daß die Tonbandaufnahmen zunächst außerhalb des Studios besprochen und montiert wurden; erst die schriftlich fixierte Endfassung, auf die sich alle Beteiligten geeinigt hatten, wurde dann im Rundfunkstudio auf Band gesprochen. Das auf diese Weise entstandene Hörspiel „Einer muß immer parieren“ hat dem ersten Versuch gegenüber den unbestreitbaren Vorzug größerer Übersichtlichkeit und Prägnanz, nur ist dabei vom Charakter des Originalton-Hörspiels wenig übriggeblieben; denn dieses Stück dokumentiert nicht mehr die Art und Weise, wie Arbeiter mit allen Brüchen, Wiederholungen und Spracheigenheiten von ihren Erfahrungen in den Betrieben sprechen, sondern hält das ausgefeilte Ergebnis intensiver Diskussionen der beteiligten Arbeiter mit dem Intellektuellen Scharang fest. Was dieses Hörspiel an Klarheit und Ökonomie der Mittel gewinnt, das verliert es gleichzeitig an Möglichkeiten, auch den Lernprozeß zu zeigen, der zu diesem Resultat geführt hat.

 

 

Ludwig Fels in den „Nürnberger Nachrichten“ vom 5./6. 1. 1974

In den Gesprächen zeigt sich, daß das Bewusstsein über Gesellschaftsprobleme im spätkapitalistischen Proletariat um sich greift, daß ein großer Teil der Lohnabhängigen gelernt hat, sich selbst zu artikulieren, und daß sie bald auf die Unterstützung „wohlmeinender Intellektueller“ verzichten können, die ihrer Sache allzu oft schon schlechte Dienste erwiesen haben, weil sie nur einige Realitätspartikel sichtbar machten. Das bedeutet ferner, daß die Schriftsteller zu Arbeitern werden müssen, die nicht über sie, sondern durch sie schreiben.

 

 

 

Peter Bellon in der „Funk-Korrespondenz“, Nr. 20, 16. 5. 1973

Redliche Arbeit mit O-Ton-Material im Sinne einer Emanzipation der Materiallieferanten von den Produktionsmitteln – bringt also einen völlig neuen Typ des O-Ton-Hörspiels hervor, der über die bisherigen Vorlagen hinausgeht. „Original“ sind hier nicht die einzelnen Sätze, die ein omnipotenter Macher am Schneidetisch nach Belieben montiert hat. „Original“ ist das ganze Produkt – es ist von den Autoren für die Öffentlichkeit autorisiert.

 

 

Adolf Haslinger im ORF vom 20. 4. 1974

Scharang geht es darum, Literatur zu schreiben, die über sich selbst in den gesellschaftlichen Kontext hinausweist und dadurch politisch verändert. Wichtig an dieser neuen Dokumentation ist der emanzipatorische Vorgang, der die Arbeiter in Zusammenarbeit mit dem Autor zur Reflexion der eigenen Lage führen soll. Sie müssen erst die Sprache finden, die ihnen diese Reflexion ermöglicht. Mit dieser Sprache können sie eine proletarische Gegenöffentlichkeit schaffen als Basis  für die gesellschaftliche Veränderung.