Michael Scharang

 

Literatur-
der lange Weg vom Kunstgewerbe zur Sprachkunst

In der Geschichte der Musik ereignet sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, wenige Jahre vor der Französischen Revolution, ein Beben, das eine tiefe Zäsur hinterlässt, welche die früheren Epochen von der neuen, heraufziehenden Zeit trennt. Adorno spricht vom Ende des Musizierens und vom Beginn des Vorrangs der Komposition. Ihm zufolge findet das Ereignis in jenen sechs Streichquartetten statt, die Mozart Joseph Haydn gewidmet hat.

Macht man sich auf die Suche nach einem vergleichbaren Vorgang in der Geschichte der Literatur, muss man sich durch die Zeiten graben und stößt, nachdem man die Hoffnung fast schon hat fahren lassen, in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts auf Karl Kraus, auf dessen Dritte Walpurgisnacht. Hier findet nicht das Ende des Musizierens statt, sondern das Ende des Geredes. An die Stelle des Vorrangs der Komposition in der Musik tritt in den Texten von Kraus der Vorrang der Sprachkunst. Ein formales Gefäß ähnlich dem des Streichquartetts hat Kraus nicht zur Verfügung. Die einzige Form, die er kennt, ist der Satz. Sprachkunst gelingt, wenn der Satz gelingt.

Dieser Anspruch ist so hoch, dass es größenwahnsinnig erscheint, ihm gerecht werden zu wollen. Andrerseits: ohne Größenwahn keine Sprachkunst. Die Alternative ist das Geplapper. Billig wäre es aber, die Literatur nach Karl Kraus, nur weil sie dessen Anspruch nicht erfüllt, als Geplapper abzutun, selbst wenn sie tatsächlich aus nichts anderem bestünde. Produktiver ist es, sich zu fragen, warum der Anspruch, Literatur möge sich zur Sprachkunst erheben, so wenig Faszination auf die Schriftstellergenerationen nach Karl Kraus ausübte. Einzig Robert Musil bewegte sich Richtung Sprachkunst, wobei ihm sein Essayismus zu Hilfe kam. Musil aber interessierte sich nicht für die Texte von Kraus. Die beiden standen in Wien als einsame Türme da, es gab nicht einmal Blickkontakt.

Anders als die Malerei, die in der Renaissance eine Blütezeit, anders als die Musik, die in der Wiener Klassik einen Höhepunkt erlebte, arbeitete die Literatur sich nur langsam und ohne dabei sonderlich zu glänzen aus dem Sumpf der Alltagssprache heraus. In früheren Jahrhunderten, in denen die meisten Menschen nicht lesen konnten, mangelte es ihr außerdem an Publikum. Die Theaterkunst hatte es naturgemäß leichter. Dieses lange, ruhmlose Dahinsiechen, dieses Fehlen von Glanzlichtern hängt der Literatur bis heute nach. Ihr Pendeln zwischen Resignation und Großsprecherei hat seine Ursache in dem aufreibenden und aussichtslos scheinenden Kampf gegen die Alltagssprache.

Die ist übermächtig. Literatur steht vor der Aufgabe, der Alltagssprache eine Sprachgestalt entgegenzustellen, in Form und Inhalt zu opponieren gegen das, was alle sagen. Ein undankbares Geschäft. Oder aber Literatur schmiegt sich der Alltagssprache an, protzt mit sprachlichen Ornamenten, um zu signalisieren, sie sei etwas Besseres, betreibt auf diese Weise ein gutes Geschäft, endet in der journalistischen Lohnschreiberei und verziert die Niedertracht mit dem Argument, anders könne sie nicht überleben. Als käme es darauf an, dass es eine Literatur gibt, die als sprachliche Ungestalt existiert.

