Michael Scharang

 

Das Wie ist das Was

Nach vielen Jahren veröffentlicht Michael Scharang in diesem Frühjahr wieder einen Roman Ein Interview von Hans Haider mit Michael Scharang.

Hans Haider:

Der Suhrkamp Verlag hat für März 2010 das Erscheinen des Romans „Komödie des Alterns" angekündigt. Dieser Titel löst Assoziationen in viele Richtungen aus. Hinter dem suggestiven Titel lässt sich eher eine lebenskluge Betrachtung erwarten als ein Roman.

Michael Scharang

Oder aber ein lebenskluger Roman - nein, das sicher nicht. Lebensklugheit, bei Goethe und Brecht noch lebendig, ist heute tot. Sie ist versteinert zum Götzen des positiven Denkens. Was den Titel „Komödie des Alterns“ betrifft: Er ist einfach und klar und auf Assoziationen nicht angewiesen. Die Komödie ist eine literarische Form, in der menschliche Schwächen dargestellt, Konflikte auf heitere Weise gelöst werden. Altern hat nichts mit Alter zu tun. Der alternde Mensch ist an einem Tag jung, alt und uralt. Der ideale Gegenstand für eine Komödie.

Warum das lange Schweigen als Erzähler, warum die Selbstbeschränkung auf kritisch-polemische Interventionen im Hamburger „Konkret" und in Tageszeitungen?

Das Verfassen von Polemiken und Essays ist für mich keine Selbstbeschränkung, im Gegenteil, ich empfinde es als Entfaltung, geistig wie sprachlich. Und es ist ein Teil des Kleinkriegs der Aufklärung gegen die gutverschanzte Reaktion. Da der Gegner übermächtig scheint, muss der literarische Kampf von höchster geistiger und sprachlicher Schärfe sein. Eine Polemik, ein Essay, selbst ein Leserbrief, die den Rang eines Kunstwerks nicht zumindest anstreben, taugen auch politisch nichts.

Und das Interview, ist es auch eine literarische Form?

Selbstverständlich. Das Interview, wenn es gelingt, ist die schönste Form des Aneinander-Vorbeiredens.

Es sind immerhin elf Jahre vergangen seit dem Erscheinen des Romans „Das Jüngste Gericht des Michelangelo Spatz“.

Diese elf Jahre waren eine sehr kurze Zeit. Um das Jahr 2000 begann ich mit meiner Tochter Elisabeth ein Drehbuch zu schreiben, aus dem dann der Film „Mein Mörder" wurde. Gute zwei Jahre haben wir daran gearbeitet. Im Jahr 2003 ist mein Sohn Andreas gestorben, er war erst vierzig Jahre alt. Angesichts des Widersinns, dass der Sohn vor dem Vater stirbt, fiel ich in eine Art Scheintod. Die Präsenz meiner beiden Töchter Nicole und Elisabeth, meiner Enkeltochter Lila und meiner Freundin Helene - vier starke Menschen - holte mich nach und nach ins Leben zurück. Ich habe also an dem neuen Roman nur fünf, sechs Jahre gearbeitet, und das ist, gemessen an dem künstlerischen Ziel, das ich mir gesteckt habe, eine kurze Zeit.

Haben sich die Bedingungen für die Dichter und ihre Leser in den letzten zehn Jahren verändert? Ich denke konkret an Strategien der Schreibenden und erinnere mich an Ihren Satz „Der Mut des Dichters ist der Übermut“. Er galt übrigens Peter Handke.

Um übermütig zu antworten: Die gesellschaftliche Entwicklung, die eine wirtschaftliche und ideologische Höllenfahrt ist, hat für meine Arbeit auch ihr Gutes. Der Kapitalismus verliert nach dem vorläufigen Ende des Sozialismus alle Skrupel und schafft sogar die Klasse ab, der er sich verdankt, das Bürgertum. Seither ist die ebenso alte wie beliebte antibürgerliche Attitüde in der Kunst lächerlich. Der Kapitalismus schafft aber auch sich selber ab, wie man Tag für Tag sieht. Also wird bald auch die von mir geliebte antikapitalistische Attitüde der Vergangenheit angehören. Die Fragen, die sich einem heutzutage stellen, sind revolutionärer Art.

