Das Jüngste Gericht des Michelangelo Spatz
Kritiken
Hermann L. Gremliza in „konkret“, Hamburg, 1998
„Das „Jüngste Gericht des Michelangelo Spatz“ ist also ein Schlüsselroman, der dem Leser die Tür zu einer Welt öffnet, in der die Kunst wohnt und die Philosophie: Goethe, Schubert, Adorno, Benjamin, Schönberg, Gerstl, Musil, Kraus. Der Komponist Michelangelo Spatz verdankt den Vornamen seiner italienischen Mutter Rosa Pallavicini, der kritische Theoretiker, dessen Gedanken er weiterdenkt und dichtet, war ebenfalls Komponist und hat dem Spatz-Anteil seines Namens, dem Wiesengrund, den Mädchennamen seiner Mutter angehängt: Adorno. Dessen Wort von der „bürgerlichen Kunst, die sich als Reich der Freiheit im Gegensatz zur materiellen Praxis hypostasierte“ und der Sache des Proletariats, „der richtigen Allgemeinheit“, gerade „durch die Freiheit von den Zwängen der falschen Allgemeinheit die Treue hält“, denkt Michelangelo Spatz nach und bringt ihn in Form: „Die Wissenschaft, die behauptet, nichts im Sinn zu haben, als sich um die Menschheit zu sorgen und ihr zu nützen, neidet der Kunst, daß diese, die zweckfreie, gerade in ihrer Sorg- und Nutzlosigkeit noch eine Idee davon vermittelt, was den Menschen guttut und nützt.“
Ulrich Weinzierl in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 8. 10. 1998
Mit unerschütterlicher Heiterkeit beschreibt Scharang Familientragödien, sexuell Deftiges bis hin zu den Perversionen des letzten Vertreters „der alten erotischen Schule“, grandiose Mutterneurosen und – immerhin – Musik als Gesellschaftstheorie.
Solch elegante Vielfalt erfrischt und macht die Lektüre über weite Strecken zum Vergnügen. Von seinem Thomas-Bernhard-Ton, der halb Huldigung war und halb Parodie, ist Scharang mittlerweile fast völlig abgekommen. Darum sind die wenigen Sätze in einschlägiger Manier unbefangen zu genießen. Die Nationalbibliothek zu Wien, lesen wir da, heiße „deshalb so, weil nach dem Nationalsozialismus, der Österreich ausgelöscht hatte, die Enttäuschung der Österreicher darüber, daß es keinen Nationalsozialismus mehr gab, nur in Grenzen gehalten werden konnte, indem die neue österreichische Republik ihren wichtigsten Einrichtungen das Wort national voranstellte: Nationalfeiertag, Nationalrat, Nationalbank, Nationalbibliothek.“ In diesem netten Aberwitz liegt ein Körnchen dialektischer Wahrheit – und darüber ein Hauch von Musils Ironie.
Karl-Markus Gauß in „Format“, Wien, 1998
Den witzigsten Roman, den ich in den letzten Jahren über Amerika gelesen habe, hat kein amerikanischer Erfolgsautor verfaßt, sondern ein Österreicher, der sich seiner künstlerischen Individualität nicht wie einer literarischen Geschäftsstörung zu entledigen trachtet: Weiß er doch, daß er als Erzähler über die Welt nur dann etwas sagen kann, wenn er sie sich literarisch auf radikal subjektive Weise aneignet. Dabei ist Michael Scharang, der jetzt mit „Das Jüngste Gericht des Michelangelo Spatz“ sein ironisches Meisterstück vorgelegt hat, von Amerika, genauer: von New York, so angetan, daß er diese Stadt zu einem Lieblingsort auf Erden erkor.
Sein Ich-Erzähler, ein karenzierter Angestellter des Wiener Völkerkundemuseums, Erforscher des Indianerstamms der Maumee und Schriftsteller, kommt aus eher zufälligen Gründen Nach New York und verliebt sich auf der ersten Taxifahrt in diese Stadt, die seinen bisherigen Erfahrungen drastisch widerspricht: „Diese Stadt, die sich mir derart mitteilt, darf ich nicht verlassen, ehe sie ausgeredet hat“.
Georg Fülberth in „junge Welt“, Berlin, 25. 3. 1998
Das siegreiche System ist zwar vom Autor durchschaut, weiß aber nichts über sich. Sonst würde es sich nämlich „erkennend, daß es nur eine Anhäufung von Banalitäten ist, totlachen über sich selbst“. Im Roman haben wir beides: die Events sind so arrangiert, daß uns, stellvertretend für das System, eine Neigung zum Uns-Totlachen ankommt.
Gäbe es im deutschen Sprachgebiet eine lesende Linke: Dies wäre ihr Kultbuch.
Wendelin Schmidt-Dengler in „profil“, Wien, November 1998
Im New Yorker Rückspiegel fängt er die österreichische Gesellschaft und ihre monströse Selbstsicherheit geschickt ein, und weil das satirische Salz so feinkörnig geworden ist, schmerzt es in den österreichischen Wunden sicher mehr als Scharangs frühere Romane realistischen Zuschnitts. Seine Kritk an der Vorliebe unserer Medien für apokalyptische Szenarien trifft voll ins Schwarze des postmodernen Bewußtseins.
Aber auch die Gesellschaftskritik, und sei sie noch so triftig, garantiert ja nur selten Lesbarkeit. Scharang weiß, womit er seine Leser unterhalten kann, und besorgt das souverän: New York sei ein Ort für Zufälle, und der Autor bedient sich dieses Mittels, das im Unwahrscheinlichsten Glaubhaftigkeit suggeriert. Er verknüpft raffiniert die einzelnen Episoden, macht seinen Helden zum Zaungast des Glücks und Unglücks und läßt ihn, wie alle Schelme von Rang, am Ende glücklich entkommen.
Stephan Steiner in „Kolik“, Wien, Juni 1999
Während das deutsche Feuilleton noch immer auf den Roman über die 1989 zu Ende gegangene Epoche wartet, hat Michael Scharang ein Buch geschrieben, das sich der neu angebrochenen widmet. Während die einen die „Selbstauflösung des Sozialismus“ beklagen und die anderen dessen „Untergang“ bejubeln, ist – folgen wir Michael Scharang – bereits eine neue Herrschaftsform nicht bloß ins Land, sondern über den ganzen Erdball gezogen: die des Kleinbürgertums.
Gerade das Ineinander von besessenem, ausuferndem und höchst amüsantem Erzählen und reflexivem Innehalten macht den Roman zu einem Lesevergnügen und gibt ihm sein eigenwilliges Tempo.
In Abwandlung eines Buchtitels von Michael Scharang hätte „Das Jüngste Gericht des Michelangelo Spatz“ auch „Schluß mit der Geschichte und andere Geschichten“ heißen können, denn hier tritt die Geschichte noch einmal, ein letztes Mal auf, um in einem Strom von Geschichten davon überzeugt zu werden, daß es bereits überfällig ist abzutreten. Was bleibt, ist eine Erinnerung an eine Welt, die sich noch in eine chronologische Ordnung bringen ließ und ein zuweilen bitteres, zumeist aber gelöstes Lächeln über die Erscheinungsformen ihres Verschwindens.