Die Geschichte der Literatur ist eine Geschichte der Kapitulation. Lange vor der Lohnschreiberei erfand sie das Genre, eine vorgefertigte Form mit einem standardisierten Inhalt. Der Roman war noch nicht geboren, da steckten schon der Liebes-, der Abenteuer-, der Kriminalroman das Revier ab. Das literarische Genre ist ein geistiges Verbrechen. Literatur ist unterhaltsam, dient aber nicht der Unterhaltung. Das literarische Genre dient der Unterhaltung, ohne unterhaltsam zu sein. Es gehorcht einem Schema. Auch der Leser ist gehorsam, insofern er sich zum Sklaven des Schemas macht. So kompliziert und fintenreich Auflehnung ist, so einfach ist Unterwerfung. Der Liebesroman verspricht eine Liebesgeschichte und liefert sie zuverlässig. Überraschung ist ausgeschlossen. Solche Literatur ist nicht die Darstellung der Welt, sondern das Wiederkäuen der Klischees von der Welt.

Dass der Weg der Literatur derart gepflastert ist mit Genres und Klischees, dass Sprachkunst nur mühsam aufkeimen kann, hat objektive Gründe. Hegel nennt sie. Er bezeichnet die Poesie „als diejenige besondere Kunst, an welcher zugleich die Kunst selbst sich aufzulösen beginnt (…)“. Ein Satz, mächtig und rätselhaft. Er ist noch nicht zu Ende. Die Poesie ist also diejenige besondere Kunst, an welcher die Kunst selbst sich aufzulösen beginnt „und für das philosophische Erkennen ihren Übergangspunkt zur religiösen Vorstellung als solcher sowie zur Prosa des wissenschaftlichen Denkens erhält.“

Literatur ist also die Kunst, die sich selbst auflöst, indem sie zu philosophischem Erkennen fortschreitet und zur Prosa des wissenschaftlichen Denkens wird. Nur wenn sie diesen Weg geht, wird sie ihrer Bestimmung gerecht. Ihr Mittel ist die Sprache. Beschränkt sie sich auf die Alltagssprache, kommt sie nicht von der Stelle und verkümmert zum Genre. Deshalb entwickelt sie sich weiter zur Prosa des wissenschaftlichen Denkens. Eine Prosa, die sowohl in der poetischen Anschauung als auch im wissenschaftlichen Denken zu Hause ist, findet sich im Essay, im ebenso literarischen wie wissenschaftlichen Versuch. Der Essay, obzwar der Wissenschaft verbunden, ist eine literarische Form. Seine Wahrheit besteht in seiner Schönheit.

Das Lebenselixier des modernen Romans ist der Essay. Der Roman erforscht die gesellschaftlichen Verhältnisse. Er stellt sie aber nicht nur dar, wie sie sind, sondern macht Vorschläge, wie sie anders sein könnten. Im Unterschied zu den Wissenschaften, welche sich mit der Gesellschaft beschäftigen, greift der Roman zum Mittel der Erzählung, er erfindet Personen und stellt sie in eine Geschichte, welche in der realen Geschichte angesiedelt ist. Der Roman bricht aber immer wieder aus der Erzählung aus und wird, ohne dass die Romanpersonen verloren gehen, essayistisch. Die Figuren erörtern ihre Probleme, deren Hintergrund gesellschaftlicher Natur sind.

Goethes Wilhelm Meister ist der erste moderne Roman, der vorderhand letzte ist Musils Mann ohne Eigenschaften. Beiden Werken ist eine großartige Konzeption eigen, der Entwurf einer Totalität der Gesellschaft, welche zwar von Stagnation und Niedergang bedroht ist, der aber auch die Möglichkeit einer Entwicklung zum Besseren innewohnt. Goethe wird im Wilhelm Meister nicht müde, der Leserschaft Ratschläge zu erteilen, dafür zum Beispiel, wie Obstbäume zu veredeln seien. Der Dichter als Lehrmeister der Gesellschaft. Goethe musste erfahren, dass an einem solchen kein Bedarf war, was ihm zufolge getan werden sollte, verhallte. Was getan werden musste, bestimmte der Herzog von Weimar. Bürgerliche Aufklärung stieß an die Grenze feudaler Willkür, zerschellte aber nicht daran. Unverzagt machte Goethe Vorschläge, im Alter noch führte er den Jüngeren in den Wahlverwandtschaften vor Augen, dass das Schema, in welches die Gesellschaft die Beziehungen zwischen Mann und Frau presst, den Möglichkeiten menschlichen Lebens Hohn spricht.