Die „Achtundsechziger" werden heute gerne als Altutopisten bezeichnet und seit dem Beginn der Finanzmarktkrise wieder ernster genommen. Doch auch Alexander Kluge, einer von ihnen, sieht keine Alternative zum Kapitalismus.

Herr Kluge lebt wenigstens davon – wie sein reaktionäres Pendant Karl-Heinz Bohrer -, dass er keine Alternative zum Kapitalismus sieht. Tausende andere aber beten diesen Schwachsinn unbezahlt nach. Seit die Welt besteht, gibt es nichts, wozu es keine Alternative gibt - damit wird sich eines nicht fernen Tages auch der Kommunismus abfinden müssen.

Von Adorno stammt der Trost, man dürfe sich nicht von der Macht der anderen dumm machen lassen, und man dürfe sich von der eigenen Ohnmacht nicht dumm machen lassen.

Hier die eigene Ohnmacht, dort die Macht der anderen, das ist ein beliebtes Bild bei Adorno. Er setzt der Resignation ein Denkmal und macht damit einen Teil der Kritischen Theorie salonfähig. In Wirklichkeit ist es noch keiner Macht gelungen, den Menschen abzugewöhnen, die Macht zu untergraben.

Welchen Mächten treten Sie als Schreibender konkret entgegen, und welcher eigenen Ohnmacht?

Ohnmacht ist nicht mit Machtlosigkeit zu verwechseln. Der Künstler ist niemals ohnmächtig, aber immer machtlos, und schon deshalb an der Seite der Machtlosen. Ich trete auch nicht Mächten entgegen, sondern der Macht. Schon der bürgerliche Aufklärer hatte es nicht mit einzelnen Feudalherren zu tun, sondern mit dem Feudalismus als System. Im Kapitalismus ist es noch krasser, weil der Kapitalist nur ein Getriebener, ein Anhängsel des Systems ist. Einen einzelnen Bankgangster oder Unternehmerschurken oder Politikeridioten herauszugreifen wäre, selbst wenn man sie als Teufel darstellte, eine Verharmlosung, verglichen mit dem System, welchem sie angehören. Die künstlerische, die literarische Darstellung dieser Welt ist durchaus möglich. Auch wenn die Dichtkunst den einzelnen in den Vordergrund stellt, entzieht sich ihr das schreckliche Ganze nicht.

Die Welt als verbrecherisches System ist längst ein Lieblingsgenre der Unterhaltungsindustrie, Hollywood fährt auf jede Art globale Verschwörungstheorie ab. Und wirklich scheint das Weltgeschehen bisweilen den Phantasien der Drehbuchschreiber zu folgen, ich denke an „Towering Inferno“, an Filme über Präsidentenmorde und Geheimdienstterrorismus.

Die Unterhaltungsindustrie verarscht den Menschen, indem sie die Wirklichkeit, unter der er leidet, in lächerlicher Phantastik untergehen läßt. Das ist Verdummung und schützt das Establishment. Ich betreibe den Untergang des Establishments, die Unterhaltungsindustrie den Untergang der Welt. Das ist der Unterschied.

Im übrigen vermag nur die Kunst, niemals die Unterhaltungsindustrie oder das Kunstgewerbe, die Wirklichkeit darzustellen. Dazu kommt es allerdings nur im gelungenen Kunstwerk, also selten. Darstellung, das wird zu wenig bedacht, bedeutet immer Veränderung. Fürs erste ist also nicht entscheidend, dass die Kunst die Welt darstellt, sondern wie sie das tut. Das Wie ist das Was. Mit der Entscheidung für eine bestimmte Form entschließt der Künstler sich, wie er die Welt verändert haben will, nach vorn, lebenswert für alle Kreaturen, oder nach hinten, lebenswert für die Machthaber.

Damit wäre die Wahl der Form in erster Linie eine politisch-moralische Entscheidung?

Ich ziehe es vor, zu sagen: eine gesellschaftspolitische Entscheidung. Wählt der Künstler das Rückwärts, dann greift er zu bekannten Formen, etwa zu den Genres, zum Familien-, zum Kriminalroman, zum historischen Roman. Literatur als Genre aber ist geistiges Verbrechen. Die Unterhaltung beginnt in der Kunst bekanntlich dort, wo die Unterhaltung endet.

