Was ist Kunst
Kunst ist die Darstellung der Welt. Die Philosophie, sagt Hegel, deutet die
Welt, die Wissenschaft analysiert sie, die Kunst stellt die Welt dar. Was aber
ist Darstellung? Ein rätselhafter Begriff. Ihm nachzuspüren heißt, das Rätsel,
was Kunst ist, zu ergründen.
Das Schöne am Nachdenken über Kunst: Man nähert sich mit Begriffen einem
Phänomen, der Kunst, das sich seiner Natur nach der Erklärung durch Begriffe
widersetzt. Kunst kann einerseits nicht begriffen werden, andrerseits verlangt
sie danach, daß man sie begreift. Dieser schöne Widerspruch macht den Reiz des
Ästhetischen, des Schönen, aus.
Ein beachtlicher Versuch, die Frage, was Kunst ist, zu beantworten, stammt von
dem venezianischen Schriftsteller und Maler Marco Boschini, einem Zeitgenossen
Tizians. Er schreibt über dessen Werk, es sei geradezu der Spiegel der Natur,
nur daß der Spiegel lediglich Abbilder gebe, während Tizian Neues schaffe.
Der Spiegel gibt lediglich Abbilder. Warum aber hebt der Autor hervor, Tizians
Werk sei geradezu der Spiegel der Natur? Spiegel der Natur zu sein wohnt
offenbar dem Kunstwerk inne. Beschränkte es sich aber darauf, Abbild,
Widerspiegelung zu sein, käme kein Kunstwerk zustande, nur Kunstgewerbe. In der
Kunst steckt beides: Spiegel der Natur zu sein - und Neues zu schaffen.
Hegels Diktum von der Kunst als Darstellung der Welt zielt auf dieses Neue.
Abbild ist, was man ohnehin kennt, das Immergleiche. Einerseits gehört es zur
Kunst, Abbild zu sein, andrerseits ist sie der Feind des Immergleichen. Nicht um
Abwechslung zu schaffen, wendet sie sich dagegen, sondern um das Immergleiche:
das Bestehende, die Welt, wie man sie vorfindet, zu überwinden.
Denken über die Welt ist Wunschdenken. Dem Nachdenken liegt eine Vorentscheidung
zugrunde. In der Welt wuchert ein Geschwür: der soziale Gegensatz, der die
Gesellschaft formt. Dieser Gegensatz - der Herr oben, der Knecht unten -
bestimmt die bisherige Geschichte. Sie ist ein fortwährender Kampf. Der Herr
verteidigt seine Macht, der Knecht begehrt gegen die Unterdrückung auf.
Dem Denken liegt die Vorentscheidung zugrunde, sich entweder auf die Seite des
Herrn oder auf die des Knechts zu stellen. Selbst dem nachdenkenden Knecht
bleibt diese Entscheidung nicht erspart. Er kann sich dem Herrn unterwerfen oder
gegen ihn aufbegehren. Widerstand zu leisten bedarf großer Anstrengung, wer sie
nicht aufbringt, fällt in den Dämmerschlaf ewiger Knechtschaft. Ein Denken, das
sich auf die Seite der Herrschaft stellt, ist kraftlos. Es feiert das Bestehende
und lehnt, was Musil die möglichen Wirklichkeiten nennt, als umstürzlerisch ab.
Die Kunst als Feind des Immergleichen ist Gegner des Bestehenden. Ist sie für
diese Gegnerschaft zu schwach, gibt sie nur ein Abbild dessen, was ist, und
bleibt im Kunstgewerblichen stecken. Denken ist insofern Wunschdenken, als es
unterscheidet zwischen der Welt, wie sie ist, und einer Welt, wie sie sein
sollte. Letztere ist der Samen, aus dem, gesät in den Boden der Kunst, jene
Pflanze hervorsprießt, die man das Neue nennt.
Die Philosophie stößt, wenn sie die Welt deutet, auf eine Gesellschaft sozialer
Gegensätze. Die Philosophie wird von dieser Gesellschaft geprägt und bringt ein
Denken in Gegensätzen hervor. Dieses nennt man Dialektik. Die dialektische
Bewegung begleitet als urteilende Instanz die Geschichte der Kunst.
Zwei Richtungen sind in dieser Geschichte auszumachen: eine, welche die
gesellschaftlichen Gegensätze konstatiert, sich aber nicht mit ihnen abfindet,
sondern sie zu überwinden trachtet; und eine andere, welche die Gegensätze als
naturgegeben hinnimmt und Herrschaft zum Schicksal verharmlost.
