Michael Scharang

 

Das Jüngste Gericht des Michelangelo Spatz

 

Anfang des Romans

Sicher. Dieses Wort verdeint es, an den Anfang gestellt zu werden, denn es war das wichtigste Wort am Beginn dieser überstürzten Unternehmung.

In Wien war ich von einem Taxi, das keines war, und von einem Fahrer, der sich als Gauner erwies, sicher zum Flughafen gebracht worden.

Das Flugzeug hatte sich durch mich nicht aus der Ruhe bringen lassen und war sicher gelandet.

Der Zollbeamte war entgegen meiner Erwartung auf keine Notiz über mich – über meinen illegalen Aufenthalt in den USA vor dreißig Jahren – gestoßen, und obwohl ich ihm versicherte, ich empfände es als Glück, daß nichts gegen mich vorliege, schüttelte er nur den Kopf, und ich gelangte sicher durch die Passkontrolle.

Dann erst konnte ich mich an den Gedanken gewöhnen, in New York zu sein. Fünfzig, dachte ich, gute fünfzig habe ich werden müssen, um nach New York zu kommen. Dabei lebt meine älteste und beste Freundin hier. Nun aber, da ich hier bin, wird Maria in Wien landen, in dieser Stunde.

Am Vortag hatte sie mich angerufen. Sie müsse wegen Erbschaftsangelegenheiten nach Österreich. Morgen, am Ersten, würden die Gespräche beginnen. Es gehe um Millionen. Sie habe aber den Hund eines Freundes in Pflege. Und dieser Freund liege im Spital. Ich müsse die nächste Maschine nehmen und mich in New York um den Hund kümmern. Der sei vor einer Woche an der Hüfte operiert worden.

Eines war gewiß anders als in Wien, die Temperatur. In Wien war es regnerisch und kühl gewesen, und so hatte ich meine Jacke nicht in der Reisetasche, sondern am Körper. Ich schaute zum Himmel. Ich hatte, weil es so heiß war, gedacht, ich sei bereits im Freien. Das gläserne Vordach schaute zu mir herunter. Ich verstand: Das Dach schützte die Menschen vor Regen, Schnee und Kälte, das war mehr als genug, es konnte sie nicht auch vor Hitze schützen.

Ich hatte aber noch nicht alles verstanden. Zwar wusste ich vom Hörensagen, daß in den USA, im Land des Individualismus, der einzelne wichtig ist, ich wußte aber noch nichts vom Unterschied zwischen einem Menschen, der wichtig ist, und einem, der sich nur wichtig macht. Und so war bislang immer ich es gewesen, der die Dinge betrachtete. In New York ging das nicht. Da betrachteten die Dinge mich.

Auf meiner ersten Fahrt vom Flughafen in die Stadt, in der ersten Straßenkurve: das kleine Holzhaus mit der prachtvoll bemalten Veranda und den Fenstern, die mit Brettern vernagelt waren. Das Haus wunderte sich über meinen verwunderten Blick.

Zwischen den schaukelnden Autos der ruhige Mittelstreifen: das von der Sonne verbrannte Gras und das löchrige Faß darauf, aus dem ein blühender Strauch wuchs. Sie hatten ihren Spaß, weil ich aussah, als würde ich verdursten.

Die Brücke aus Eisen mit einer Fahrbahn aus Eisengitter, die über asphaltierte Hausdächer hinwegführte: Sie staunte, wie jemand darüber staunen kann, dass die Dächer unten sind und die Fahrbahn oben.

Das Loch, das an diesem Tag ein Schlagloch war, am Vortag aber noch ein Vulkankrater gewesen sein musste: es schüttete sich aus vor Lachen, als es sah, wie ich im Taxi mit dem Kopf gegen das Dach prallte, es spie dabei aber keine Lava aus. Das, beschied es mir, mache es nur nachmittags zwischen drei und drei Uhr dreißig. Es war aber schon fünf.

Die Ruine mit dem rauchenden Kamin, bei 30 Grad Celsius, hatte Mitleid mit meinem Mund, der offenstand, und sie schloß ihn mir mit der tröstlichen Mitteilung, sie, die Ruine, stehe hier als die Grundfeste der Erkenntnis, dass nichts wirklich nützt: Selbst wer schon im Sommer heizt, kann im Winter erfrieren.

Eine Yacht auf einem sprechenden Fluß: Wenn von uns beiden jemand ein Fluß ist, sagte er, dann Sie, und er stellte sich als East River vor. Er sei ein Meeresarm. Von der Yacht stieg ein Hubschrauber auf. Sie sind, sagte die Yacht, eine Nachricht, die nicht erwartet wurde und die niemanden interessiert. Da aber in einer Demokratie alle Nachrichten gleich behandelt werden, werden auch Sie mit dem Hubschrauber weiterbefördert.

Wohin, fragte ich, und der Taxifahrer verriß den Wagen. Ich schaute durch die Heckscheibe. Eine Leitschiene, in die einmal ein Auto gekracht war, lag zerbeult und verrostet am Straßenrand. Seit die neue Leitschiene geliefert worden war, dürfte schon einige Zeit verstrichen sein. Sie war noch nicht montiert und lag ebenfalls rostig am Straßenrand, ragte aber nicht so weit in die Fahrbahn wie die alte, zerbeulte.

Das schien mir eine Notiz wert zu sein. Doch jedes Mal, wenn ich dachte, nun sei der richtige Moment, ein Wort zu Papier zu bringen, fuhren wir durch ein Schlagloch, und der Bleistift, der auf dem Papier zu schreiben begonnen hatte, schrieb auf meiner Wange weiter. Was dort geschrieben stand, konnte ich aber nicht lesen, weil ich keinen Taschenspiegel bei mir hatte.

Wenn die Umstände, dachte ich, unter allen Umständen verhindern, dass ich erste Eindrücke festhalte, dann ist diesen ersten Eindrücken auch nicht zu trauen. Und die waren: New York wird eben erst gebaut. Aber auch: New York zerfällt bereits.