Michael Scharang

 

Komödie des Alterns

Inhalt

Ein Ägypter geht nach Österreich, um Maschinenbau zu studieren. Vor Studienbeginn absolviert er ein Praktikum in einem Stahlwerk. Dort trifft er auf einen jungen Österreicher; die beiden verstehen sich ausgezeichnet: Die Frage nach dem Gottesglauben beantworten sie mit Vernunft; die herrschende Ordnung erscheint ihnen dermaßen widervernünftig, daß sie ihr gerne helfen würden zu verschwinden. Da sie dazu keine Gelegenheit bekommen, beschäftigen sie sich anderweitig: Sie gehen nach Ägypten und gründen mitten in der Wüste eine Farm. Als sie sechzig sind, wollen sie dort ein Fest veranstalten. Doch jeder hat klare Indizien, daß der andere eine gemeine Intrige gegen ihn spinnt, und aus inniger Freundschaft wird erbitterter Haß. Michael Scharang spickt in seinem neuen Buch die Ideen von unverbrüchlicher Freundschaft und von Freiheit im Leben und in der Arbeit mit den Stacheln der Kritik am irrationalen und menschenfeindlichen Kapitalismus. Die Komödie des Alterns ist ein Roman in streng gefügter Sprache mit ungefügigem Witz. Über den Autor urteilt Elfriede Jelinek: »Scharang hat eine neue ästhetische Möglichkeit für das Schreiben gesellschaftskritischer Literatur gefunden.«

Leseprobe

Prolog

Es waren zwei Männer, ein Ägypter und ein Österreicher, die verband von Jugend an eine tiefe Freundschaft. Daß ihre Wege sich trennten, so zufällig wie sie sich gekreuzt hatten, blieb ohne Einfluß auf ihre Freundschaft. Selbst wenn das Meer zwischen ihnen lag, gewöhnlich das Mittelmeer, manchmal der Atlantik, hatten sie doch das Empfinden, miteinander verbunden zu sein, spürbar, wie damals in der Jugend, als sie Felswände durchkletterten, der bergkundige Alpenbewohner am oberen, der sternenkundige Wüstenbewohner am unteren Ende des Seils.

Sofern kein Gewitter aufzog – im Sommer fuhren Blitze nieder mit einer Angriffslust, daß man sich, die beiden waren einmal in ein Unwetter geraten, freiwillig hinwarf und das Gesicht ins Geröll drückte – und sofern im Winter der Fels nicht mit Eis überzogen war, unternahmen die beiden jeden Sonntag eine Klettertour auf den Hochschwab, ein Kalkmassiv inmitten der Steiermark, nur zweitausend Meter hoch, aber überreich an zerklüfteten Felstürmen und lotrechten Wänden.

Zu dem Empfinden der beiden, entfernt voneinander zu sein und doch Seite an Seite zu leben, gesellte sich die Gewißheit, daß sie, indem sie einander schrieben, in stetem Austausch standen. Briefe zu schreiben bedeutete für sie nicht, das Sprechen zu ersetzen, denn sie schrieben nicht im Plauderton, sondern wohlüberlegt, und suchten für die Sache, um die es ging, den schönsten Ausdruck, der Sache wegen, aber auch aus Lust am Klang der Wörter, den sie, wenn einmal ein Satz gelungen war, in ihrem Überschwang für die Sache hielten.

Das erforderte Zeit. Einen Brief zu schreiben hieß, sich einen Tag freizuhalten. Und da keine Woche verging, ohne daß sie einander schrieben, verwandten sie in einem Monat vier, manchmal fünf ganze Tage auf nichts anderes als auf ihre Korrespondenz. Entsprechend knapp faßten sie sich im Umgang mit der übrigen Welt.