Musil erwartet sich von der bürgerlichen Gesellschaft nichts mehr. Sein Mann ohne Eigenschaften ist es müde, den Möglichkeiten, welche in der Wirklichkeit schlummern, etwas abzugewinnen. Er versteigt sich zu der revolutionären Forderung, eine mögliche Wirklichkeit zu suchen. Und das in einem Roman. Also hat man kein Pamphlet zu erwarten. Die Erzählung entfaltet sich anhand eines Geflechts von Personen; die zentralen Figuren haben gute Gründe, vom Bestehenden nichts zu erwarten. Sie stehen nicht an der Spitze von Parteien, sind keine Revolutionsführer, was ihnen nicht das Recht nimmt, nach einer möglichen Wirklichkeit Ausschau zu halten. Das geschieht im Alltag, es vollzieht sich in Gesprächen – hier blüht der Essayismus, der Versuch, sich auf intelligente Weise gegen die Realität zu stellen.

Kunst, sagt Karl Kraus, ist das, was Welt wird, nicht was Welt ist. Literatur ist angesiedelt in der Gegenwart, findet aber in der Zukunft statt. Doch nicht in einer nebulosen. Gegenwart, das ist die Gesellschaft, wie sie ist, Zukunft ist die Gesellschaft, wie sie sein könnte. Niemals ist Literatur eine Bestandsaufnahme. Dieses langweilige Geschäft überlässt sie der Zeitgeschichtsschreibung, die in Faktenhuberei erstickt. Die Zeitgeschichtsschreibung dokumentiert alles, was ihr unterkommt, ohne Bewusstsein dessen, was sie tut. Literatur macht das Gegenteil: Basierend auf der Zeitgeschichte schreibt sie Geschichte. Sie geht aus vom Bestehenden und erzählt die Geschichte, wie jenes verändert werden kann.

Insofern ist Literatur politisch. Die beiden Momente, das politische und das sprachkünstlerische, machen Literatur aus. Eines für sich genommen, das politische, bleibt im Genre stecken und taugt im besten Fall zur Agitation. Das andere, das sprachkünstlerische, verkommt, auf sich gestellt, zur Wortspielerei, die sich damit brüstet, unpolitisch zu sein, in ihrem dekorativen Charakter aber reaktionär ist.

Literatur ist politisch, politische Literatur aber ist keine Literatur. Die alte Debatte über Literatur und Engagement erschöpft sich in der Forderung, Literatur habe politisch zu sein. Man begnügt sich aber nicht damit, den ehrenwerten Zweck zu erfüllen, agitatorisch und pamphletistisch zu wirken, sondern erklärt das Genre zur Kunst. Diese Debatte war und ist sinnlos.

Literatur ist Forschungsarbeit. Die Philosophie deutet die Welt, die Wissenschaft analysiert sie, die Kunst stellt sie dar. Die Forschungsarbeit der Literatur besteht darin, die Welt zu gestalten; sie zu beschreiben, abzubilden - zu dokumentieren, was ist -, wäre zu wenig. Das trifft auch auf die Malerei zu. Gestaltung bewegt sich weg von dem, was ist, zu dem, was sein soll. Literatur allerdings ist die einzige Kunst, welche den Satz Kunst ist die Darstellung der Welt sprengt. Sie bezieht die Philosophie, die Weltdeuterin, und die Wissenschaft mit ihrem analytischen Instrumentarium in ihre Forschungsarbeit ein. Was diese Ansammlung von Disziplinen zusammenhält, ist der Kunstanspruch. Je mehr Elemente, gewissermaßen Fremdkörper, Literatur in sich aufnimmt, desto höher muss ihr Kunstanspruch sein. Dabei geht es nicht um einen schönen Text, sondern um die Schönheit des Textes.

Maßstab ist die Sprache, sie verhilft dem Inhalt, dem Stoff, zur bestmöglichen Form. In der Kunst ist die Form der Inhalt. Literatur kommt zur höchsten Blüte im Werk von Karl Kraus, der schon deshalb kein Romancier war, weil er den Roman ablehnte – in diesem dominiere der Stoff auf Kosten der Sprache. Kraus war kein Erzähler und schrieb doch die schönste und tiefste Prosa. Er bewegte sich als großer Dichter außerhalb der Dichtung.