Oder der Künstler wählt den Weg nach vorn, womit er sich auf die Suche nach einer neuen Form und einem neuen Inhalt, also einer neuen Wirklichkeit begibt, auf das Terrain des Versuchs, des Experiments. Das erzählende Philosophieren Montaignes setzt sich fort im philosophischen Erzählen Diderots, Voltaires, Goethes, Musils, dessen „Mann ohne Eigenschaften“ ausdrücklich nicht an den Möglichkeiten interessiert ist, die in jeder Wirklichkeit stecken, sondern an der möglichen Wirklichkeit. Das ist ein revolutionäres Begehren.

Wer agiert in Ihrem Roman in welcher möglichen Wirklichkeit?

Die beiden Helden in der „Komödie des Alterns“ sind ein Ägypter und ein Österreicher, der eine hat in Österreich Maschinenbau studiert, der andere ist Schriftsteller. Nach den Lehrjahren in Österreich beginnen die Wanderjahre. Sie gehen nach Ägypten, gründen in der Wüste eine Farm und organisieren das Unternehmen gemeinnützig, man kann auch sagen sozialistisch. Das Bestehende, Kapitalismus und Religion, ist für die beiden bloß ein Dreckhaufen. Nur davor zu stehen und zu klagen, dass der Dreck stinkt - also die handelsübliche Kritik -, ist ihnen zu langweilig und zu unappetitlich. Die beiden sind radikal und kämpferisch, es mangelt ihnen aber auch nicht an Unernst und Übermut.

Warum haben Sie Ihre Methode verändert seit den ersten Romanen, seit „Charly Traktor“ (1973) und „Der Sohn eines Landarbeiters“ (1975)?

Die Art und Weise, wie ein Kunstwerk gestaltet ist, nenne ich Technik. Erstarrt die Technik zur Routine, wird sie zur Masche, vornehm ausgedrückt: zur Methode. Jedes Kunstwerk hat also seine eigene Technik. Da ein Kunstwerk ein Ganzes darstellt, in dem auch jedes Detail ein Ganzes ist, kommt es auf jedes Detail an. Scheitert der Künstler auch nur an einem Detail, ist das Ganze kaputt, egal, ob es sich um einen Roman handelt oder um einen Text von drei Zeilen. Dass sich bei einem Roman vor allem die Frage stellt, ob er als Sprachkunstwerk gelungen ist, scheint angesichts der massenhaften Schundproduktion, die unter dem Namen Roman ihr Unwesen treibt, vergessen worden zu sein. Auch scheint mir, dass der Roman seine Hoch-Zeit noch vor sich hat. Es gibt in der ästhetischen Moderne neben Musil kaum bedeutende deutschsprachige Romane. Und wem nicht in jedem Augenblick des Schreibens bewusst ist, dass Karl Kraus, was die Arbeit mit der Sprache, genauer: in der Sprache anlangt, neue Maßstäbe gesetzt hat, dem wird auch die Sehnsucht, ein Sprachkunstwerk zustandezubringen, fremd bleiben. Kurzum, ich habe mir für die „Komödie des Alterns“ einiges vorgenommen. Der Prolog des Romans ist geradezu ein ästhetisches Manifest gegen das Plaudern und Plappern im gegenwärtigen literarischen Biedermeier.

Sie leben in der Abgeschiedenheit einer Siedlung am Wiener Stadtrand, nahe am Marchfeldkanal. Ein neuer Roman in einem neuen Verlag an einem neuen Ort – Suhrkamp ist ja soeben nach Berlin übersiedelt – ist nolens volens mit einer gewissen Betriebsamkeit verbunden. Werden Sie Lesereisen machen, kommen Sie zur Leipziger Buchmesse?

Der Ort meiner Betriebsamkeit ist mein Schreibtisch. Wenn ich innerhalb von zehn Jahren einmal öffentlich auftrete, ist das viel. Ich lebe am Stadtrand in einer Wohnung der Gemeinde Wien, die Wohnung hat drei Räume, den Schlafraum, wo der Kunst der Liebe gehuldigt wird, die Küche, wo ich die Kunst des Kochens erprobe, und den Arbeitsraum, wo es um die Kunst des Schreibens geht. Diese Tätigkeiten füllen den Tag eines alten Mannes zur Gänze aus. Abgeschiedenheit? Meine Wohnung ist nur einen Steinwurf vom Weinort Stammersdorf entfernt. Enger kann man mit der Welt nicht verbunden sein.