Hunderte Briefe, sorgsam gesammelt, gern wiedergelesen, waren es im Lauf der Jahrzehnte geworden, der Abstand von Brief zu Brief wurde nicht länger, die Briefe nicht kürzer. In ihnen offenbarten die zwei Männer Gefühle, die sonst im Verborgenen geblieben und dort erstickt wären, weil ihnen die Lebensluft gefehlt hätte, und sie vertrauten einander Gedanken an, vor deren Kühnheit sie, mit sich allein, zurückgeschreckt wären, Gedanken, die, wie die beiden sich ausdrückten, mit dem Kopf durch die Wand, nicht an ihr zerschellen sollten.

Und dann, im Alter, dieser Haß. Sinnesverwirrt und kraftlos traten sie gegeneinander an, zwei brüchige Windmühlen, die sich für Ritter hielten, bereit zum tödlichen Hieb gegen den Halunken, der, so wüst dachten sie voneinander, diese schöne Freundschaft gemein verraten hatte. Für beide gab es nur einen Schuldigen: den anderen. Sie konnten, zerfressen von Haß, das Glas nicht mehr halten, verschütteten den Wein, mit dem sie sich Mut hätten antrinken wollen, Mut, um das Maul aufzureißen, damit der Fluch herauskann und sich im Feind verkrallt.

Gegen diesen Wahn, in dem sie sich suhlten wie in einer Jauche, von deren Gestank sie nicht genug bekamen, gab es nur eine einzige Barriere, eine unscheinbare und doch haltbare Schranke, nämlich, daß es nicht in der Natur der beiden Männer lag, sich in Haß zu verzehren.

Sie waren dem Ausbruch dieser Pest nicht gewachsen, einer Gefühlspest, die auch den Körper, die beiden waren um die sechzig, an allen Ecken und Enden in Mitleidenschaft zog, als Kopf-, als Gelenks-, als Rückenschmerzen, in einem Ausmaß, daß das Herz, damit das Leben nicht stehenblieb, schneller und schneller schlagen mußte.

Das Herz befand sich im Wettlauf mit dem Tod. Der klopfte mit der Knochenhand einen aberwitzigen Takt, um es anzutreiben, bis es erschöpft aufgeben würde. An eine Ruhepause war in diesem Kampf nicht zu denken, schon gar nicht an einen heilsamen Schlaf, der doch für die beiden Männer, schon um zur Besinnung zu kommen, so wichtig gewesen wäre.

Sie hätten es als himmlisch empfunden, einmal, ein einziges Mal in diesen höllischen August- und Septemberwochen des Jahres 2001 in einen Schlaf zu fallen, der länger währte als zwei Stunden. Aber auch dieser Kurzschlaf war nur eine Art Ohnmacht, randvoll noch dazu mit Albträumen. Erwachten sie daraus, war es ein Aufschrecken, das den Körper von der Matratze katapultierte und ihn neben das Bett auf den Fußboden warf. Als sie später darüber sprachen, konnten sie es nicht fassen, daß jedem das gleiche widerfahren war: von einem Albtraum aus dem Schlaf gerissen zu werden und, wach geworden, neben dem Bett sich wiederzufinden. Danach aber waren sie erst recht mit einem Albtraum konfrontiert, dem schrecklichsten: der Wirklichkeit ihrer, wie sie meinten, für immer zerbrochenen Freundschaft.

Der Österreicher, er hieß Heinrich Freudensprung, wußte nicht, in welchem Zustand der Freund sich befand, sprach vom Ende seines Lebens, halblaut sprach er in sich hinein, daß er diese Pein keinen Tag länger ertrage. Der Ägypter mit Namen Zacharias Sarani, der seinerseits nicht ahnte, wie es dem Freund erging, fühlte sich sterbenselend. So könne er nicht leben. Der September war noch nicht zu Ende – der Monat, in welchem unweit des Hauses, in dem der Österreicher wohnte, im südlichen Teil Manhattans, die beiden höchsten Gebäude New Yorks nach Anschlägen zusammenstürzten; die Nachricht darüber kam ihm zwar zu Ohren, sein Verstand, vom eigenen Unglück zerrüttet, vermochte sie jedoch nicht aufzunehmen –, der September war noch nicht zu Ende, als die beiden Freunde, gegen ihre Absicht, wie jeder betonte, doch wieder miteinander sprachen, wenn auch nur am Telefon.