Nach Hitlers Machtergreifung schrieb Karl Kraus:„ Ich fühle mich wie vor den Kopf geschlagen, und wenn ich, bevor ich es wäre, mich gleichwohl nicht begnügen möchte, so sprachlos zu scheinen, wie ich bin, so gehorche ich dem Zwang, auch über ein Versagen Rechenschaft zu geben, Aufschluß über die Lage, in die mich ein so vollkommener Umsturz im deutschen Sprachbereich versetzt hat, über das persönliche Erschlaffen bei Erweckung einer Nation und Aufrichtung einer Diktatur, die heute alles beherrscht außer der Sprache.“

Diesem Satz aus der Dritten Walpurgisnacht gehen ähnliche voraus, ähnliche folgen ihm. Er ist kein Einzelfall, obzwar es angesichts der großartigen Verflechtung zahlreicher Themen zu einem kleinen Kunstwerk so scheinen könnte. Andrerseits: Jeder Satz dieses Werks ist ein Einzelfall. Der Autor sagt, die Nazidiktatur beherrsche alles außer der Sprache. Das Verhältnis von Karl Kraus zur Sprache ist weit davon entfernt, sie beherrschen zu wollen. Diese Eigenschaft ist nur das Fundament, auf dem der künstlerische Umgang mit Sprache aufbaut.

„Ich fühle mich wie vor den Kopf geschlagen, und wenn ich, bevor ich es wäre…“ Bevor ich es wäre? Eine geniale Verkürzung des Umstands, daß der Autor zu befürchten hat, von den Nazis tatsächlich vor den Kopf geschlagen zu werden. Weiter. „..und wenn ich (…) mich gleichwohl nicht begnügen möchte, so sprachlos zu scheinen, wie ich bin…“ Nie ist der Ohnmacht des Einzelnen angesichts diktatorischer Herrschaft mächtiger entgegengetreten worden.

Der Satz geht so zu Ende: „ (…) so gehorche ich dem Zwang, auch über ein Versagen Rechenschaft zu geben, Aufschluß über die Lage, in die mich ein so vollkommener Umsturz im deutschen Sprachbereich versetzt hat, über das persönliche Erschlaffen bei Erweckung einer Nation und Aufrichtung einer Diktatur (…)“. Erweckung und Aufrichtung, die Schreckenswörter, stehen hier als geschwisterliches Paar. Keine Erweckung ohne Aufrichtung und umgekehrt. Kraus meidet die übliche Formulierung Errichtung einer Diktatur als zu schwach.

Bläht das gesellschaftliche Ganze sich zu ungeahnter Größe auf - Erweckung einer Nation -, schrumpft das Individuum zur Bedeutungslosigkeit. Das Ganze ist das Unwahre. Dem Triumph des Ganzen entspricht das persönliche Erschlaffen des Einzelnen. Die Übermacht des Unwahren entmutigt den Einzelnen, die Wahrheit auszusprechen. Was bleibt, ist ein Rest an Mut, nicht mehr, nicht weniger. Karl Kraus nutzt diesen Rest.

Literatur, lehrt er uns, braucht Schriftsteller, die ein klares Bewusstsein vom Zustand der Gesellschaft haben. Musste man in der Diktatur um sein Leben bangen, so wird in nachdiktatorischen Zeiten die Existenz des Schriftstellers und Intellektuellen ökonomisch bedroht. Der freie Markt verfährt mit dem freien Künstler nach Belieben. Ein klares Bewusstsein vom Zustand der Gesellschaft zu haben heißt auch, eine Strategie zu entwickeln, wie man als Schriftstellerin, als Schriftsteller überleben kann, ohne zur Selbstzensur zu greifen. Die ist ohnedies ein schlechter Ratgeber, da sie nach dem Markt schielt, in der Irrmeinung, dieser sei eine Instanz, welche bestimmte Inhalte verlangt. Der Markt sagt aber nicht, was er will, sondern was er nicht will. Die Kunst des künstlerischen Überlebens besteht darin, auf den Markt zu bringen, was der nicht will, ohne von ihm hinweggefegt zu werden.

