Harry
Anfang des Romans
Ich gebe Ihnen einen Rat: Schreiben Sie dieses Buch nicht.Das ist keine Art, jemanden zu begrüßen, ich weiß. Aber wenn ich es nicht gleich sage, finde ich dazu vielleicht keine Gelegenheit mehr, heute abend. Denn Sie – wenn Sie erst einmal loslegen! Und es könnten Wochen vergehen, bis sich wieder eine Gelegenheit ergibt.
Passen Sie auf, Ihre Jacke. Ich würde sie nicht über den Sessel hängen, der Boden ist frisch geölt. Geben Sie her, dort ist ein Haken.
Gemütlich finden Sie es hier?
Ich nicht. Nein, da haben Sie mich falsch verstanden, das ist nicht mein Stammlokal. Wie kommen Sie darauf? Ein Vorstadtgasthaus, eines von vielen im 10.Bezirk, laut, stinkend, und besonders laut, wie Sie hören, am Samstag abend. Diese alten Männer. Sie überschreien einander, als könnten sie ihren Geruch übertönen. Den Uringeruch. Und am Schanktisch die jungen Alkoholiker. Sie saufen sich lieber schon jetzt kaputt.
Ich weiß, Sie haben Verständnis für diese Leute. Weil Sie nicht zu ihnen gehören. Aber ich gehöre zu diesen Menschen, und deshalb habe ich kein Verständnis für sie. Ich gehe hierher, weil man hier gut und billig isst. Aus keinem anderen Grund.
Ach, wegen der halben Stunde. Ich bin es gewohnt, dass Sie zu spät kommen.
Nein, das ist kein Vorwurf, das ist eine Feststellung, ein Vorwurf wäre fehl am Platz. Sie sind es schließlich, der nie Zeit hat. Und außerdem, es ist kurzweilig, auf Sie zu warten. Sich vorzustellen, dass Sie vom Schreibtisch nicht wegkönnen, weil Sie einen Einfall haben.Vielleicht sogar einen brauchbaren. Oder dass eine Besprechung Sie aufhält.
Ich kenne auch niemanden außer Ihnen, der Besprechungen hat. Sie schauen mich ungläubig an. Vom Sehen kenne ich solche Leute, aber nicht persönlich. Vom Sehen natürlich, ich habe schon in vielen Betrieben gearbeitet. Dort sitzen ein paar bei Besprechungen und arbeiten nie, die andern arbeiten immer und gehen nie zu so was. Bei Ihnen ist das anders, ich weiß, Sie arbeiten in keinem Betrieb.
Sie finden, dass ich heute anders bin als sonst? Spitz und aggressiv? Das finde ich auch. Aber keine Sorge, ich will Sie nicht vertreiben. Schließlich habe ich Sie hierher gebeten.
Ob Sie jetzt hier sitzen?
Ich verstehe Ihre Frage nicht. Ach so. Weil ich behauptet habe, Sie hätten nie Zeit.
Bitte, wenn Sie unbedingt darüber reden wollen.
Das ist eben mein Eindruck: Als Schriftsteller können Sie frei über Ihre Zeit verfügen. Einerseits. Andererseits haben Sie keine Zeit. Also verfügen Sie über gar nichts.
Im Ernst. Das ist keine Übertreibung. Immerhin beobachte ich Sie schon lang genug. Doch. Das ist das richtige Wort. Beobachten.
Und das Ergebnis? Die Ergebnisse wollen Sie wissen? Ein paar habe ich schon genannt. Daß Sie das Buch über mich nicht schreiben sollen. Daß Sie keine Zeit haben. War noch etwas? Wie bitte?
Meine Zeit?
Keine schlechte Frage. Ich habe viel Zeit. Völlig unabhängig, ob ich arbeite, wie gerade in dieser Woche, ob ich im Krankenstand bin oder arbeitslos. Sicher, Sie haben recht, das Zeithaben ist eine Sache der Fakten. Aber auch eine des Gefühls. Würde ich sechzehn Stunden arbeiten und acht Stunden schlafen, dann hätte ich nicht das Gefühl, viel Zeit zu haben. Nach acht Stunden Arbeit aber ist das Loch bis zum nächsten Arbeitsbeginn groß genug. Da kann dieses Gefühl sich ausbreiten. Ein blödes Gefühl.
Nein, seien Sie mir nicht böse, darüber möchte ich jetzt nicht sprechen. Auch nicht über die Zeit. Wir haben uns lang genug damit aufgehalten. Außerdem sagte ich schon: Es macht mir nichts aus, dass Sie eine halbe Stunde zu spät gekommen sind.
Endlich bringt er den Wein. Mein Mund ist schon ganz trocken vom Reden. He, Wirt, die Speisekarte können Sie ruhig hier lassen. Wir suchen später was aus. Also Prost. Schmeckt er Ihnen? Nein?