Freudensprung war es, der sich überwand und aus New York anrief. Er hatte sich ein paar Sätze zurechtgelegt: daß man einander lange nicht gesehen, daß das Leben ihm übel mitgespielt habe. Sarani sagte nur: Nimm die nächste Maschine. Freudensprung antwortete: Die nächste Maschine nach Kairo fliegt morgen. Der andere sagte: Ich hole dich ab. Und legte auf.

1. Kapitel

Der Sandsturm

Was für ein Tag! rief Sarani. Er saß im Schatten eines Baums, schaute hinaus in das Sonnenlicht und sagte zu sich, daß es auf der Welt nichts Schöneres gebe, als sich im Schatten an der Sonne zu erfreuen, noch dazu im Herbst, wenn die Sommerhitze vorüber sei.

Nach einem langen Seufzer fuhr er fort: Das Leben ist schön gewesen. Auch wenn es in den nächsten Tagen zu Ende geht. Auch wenn mein Lebenswerk zerstört ist. Und um es neu aufzubauen, bin ich zu alt.

Was für ein Tag, flüsterte er. Zacharias Sarani war froh, daß unter diesem Baum eine Bank stand, und er genoß es, hier zu sitzen, an der kilometerlangen, kerzengeraden Prachtstraße zwischen Kairos Stadtzentrum und dem Flughafen. Auf einem breiten Streifen aus Erde und Sand reihte sich Baum an Baum, meist waren es Palmen, doch hie und da machte sich ein Laubbaum breit.

Stünde die Bank nicht hier, dachte er, hätte ich mich auf den Boden setzen müssen, denn weiter hätten die Beine mich nicht getragen. Das Auto hatte er am Straßenrand abgestellt, er wollte über den Streifen aus Erde und Sand gehen und dann weiter über die Nebenfahrbahn zur Autohandlung, wo er ein Geländefahrzeug bestellt hatte, nicht zum Kauf, sondern zur Miete, und nur für eine Woche. Danach würde er es nicht mehr brauchen.

Sarani stellte sich vor, unter dem Baum auf dem Boden zu sitzen. Unvorstellbar, sagte er zu sich, mit verschmutztem Anzug zum Autohändler und dann zum Flughafen und dort verdreckt in der Ankunftshalle sitzen. Das wäre ihm sonst egal gewesen, nicht aber an diesem Tag.

Er war früher als gewohnt aufgestanden und hatte unter den Anzügen jenen ausgewählt, den er am liebsten trug, einen aus leichtem, hellgrauem Flanell, einen Zweireiher. Ein Blick in den Spiegel gab ihm recht: In diesem Anzug wirkte er, der kleine, hagere Mann, besonders stattlich. Er band die rote Krawatte um, hielt inne und sah, wie das dunkelgraue, gewellte Haar sich vorteilhaft von dem hellgrauen Stoff abhob.

Er wußte, wie und wann er sterben würde, darüber brauchte er sich keine Gedanken zu machen. Er wußte aber nicht, wie er bis dahin leben sollte. Würde er Sophie tatsächlich nicht mehr sehen? Er hatte ihr – sie schlief noch – einen Brief hinterlegt, voll mit Lügen, wie er seit Wochen seine geistige Zerrüttung und seinen körperlichen Zusammenbruch mit Ausflüchten vor ihr zu verbergen suchte. Er sei nicht mehr der Jüngste, war sein liebstes Argument.