In allen Epochen der Kunst finden sich diese zwei Strömungen, eine klassische
und eine romantische. Die klassische ist emanzipatorisch, sie ist der Idee der
Befreiung der Menschheit verpflichtet und strebt die Entfaltung des Individuums
an. Der Mensch ist für sie die Hauptsache. Die romantische Richtung hingegen
degradiert den Menschen zum Ornament, zur Nebensache.
Unter Klassik und Romantik werden hier nicht eigene Stilepochen verstanden wie
zum Beispiel die Klassik des späten 18. Jahrhunderts, auf welche die Romantik
folgte, sondern Entwicklungen, die in allen Epochen präsent sind, manchmal
direkt gebunden an fortschrittliche oder restaurative Entwicklungen der
Gesellschaft, manchmal den politischen und ökonomischen Ereignissen vorauseilen,
dann wieder hinterherhinken.
In den Werken Tizians und Tintorettos prallen die klassische und die romatische
Richtung zur gleichen Zeit aufeinander. Im Venedig des 16. Jahrhunderts gelangt
die Malerei in den Jahren der Hochrenaissance zu einer herrlichen Blüte. Die
Republik Venedig, die als Adelsrepublik mit dem Widerspruch von Adel und
Republik gut zurechtkommt, hat ihre Hochzeit bereits hinter sich. Nach außen hat
die wirtschaftliche und militärische Expansion eine Grenze erreicht, im Inneren
strebt die Regierung, um einen Aufruhr zu verhindern, nach sozialer Befriedung.
Einer Rebellion hielte die kleine Republik nicht stand. Die Regierung gönnt dem
niederen Adel, den Bürgern und den Handwerkern stattliche Gebäude, Scuolae, in
denen sie sich versammeln und organisieren und wo sogar erste Schritte gesetzt
werden, um eine Sozialversicherung einzurichten.
Während Florenz und Rom von Kämpfen zerrissen sind, tritt in Venedig Stillstand
ein, und wie immer in einer solchen Situation macht sich in der Gesellschaft das
Empfinden breit, es gehe bergab. Wie reagiert die Malerei darauf? Tizian stemmt
sich gegen diese Entwicklung. In der Himmelfahrt Mariä, einem riesigen Gemälde
in der Kirche Santa Maria dei Frari, entschwindet Maria mit einer großen Geste
des Bedauerns. Ihre Zeit auf Erden ist vorbei. Die Menschen, die sie zurückläßt,
versinken nicht in Schmerz. Einige lassen Maria und mit ihr die gute alte Zeit
zwar widerwillig ziehen, sind aber umgeben von anderen, welche die Szene mit
Interesse beobachten, ohne sonderlich beeindruckt zu sein. Eine Ära geht zu
Ende, eine neue Zeit zieht herauf. Die Beobachter sind starke Individuen, die
sich nicht beugen lassen. In Tizians Gemälde zeigen sie sich in kraftvoller
Gestalt und wunderbaren Farben.
Schräg gegenüber der Frari-Kirche die Scuola di San Rocco: ein pompöses
Versammlungsgebäude des niederen Adels, der Bürger und der Handwerker, dessen
Festsaal Tintoretto mit Wand- und Deckengemälden ausgestattet hat. Ein kleiner
Nebenraum ist der Kreuzigung Christi vorbehalten, einem Werk, programmatisch
nicht nur für die übrigen Bilder in diesem Haus, sondern auch für Tintorettos
Abkehr vom klassischen hin zu einem radikal romantischen Stil.
Die Nebensache triumphiert. Das Kreuz liegt noch auf dem Boden, Christus streckt
dem Betrachter die Fußsohlen entgegen, Seile und Spaten liegen umher. An der
Kreuzigung sticht weniger ins Auge, daß jemand hingerichtet wird, als die Art
und Weise, wie dies vonstatten geht. Über den Wert eines Kunstwerks entscheidet
aber bekanntlich das Wie und nicht das Was. Das eine ist jedoch ohne das andere
nicht zu haben. Was deutlich wird, wenn man die rechte Bildhälfte von
Tintorettos Kreuzigung betrachtet, wo auf Pferden sitzende Offiziere sich
zusammendrängen, zu keinem anderen Zweck, als dem Künstler Gelegenheit zu geben,
die Körper der Tiere und der Menschen virtuos ineinander zu verschlingen.