Sie haben Ihre Aufsätze und Glossen aus den Jahren 1986/87 unter dem Titel „Das Wunder Österreich oder Wie es in einem Land immer besser und dabei immer schlechter wird“ herausgegeben. Das war damals eine Wendezeit, genauer: Die Sozialdemokraten wechselten ihren Koalitionspartner, auf die FPÖ folgte die ÖVP. Wie sehen Sie Österreich heute?

Eine Zeit mit einer anderen zu vergleichen ist nicht die eleganteste Weise des Erkennens. Doch sie ist nicht ohne Reiz. Bürgerliche Aufklärung und Emanzipation hatten nach jahrhundertelangem Kampf erstmals Erfolg in der Französischen Revolution. Aber nicht lange.

Die Monarchen und Bischöfe ganz Europas taten sich zusammen und bereiteten auf dem Wiener Kongress die größte und brutalste Konterrevolution der Neuzeit vor. Österreich war führend beteiligt.

Der Nationalismus im 19. Jahrhundert, dessen Siegeszug letztlich zum Hitler-Faschismus führte, berief sich leidenschaftlich auf die Französische Revolution. Die Verträge der Europäischen Union haben den Nationalismus um seine gefährlichste Wirkungsmacht gebracht.

Die Gründung der Europäischen Union war ein Fortschritt. Aber der Fortschritt ist nicht immer an der Seite des Fortschritts. Das europäische Kapital braucht eine einheitliche Währung und einen großen Binnenmarkt, um mit den USA konkurrieren zu können. Und um vielleicht einmal einen Weltkrieg gegen die verhaßten Amerikaner zu wagen.

Einige Zeit nach der Gründung der EU kapituliert der Kommunismus in Osteuropa. Beides, die neue EU und das Ende des realen Sozialismus, führt zu einer neuen Konterrevolution, die zuerst die Idee des Sozialen, welche man in Europa für unausrottbar gehalten hat, liquidiert und dann den Staat abschafft, indem dieser wie alles andere auch privatisiert wird. Österreich ist führend beteiligt.

Ich sehe den Staat heute wieder wachsen, dieForderung lautet: mehr staatliche Investitionen, die den Staat kurzfristig stärken, aber zuletzt wieder die privaten Gewinne steigen lassen.

Es ist vermutlich schlimmer. Es ist aber auch, ich gestehe es, amüsant, die herrschende Klasse bei ihrem Aufstieg zur herrschenden Kasse zu beobachten, wie ein Kalauer sagt. Das Kapital, vollends an der Macht, plündert den Staat aus und bestellt ein politisches Personal, das dazu beifällig nickt. Die Politiker sind nicht mehr die Komplizen der Macht, sondern deren Laufburschen. Sie rennen mit dem Blödsinn, den sie reden dürfen, zu den Medien, die auf eben diesen Blödsinn bereits warten. Politik und Journalismus wirken deshalb so verkommen, weil sie ein Überbau sind, den das Kapital nicht mehr braucht. Regierungen und Medien hält man sich nur mehr, weil die Leute sich daran gewöhnt haben. Es gibt auch schon Politiker wie zum Beispiel in Wien den Herrn Hahn, der offen zur Schau stellt, dass er von der eigenen Überflüssigkeit überzeugt ist. Äußert Hahn sich öffentlich, fällt die Öffentlichkeit eines ganzen Landes in einen tiefen Schlaf. Herr Hahn war zuerst Direktor eines Glücksspielkonzerns, dann wurde er ausgerechnet Wissenschaftsminister, vielleicht, weil im Kapitalismus die Wissenschaft eine höhere Form des Glückspiels ist. Nun ist er Kommissar in Brüssel, so dass der Glücksspielkonzern von Hahn als von seinem Mann in Brüssel sprechen kann, der so lange bleiben muss, bis dieser Konzern der größte in Europa ist. So ist Politik heute beschaffen. Keine Reform kann da helfen.

Und wie lebt man bis zur Revolution?

Bis es dazu kommt, bis ich mit neunzig zur Waffe greife, weil ich zum Schreiben zu müde bin, genieße ich den Vorzug, in einem Land zu leben, in dem Karl Kraus und Robert Musil gearbeitet haben. Solches Glück, als Schriftsteller aufbauen zu können auf der Sprach-, Dicht , und Denkkunst zweier überragender Meister, solches Glück hat man selten.


„Wiener Zeitung“, 30. 1. 2010
„Konkret“, Hamburg, März 2010