Seine Frau, erinnerte er sich, hatte genickt und gelächelt. Sie höre diesen Quatsch, hatte sie gesagt, seit mehr als einem Jahr, seit seinem sechzigsten Geburtstag, und sie höre ihn gern. Mindestens einmal pro Monat beteuere er, es gehe mit ihm zu Ende, seine Kraft sei aufgebraucht. Ihr, Sophie, sei diese Marotte, die er von seinem Freund Heinrich angenommen habe, welcher diese Unart seit Jahren pflege, lieb geworden, denn nach jeder Ankündigung, er fühle den Tod sich nahen, sei er ungestümer gewesen denn je. Sie hatte recht, auch mit der Bemerkung, es sei doch selbstverständlich, daß im Alter die Kraft nachlasse. Ihr, Sophie – sie war nur drei Jahre jünger als Zacharias –, ergehe es nicht anders.

In dem Brief hatte er geschrieben, er sei spätabends angerufen und zu einer Besprechung nach Alexandria gebeten worden. Fachleute aus verschiedenen Ländern seien dort, die sich mit der Möglichkeit einer Bepflanzung der Wüste beschäftigten, sie wollten mit ihm eine internationale Konferenz zu diesem Thema vorbereiten. In einigen Tagen sei er zu Hause. Er hielt diese Ausflucht für glaubwürdig, weil es weltweit niemanden gab, der mehr Erfahrung in der Bewirtschaftung des Wüstenbodens hatte als er.

Ob seine Frau ihm glaubte oder nicht, hatte ohnehin keine Bedeutung. Man würde in einigen Tagen in seinem Haus in der Wüste drei Abschiedsbriefe finden und so erfahren, daß er tot ist. Ob man ihn selbst finden würde, war ungewiß. Die Briefe an seine Frau Sophie und seine Tochter Johanna hatte er bereits geschrieben, er trug sie bei sich. Den Brief an seinen Sohn David hatte er im Kopf. Er zögerte, ihn zu Papier zu bringen, der Brief schien ihm zu kurz und zu schroff. »Ich liebe Dich trotz allem.« Er hätte im Angesicht des Todes gern ein versöhnliches Wort angefügt – aber welches?

Sarani, als Naturwissenschaftler und Techniker ein Zweifler par excellence, zweifelte nicht, daß seine Frau und seine Kinder dafür Verständnis haben würden, daß er sich mit gebrochenem, durch keine Heilkunst zu kurierendem Herzen in sein Haus in der Wüste zurückzog und dort lebte bis zu seinem Tod, der, wenn die Wüste gnädig war, ihn bald ereilen würde. Er setzte seine Hoffnung in den nächsten Sturm.

Als Kind hatte er es als Kraftprobe empfunden, gegen den Sandsturm anzugehen, als ein Experiment, wie nahe die Menschennatur der Naturgewalt kommen darf, ohne von ihr zermalmt zu werden. Es war ein Abenteuer gewesen, gewiß, doch eines, nach dem er sich sehnte, kein Unternehmen, bei dem er das Leben aufs Spiel setzte.

Im nächsten Sandsturm allerdings werde er, der Alte, umkommen, werde hinausgefegt werden aus dieser Welt – und endlich seinen beiden Brüdern und seinem Onkel nachfolgen.

Er hatte sie vor fünfzig Jahren verloren; zuerst nur aus den Augen. Der Sandsturm wurde immer dichter, die Brüder und der Onkel gerieten in Panik, rannten gegen Abermilliarden Sandkörner an, wohl in der Hoffnung, auf diese Weise, in einem Sprint, die besiedelte Oase zu erreichen. Die lag jedoch weit weg. Zwanzig Kilometer im Sandsturm waren, wenn man nicht gelernt hatte, sich darin zu bewegen, eine undurchdringliche Hölle, in der die maschinenhafte Einförmigkeit des Tosens das Schrecklichste war.