Das Ergebnis, das Was, ist ein beeindruckendes Ornament, das Wie, der
künstlerische Wert des Gemäldes, ist kläglich. Der verlorene Gegenstand verliert
die Farbe, Malerei verkümmert zur grauen Zeichnung. Dem entsprechen die um das
Kreuz verstreuten Gegenstände. Der Realismus wird einem Naturalismus geopfert.
Die Tragödie der Kreuzigung geht unter in einer dramatischen Inszenierung, in
der Mensch und Natur, nun, da es um nichts mehr geht, so tun müssen, als ginge
es um etwas.
Realismus gegen Naturalismus, die klassische gegen die romantische Haltung –
dieser Widerstreit bestimmt die Entwicklung der Kunst: kein friedliches
Miteinander, sondern ein erbitterter Kampf, ausgefochten zuerst in der Malerei.
Sie war die fortgeschrittenste unter den Künsten. Die Musik hetzte erfolgreich
hinter ihr drein. Die Wiener Klassik schließlich überstrahlte alle anderen
Künste. Sie bildete eine Schule ebenbürtiger Meister, wie auch die venezianische
Malerei schulbildend war.
Adorno zufolge beginnt mit jenen Streichquartetten, die Mozart Haydn gewidmet
hat, der Vorrang der Komposition vor dem Musizieren. In den Jahren vor der
Französischen Revolution wird das Streichquartett zum Inbegriff der Emanzipation
des Bürgers: Vier Instrumente sprechen gleichberechtigt miteinander, keine
Stimme dominiert, keine duckt sich. Wenn vier etwas zu sagen haben und das
gleichzeitig tun, bedarf es höchster Kunst. Kein Ton zuviel, keiner zuwenig.
Dieses Idealbild der Gleichheit, in dem man sich miteinander, gegeneinander und
durcheinander zu Wort meldet, wird erreicht im vollendeten Kunstwerk. Dieses ist
wie alles andere auch eine Ware, aber eine besondere; es hat den denkbar
höchsten Gebrauchswert, also eine sehr strenge innere Ökonomie. Insofern ist das
Kunstwerk in der Warenwelt ein Störfaktor.
Der Höhenflug der Wiener Klassik endete mit einem Absturz, als nach der
Niederlage Napoleons die Errungenschaften der Französischen Revolution
liquidiert wurden und beim Wiener Kongreß die finsterste Reaktion in Gestalt des
alten Feudalismus an die Macht kam. Diese Katastrophe wurde auf geniale Weise
von Schubert in Musik gesetzt. Schubert, aufgewachsen in der Klassik, sah nun
das Ideal der Gleichheit zerbrechen. Der Bürger hatte nichts mehr zu reden.
Schubert empfand das als persönliche Niederlage. Er zerstörte Haydns
revolutionäre Sonatenform der Vielstimmigkeit, zeigte in schmerzhafter
Homophonie, daß es nichts mehr zu sagen gab, versank aber nicht in Verzweiflung.
Er gab dem Schmerz musikalisch eine fröhliche Gestalt. Mit dieser Demonstration
des Widerstands blieb er Klassiker. Die künstlerische Kapitulation überließ er
den Romantikern.
Das 19. Jahrhundert war die Epoche einer politisch-ökonomischen Perversion. Das
Bürgertum fand sich damit ab, politisch mundtot zu sein, und genoß es, sich
wirtschaftlich entwickeln zu dürfen. Sein Bewußtsein schrumpfte auf das eines
Wirtschaftstreibenden. Das Bürgertum kaufte Kunst.
Kaufen kann man nur, was es bereits gibt. In einem solchen Milieu ist Kunst, die
Neues schafft, nicht möglich. Das Neue war dem Bürgertum verhaßt. Es kaufte das
Alte, zum Beispiel die Gotik, und baute neugotisch. Es konnte sich nicht
satthören an der Musik Wagners, der in seinen Opern uralten Schwachsinn erzählte
mit dem Mittel des Leitmotivs, also der modernen Reklame – ein Labsal für den
Krämer.