Bleibt die Frage an den Romancier, wie zu arbeiten sei, nachdem Karl Kraus dem Roman attestiert hat, in ihm dominiere der Stoff über die Sprache. Die Antwort ist einfach. Nach Karl Kraus sind an den Roman andere Maßstäbe anzulegen. Dieser hat ein Werk der Sprachkunst zu sein, in dem es auf jeden Satz ankommt, jeder Satz gelingen muß. Ein mißlungener Satz, und das Ganze bricht zusammen.

Dazu kommt Musils Forderung nach einer intelligenten Literatur. Die Voraussetzung dafür: daß der Schriftsteller kein Trottel ist. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Die Szene ist voll von Originalgenies, die stolz verkünden, nichts zu sagen zu haben. Dies ist das Entree in den Markt. Dem entgegen steht die Forderung nach intelligenter Literatur. In ihr wird die Welt erforscht und eine neue Gesellschaft konzipiert. Nicht in einem großen Programm, sondern in jedem Satz. Das macht diese Literatur witzig und unterhaltsam. Musils Mann ohne Eigenschaften wird außer in Österreich und Deutschland, wo er als schwierig gilt, als äußerst unterhaltsam geschätzt.

Musils Essayismus ähnelt in seiner gedanklichen Dichte und sprachlichen Brillanz den Texten der Dritten Walpurgisnacht. Befreit sich der Roman wie bei Musil vom Genre, steuert er unweigerlich auf Sprachkunst zu. Musil und Kraus haben einen Anfang gemacht und die Literatur in ungeahnte Höhen geführt. Heute steht man immer noch an diesem Anfang, staunend und lernend.

Die Meister, unterhaltsam und witzig, setzen, was den Witz anlangt, einen hohen Maßstab. Karl Kraus zeigte, daß der Witz nicht nur das Gegenteil des Humors ist, sondern dessen Todfeind. Goethe war humoristisches Erzählen unerträglich. Humor ist der Witz im Zustand von dessen Agonie. Der Humor versöhnt die Gegensätze auf schmierige Weise, der Witz spitzt sie zu. So nennt er zum Beispiel Kultursender geistige Zentren des Ungeistes. Der Witz zwingt zusammen, was mit allen Mitteln zweierlei sein will – das geistige Zentrum will dem Geist verschwistert sein, den Zwillingsbruder Ungeist verleugnet es. Der Witz bringt dieVerhältnisse ins Lot. Der Schriftsteller, dem es an Witz gebricht, der aber zunächst noch vor dem Humor zurückschreckt, rettet sich in die Pointe. Ist der Mangel an Witz so groß, daß der Schriftsteller witzig sein muß, ergibt das eine pointenreiche Literatur, die an Geistlosigkeit nicht zu überbieten ist.

Literatur, die sich auf Sprachkunst zubewegt, muß achthaben, nicht in die Falle des Aphorismus zu tappen. Der Aphorismus ist ein Kind der Sprachkunst, jedoch ein in seiner Entwicklung zurückgebliebenes, das nur sich selbst kennt. So ein Schriftsteller ist an Sprachkunst zwar interessiert, will sie aber nicht verwirklichen, sondern mit ihr glänzen. Er ist gefangen in seiner sprachlichen Selbstverliebtheit.

Unlösbar für die Literatur ist die Frage des Stils. Stil ist Zwang. Das Barock war die erste Epoche, welche einem totalen Stildiktat unterlag. Große Kunst versuchte, sich davon freizuhalten – zur Gänze gelang ihr das nie. Heute wird von der Literturkritik der Stil eines Autors gerühmt, wenn es um die dümmliche Wiederholung bestimmter Stilelemente geht. Bei besonders penetranter Wiederholung spricht man von der Musikalität des Autors.

Das Problem liegt tief. Anzustreben ist, dass der Künstler, indem er sich verwirklicht, hinter das Werk tritt. Dieses Bemühen wird konterkariert von dem Umstand, daß der Künstler an den Stil seiner Zeit gebunden bleibt, auch wenn er sich ihm nicht unterwirft. Der Versuch, Stillosigkeit zu demonstrieren, eine Lieblingsbeschäftigung der Postmoderne, ist nichts anderes als das Fortleben des Zwangs, verkleidet als Zwanglosigkeit. Ein Fortschritt, der im Rückschritt endet.