Ihn, den Jüngsten und Kleinsten, vergaßen sie in ihrer Todesangst; sie vergaßen aber auch, aufeinander zu achten. Als er sie zuletzt wahrnahm, umrißhaft, noch keine dreißig Meter entfernt, schienen sie nicht mehr die eigene Kleidung zu tragen, sondern waren umhüllt von Faltenwürfen aus Sand. Sie verschwanden so rasch, als müßten sie nicht gegen den Sturm ankämpfen, sondern als würden sie von ihm angesogen; und, für ihn der furchtbarste Eindruck: als würden sie nicht mit jedem schnellen Schritt an Kraft verlieren, sondern als eilten sie, von einer nicht bekannten Kraft angezogen, willfährig in diesen Sturm hinein.

Sie stoben in drei Richtungen auseinander, als wären sie einander feind und als wäre der Gegner nicht der Sturm, gegen den man zusammenstehen sollte. Gleich darauf versanken sie in der Wand aus Sandkörnern, die sich vor ihm auftürmte. In diesem Augenblick, daran dachte Sarani unwillig, denn die Erinnerung schmerzte ihn, war ihm klar, daß seine Brüder und sein Onkel umkommen würden.

Er selbst zwang sich, ruhig zu bleiben, trotz der Angst, die ihn angesichts der maßlosen Wucht des Sturms überkam, eines Sturms, wie er noch nie einen erlebt hatte, und trotz des Schreckens, die Brüder und den Onkel verloren zu wissen. Ihm waren Sandstürme nicht fremd, er fühlte sich von klein an zu ihnen hingezogen. Ein Sandsturm war für ihn ein Abkömmling des Himmels, Wolken, die sich auf die Erde herabsenkten, dort als Sturm dahinrollten, jedoch nicht Regen in sich bargen, sondern Sand. In solche Wolken hineinzugehen, sich dort aufzuhalten, davon hatte er als Kind geträumt: Inmitten eines Sandsturms zu sein würde einen ahnen lassen, wie es im Himmel aussehe, im irdischen, an einen überirdischen hatte er nie geglaubt.

Er hatte einen Weg gefunden, sich jenen Traum zu erfüllen. Der eine der beiden Chauffeure des Vaters, ein Nubier aus Oberägypten, der Gestalt nach ein antiker Gott, war ihm wohlgesinnt, weil Zacharias es ablehnte, sich zur Schule fahren und Stunden später von dort, von der deutschen Schule in Kairo, abholen zu lassen. In der Zeit, die der Chauffeur dadurch gewann, konnte er – ohne Erlaubnis seines Dienstherrn – mit dem noblen Auto noble Hotelgäste, denen die Rezeption ein gewöhnliches Taxi nicht zumuten wollte, zu den Pyramiden kutschieren und so gutes Geld dazuverdienen, das er dringend brauchte, denn der Dienstherr hielt ihn knapp. Der Fahrer, der das Studium der Mathematik an einer Kairoer Universität absolviert, aber keine Arbeit als Mathematiker gefunden hatte, arbeitete, wie er Zacharias erklärte, gewissermaßen doch als Mathematiker, indem er zu dem dürftigen Salär die fetten Trinkgelder der Ausländer addierte – so weit trieb er die Selbstironie.

Zacharias war klar, daß der Chauffeur unerlaubte Fahrten unternahm, und das war ihm recht. Er konnte guten Gewissens eine Gegenleistung verlangen. Der Chauffeur mußte ihn, wenn von der Kairoer Wetterstation ein Sandsturm vorhergesagt worden war, hinaus in die Wüste bringen und ihn zwei, drei Stunden später abholen. Niemand durfte davon wissen. Wäre er im Sturm umgekommen, kein Mensch hätte sagen können – der Chauffeur würde sich gehütet haben, den Mund aufzumachen –, wie er in die Wüste gelangt war.