Eine Befreiung von dieser gesellschaftlichen Rückentwicklung bringt erst die
Moderne, die aufkeimt, als die politische Dominanz des Feudalismus schwindet,
die Künstler aber auch nicht vergessen, mit welch geistiger Enge das Bürgertum
geschlagen war. Die ästhetische Moderne ist ein gewaltiger Bruch mit einer
unsäglichen Vergangenheit. In Wien, einem der Zentren des Neuen, begründeten
Otto Wagner die moderne Architektur, Schönberg, Berg, Webern die neue Musik,
Musil und Karl Kraus erheben die Literatur in den Rang der Sprachkunst.
Von da an ist die Entwicklung der Kunst bis heute eine Schlammschlacht gegen die
ästhetische Moderne - eine unerbittliche Konfrontation der klassischen Haltung
mit dem romantischen Gegner, welcher Menschenverachtung hochhält und die
Zerstörung der Kunst anstrebt, um sie mit dem Kapital zu versöhnen und sie, das
außergewöhnliche Produkt, zur gewöhnlichen Ware zu degradieren.
Diese Schlammschlacht wird, wie ihr Name sagt, mit niederträchtigsten Mitteln
geführt. Es ist eine Schlacht der Avantgarde gegen die Moderne, wobei die
Avantgarde die Lüge ausposaunt, die Moderne zu sein. Die Avantgarde wird kräftig
unterstützt von einem publizistischen Gesindel, das die Propaganda, der
Kunstbegriff müsse erweitert werden, mit einer Inbrunst verbreitet, als gälte
es, die Welt zu retten. Dabei ist es ihnen nur darum zu tun, das Kunstwerk und
mit ihm die Kunst abzuschaffen. Das Kunstwerk, das sich zwar dem Begriff
entzieht, aber des kritischen Urteils bedarf, wird der Beliebigkeit
preisgegeben. Kunst als Darstellung der Welt, bei Tintoretto zum Ornament
verflacht, soll überhaupt ein Ende haben.
Diese Tendenz der Avantgarde ist extrem politisch, weil die Avantgarde mit dem
Faschismus liebäugelt. Exemplarisch der Futurismus, der bald nach dem Ersten
Weltkrieg sich in Kriegsbegeisterung ergeht und alles und jedes, vor allem die
Kunst, zerstört sehen will. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzt der Wiener
Aktionismus ein starkes Zeichen. Kriegspropaganda, vorderhand passé, wird
ersetzt durch einen Künstlerkult, der sich vom Führerkult herleitet. Der
Künstler tritt vors Publikum, legt an seinen Körper Hand an und entleert ihn
nebenbei, das Ergebnis, das Kunstwerk, ist ein Gemisch aus Blut und Exkrementen.
Galt bisher, daß von einem vollendeten Kunstwerk zu sprechen sei, wenn der
Künstler in diesem gewissermaßen verschwinde, tritt nun ein neuer Maßstab in
Kraft. Der Künstler ist das Kunstwerk. Der Aktionismus der Nachkriegszeit wirkt
bahnbrechend. Kunst ist nicht mehr Darstellung der Welt, sondern Darstellung des
Künstlers. Sein Produkt, ob ein Häufchen Blut und Exkremente oder ein paar
Seiten Wortgeklingel oder ein paar Minuten Geräusche – das Produkt wird zur
Nebensache, zum Podest, auf dem die Hauptsache, der Künstler, throhnt.
Der Künstler, früher Warenproduzent, der eine Ware, ein Kunstwerk, herstellte,
wird selbst zur Ware. Er preist nicht sein Produkt an, sondern sich selbst.
Macht jemand eine Installation, legt er einen seitenlangen Text bei, in dem zu
lesen ist, worum es geht. Letztendlich um ihn, den Installateur. Autoren,
Autorinnen werden nicht müde, stundenlang Auskunft zu geben über ihr Werk,
letztendlich über sich selbst. Zwei österreichische Autoren, Selbstdarsteller
von weltmeisterlichem Format, stritten darüber, wer von ihnen einsamer war.
Das Pendant zu dem Künstler, der verlautbart, er sei alles, ist der Künstler,
der jammert, er sei nichts. Er wirft sein Zeug auf den Markt und ruft: Macht
damit, was ihr wollt, die Hauptsache, ihr macht was: Verdreht mir die Worte im
Mund, stellt den Sinn auf den Kopf, egal, ich gehöre ganz euch, die ihr wieder
anderen gehört. Gemeinsam huldigen wir der Resignation, wissend, daß das
Establishment uns dafür hofiert.