Dort sammelte er Erfahrungen, wie andere Kinder am Wüstenrand zerbrochene Muscheln, gebleichte Tierknochen und Alabasterstücke sammelten. Die Erfahrungen erweiterte er, indem er beobachtete, wie Beduinen sich verhielten, mit welchen Tüchern sie sich auf welche Weise einhüllten, mit welcher Art Sandalen sie im Sand gingen. Eine solche Ausrüstung, die er sich für wenig Geld im Basar gekauft hatte, nahm er mit auf seine Ausflüge.

Auch an jenem verhängnisvollen Tag, einem Sonntag, trug er wie seine Brüder und sein Onkel einen feinen, luftigen englischen Leinenanzug, darunter jedoch, als wäre es das Hemd, ein Beduinentuch; ohne diesen Schutz für Augen, Ohren, Nase und Mund wäre er nicht in die Wüste gefahren. Er wußte, daß zwar Kamele, nicht aber Menschen einen Sinn dafür haben, wann der Wind – der immerfort mit dem Sand spielt und fast nie zur Ruhe kommt – sich in einen alles verfinsternden Sturm verwandelt.

Für ihn war in den Jahren, in denen er die Wüste erforschte, eines zur beruhigenden Gewißheit geworden: Der Sturm, anders als der Wind, änderte nie die Richtung. Ging er direkt gegen ihn an, und so auch wieder zurück, gelangte er nach Stunden, während denen man nichts hatte sehen können, exakt zum Ausgangspunkt zurück.

Dazu kam die Erfahrung, daß er, wenn er frontal, mit der ganzen Breite des Körpers, gegen den Sturm marschierte, sehr bald völlig erschöpft einhalten und froh sein mußte, nicht rücklings zu Boden geworfen zu werden. Ging er aber seitlich, was den Beinen die Technik abforderte, einen Fuß nicht vor, sondern über den anderen zu setzen, kam er gut voran. Dank dieses Wissens war er, der Elfjährige, der einzige aus der vierköpfigen Ausflugsgesellschaft, der überlebte.

Zacharias Sarani erinnerte sich, daß man ihn, auf der Suche nach einer Erklärung, mit Fragen überhäufte. Doch er schwieg. Man hielt ihm zugute, er müsse von den Ereignissen zermürbt sein, und stellte keine Fragen mehr. Erst Jahre später, in Österreich, dem neuen Freund gegenüber – hatte er Freund gesagt?; dieser Fehler durfte ihm nie wieder unterlaufen –, gab er die eine und andere Einzelheit preis und sprach, meist belustigt, über die Folgen jener Katastrophe. Er erzählte dem Österreicher, was damals schon die Rettungsmannschaften festgestellt hatten, daß das Auto, das der Onkel lenkte, zwanzig Kilometer vor dem Ziel defekt liegen blieb. Die Nockenwelle war gebrochen.

Wäre das sechzig Kilometer vor dem Reiseziel passiert, sie wären schicksalsergeben im Auto sitzen geblieben, hätten gewartet, bis im Lauf des Tages ein Fahrzeug vorbeikam und sie zur Oase mitnahm, von wo aus sie per Funk wieder an die Welt der Abschleppdienste und hauseigenen Chauffeure angeschlossen gewesen wären. Die läppischen zwanzig Kilometer aber glaubten sie zu Fuß zurücklegen zu können. Niemand, auch er nicht, ein Sandsturm war nicht abzusehen, hatte einen Einwand.

Man fand von seinen Gefährten nicht einmal eine Spur, sie blieben verschollen. Seine Brüder waren siebzehn und achtzehn Jahre alt, der Onkel, der jüngere Bruder von Saranis Vater, stand im vierundvierzigsten Lebensjahr. Bei der Suche nach ihnen scheute der ägyptische Staat keine Mittel, auch Militär wurde eingesetzt. Zeitungen und Radio behandelten den Fall als nationales Ereignis, man konnte sich an eine ähnliche Suchaktion nicht erinnern.

Nach zwei Wochen gab man auf, und das nationale Ereignis, an dem das Land sich gelabt hatte, wandelte sich zur nationalen Katastrophe. Alle Schuld wurde den Suchmannschaften, hauptsächlich dem Militär, zugeschoben. Es wirkte auf die Stadtbewohner in der Tat lächerlich, daß drei Menschen, die in der Nähe eines defekten Autos, das man bald gefunden hatte, verschwunden waren, von Aberhunderten Soldaten nicht, auch nicht tot, gefunden wurden.

Wenn in Kairo nur zwei Menschen beieinanderstanden, wurde in den ersten Tagen, nachdem der Mißerfolg zugegeben worden war, aufgeregt und lautstark bramarbasiert über die, selbstverständlich vorauszusehende, Unfähigkeit des Militärs. In den Tagen darauf war die Rede bereits von dessen Unwillen. Hohe Offiziere hätten in dem weiträumig abgesperrten Gebiet – warum abgesperrt, fragte man sich – genau dort suchen lassen, wo die Vermißten gewiß nicht zu finden gewesen wären. Das Militär, das dem Königshaus feindselig gegenüberstehe, darin kulminierte das Meinungsgebräu, habe die drei Mitglieder der königstreuen Familie Sarani mit Absicht sterben lassen.

Man verdammte das unfähige Militär, mit Emporkömmlingen an der Spitze, welche dem König die Gunst, aufsteigen zu dürfen, damit vergalten, schon im nichtmilitärischen, im Katastropheneinsatz zu versagen – wenn nicht überhaupt illoyal zu sein. Der König wies die Kritik am Militär nicht zurück, er schien sie zu billigen, ja man hatte den Eindruck, daß er sie genoß.

Da geschah Unerhörtes. Flugzettel wurden verteilt, zuerst im Basar; Flugzettel des Inhalts, das Militär habe bei der Suchaktion nichts anderes getan, als den Befehlen ihres Oberbefehlshabers, des Königs, zu gehorchen. Offensichtlich wälzten die Offiziere die Schuld, die ihnen von der Bevölkerung aufgehalst wurde, auf den König. Das öffentlich zu tun wurde von der Bevölkerung als Hochverrat empfunden, und man erwartete die Verhaftung und Erschießung der Schuldigen. Der König aber sprach von den Offizieren als von seinen Kindern, die nach und nach erwachsen würden und entsprechend aufbegehrten.

Zacharias’ Vater hatte im Familienkreis den König als weise gelobt und bedauert, daß dessen Tage gezählt seien. Ist der König krank? wurde erschrocken gefragt. Der Vater schüttelte den Kopf, und dabei beließ er es. Dem König jedoch sagte er sehr bestimmt, wie er später seiner Frau und dem Sohn erzählte: daß jene Flugzettelaktion der Vorbote eines Militärputsches sei. Der König sah das auch so. Ob Vorkehrungen zu treffen seien, fragte der Vater. Der König schüttelte den Kopf. Er hing der Auffassung an, das gute Alte, das er repräsentiere, sei auf jeden Fall schlechter als das noch so schlechte Neue.

Einzig der Onkel hätte an diesem Gedanken Gefallen gefunden. Er war erst dreiundvierzig, als er starb, zwanzig Jahre jünger als der König, und doch dessen bester, manche sagten, einziger Freund. Der Onkel, von Kindheit an dem Klavierspiel verfallen, hatte fünf Jahre an der Wiener Musikakademie eine Meisterklasse besucht. Seine Lehrerin, die wegen ihres Sarkasmus gefürchtete Franziska Huppert, war aus Überzeugung antipädagogisch. Zur Begrüßung sagte sie jedem Schüler – Schülerinnen nahm sie nicht, sie war extrem frauenfeindlich –, er möge sich stets vergegenwärtigen, daß er eine Zumutung für die Musik sei. Gleichwohl hatte sie weltweit den Ruf, die beste Lehrerin zu sein, insbesondere für die Interpretation Schuberts.

(…)