Der Künstler als Kunstwerk ist die Weiterentwicklung von Nietzsches Übermenschen
zum faschistischen Herrenmenschen. Die Nazis verloren Krieg und Führer, bildeten
einen großen Teil der Bevölkerung, eine stumme Masse, die Verbitterung und Wut
verströmte und so die Nachkriegsgesellschaft verpestete. Die Sehnsucht nach
einem neuen Führer war groß. Politiker kamen damals nicht in Frage, also
versuchte man es mit Künstlern. So bescheiden die politische Wirkung, so groß
war die geistige Verwüstung.
Otto Bauer beschäftigte sich im Exil mit den faschistischen Entwicklungen im
Europa der dreißiger Jahre. Er kam zu der Einsicht, daß ihnen eines gemeinsam
war: Der „geistige Sektor“ marschierte bei der Faschisierung voran. Heute ist es
nicht anders. Das Kultur- und Geistesleben steht rechts vom politischen
Rechtsextremismus. Die künstlerische Avantgarde überschattet die ästhetische
Moderne, kann sie aber nicht auslöschen. Die Avantgarde wird das Problem nicht
los: Die Moderne in ihrem Bemühen um Kunst ist der Maßstab, an dem die
Avantgarde gemessen werden müßte, mit dem Ergebnis: Avantgarde ist Schund.
Schund entbehrt nicht der Faszination. Man muß ihm nur den richtigen Namen
geben. Schüttet ein Maler Blut auf eine Leinwand, ist das erst interessant, wenn
das Bild als Schüttbild bezeichnet wird. Ein Wort für das Nichtssagende
beigestellt zu bekommen wird zum geistigen Erlebnis, der Betrachter zum
Kunstliebhaber. Er braucht nur das Wort „Schüttbild“ auszusprechen, schon ist er
meinungseins mit anderen Kunstliebhabern.
Zwei Heroen der ästhetischen Moderne sind Karl Kraus und Bertolt Brecht. Kraus,
für den die größte literarische Form der Satz ist, stellt an die Sprachkunst
Anforderungen wie Mozart an das Streichquartett. Ein dahingesagtes Wort, eine
nicht durchdachte Formulierung, ein verwackelter Satz und das ganze Textgebäude
kracht zusammen. Dieser Anspruch bedroht die literarischen Plappermäulchen in
ihrer Existenz.
Brecht war insbesondere in der Nachkriegszeit das Feindbild der Avantgarde.
Ionesco sprach das offen aus. Brechts Konzeption, man habe sich mit dem
Bestehenden nicht abzufinden, zu viele Gründe gebe es, die Welt zu verändern,
lehnte Ionesco nicht ab, behauptete nicht, die Welt sei menschenwürdig
eingerichtet, am Bestehenden sei also nicht zu rütteln, sondern fundierte seine
Position mit schlechter Metaphysik, in der Meinung, sich auf diese Weise
unangreifbar zu machen. In der Welt, verkündete er, lasse sich kein Sinn
erkennen, also entbehre auch die menschliche Existenz jedweden Sinns.
Die Sinnlosigkeit von allem und jedem wurde zum Schlagwort der
Nachkriegs-Avantgarde. Die Kritik erklärte sie begeistert zur aktuellen Moderne.
In Schwang kam, Samuel Becketts Werk kann nicht ausgenommen werden, ein
Spießbürger-Nihilismus, der Orgien von Vergeblichkeit inszenierte und sich in
Weltuntergangsphantasien suhlte. Kunst ist nicht mehr Darstellung der Welt,
sondern des Weltuntergangs. Sie wird zur Propagandistin jener Machthaber, die
keinen Hehl daraus machen, daß sie die Welt, sähen sie ihre Macht gefährdet,
ohne zu zögern in Schutt und Asche legten.
Das Neue, Lebenselixier von Kunst, ist nach wie vor suspendiert; das Neue,
verschwistert mit Weltveränderung, weicht der Weltflucht. Zivilisation,
Nährboden der Kunst, wird verteufelt als Dekadenz. Alles blickt auf den einsamen
Künstler, auf jenen Helden, der im Kampf mit der Kunst unterlegen ist und nun
dem Publikum, das im Kampf mit dem Verstand denselben verloren hat,
voranschreitet in den Untergang. Dort geht es, geduldete Fremde tischen
heimische Köstlichkeiten auf, lustig zu. Die siegreichen Verlierer werden
gespeist und abgespeist.