Michael Scharang

 

Harry

Kritiken

Heinrich Vormweg in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 6. 12. 1984

Dieser Harry provoziert dazu, sich handfest Gedanken über ihn zu machen, er lässt einen so leicht nicht los. Mit all den Spannungen in sich, seinen unausgegorenen Härten, in seinem eigenwilligen Stolz, seiner Unantastbarkeit, seinem abweisenden Bedürfnis nach Zuneigung, seiner skeptischen Erwartung ist er eine erstaunlich glaubwürdige Figur. Herausgefordert durch das Schicksal seines Sohnes, durch persönliches Leid, hat Michael Scharang sich mit den heute Jungen auf eine Weise auseinandergesetzt, die sonst jedenfalls völlig ungeläufig ist. Wie er ihnen sein Wort leiht, das weist über seine eigenen früheren Versuche, im Namen Sprachloser zu schreiben, deshalb hinaus, weil es aus einer Gewissheit geschieht, dass sie ihre Wörter selbst finden werden. Scharang hat eine Erzählung geschrieben, die belegt, dass mit diesem Schriftsteller noch immer und neu zu rechnen ist.

 

Werner Fuld in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 12. 9. 1984

Damit solche falsche Harmonisierung und Glättung eines an Brüchen reichen Lebens nicht wiederholt wird, breitet Harry also sein Lebenspuzzle vor dem Schriftsteller aus – und damit vor dem ihm über die Schulter schauenden Leser. Daß es sich in dessen Phantasie zu einem Bild zusammensetzt, ohne an Ecken und Kanten zu verlieren, verdankt es nicht nur der stilistischen Sicherheit Michael Scharangs, sondern auch dessen dramaturgischer Ökonomie. Sein Harry präsentiert seine Niederlagen ohne Selbstmitleid; er kann sich, ohne laut zu werden, in Szene setzen, und kein Satz ist überflüssig.

 

Ingeborg Teuffenbach in der „Tiroler Tageszeitung“ vom 22. 9. 1984

Hier wird stückweise ein Mensch zusammengesetzt, der im Dorf aufgewachsen, die ärmlichen Verhältnisse mitschleppt und sich nur langsam vom Merksatz der Mutter “Du stehst allein auf der Welt“ losgemacht hat. Das zu beschreiben ist nach Harrys Meinung unmöglich. Er schleust sich anhand von Stichwortnotizen durch die eigene Lebensgeschichte. Eine Abrechnung Michael Scharangs mit sich selbst. Mit der Waghalsigkeit, Wahrheit zu beschreiben.

 

Sigrid Löffler im „profil“ vom Jänner 1985

Vor allem erzählt Harry vom Lebensgefühl heutiger junger Leute – von seinem eigenen und dem seiner Freunde. Mal schlagen sie sich als Arbeiter durch, mal leben sie vom Kranken- und Arbeitslosengeld. Aussteiger aber sind sie nicht. Illusionslos, aber zäh nützen sie die Chancen, die sie gar nicht haben. Auch Harry führt solch ein experimentelles Leben, versucht „durch seine Verweigerung seiner gebrochenen Biographie treu zu bleiben“ (so der Kritiker Werner Fuld). „Mein Leben ist kein Abenteuer“, sagt Harry, „es ist ein Versuch“.

 

Lutz Tantow im „Rheinischen Merkur/Christ und Welt“ vom 5. 10. 1984

Aus der Perspektive des intellektuellen Underdog wird hier die Gesellschaft noch einmal gesichtet. Geschickt gelingt Scharang dies – wie schon in anderen Werken davor – mit den Mitteln der Sprachkritik. Ob in der naiven Kindersprache, jener des pubertären Schülers, des frühreifen Liebhabers oder der des Proleten – jedes Mal wird eine andere Gesellschaftsschicht sprachlich entlarvt.

 

Erasmus Schöfer in der „Deutschen Volkszeitung/die tat“ vom 5. 10. 1984

Scharang, der in „Harry“ das Porträt einer deklassierten, bis zum Zynismus (oder zur Resignation) verbitterten Jugend geschrieben hat, tat dies mit einer zornigen Liebe, die weder vom Zynismus, noch von der Resignation inspiriert ist. Hier ist ein Realismus am Werk, dessen Genauigkeit und Sehschärfe sich in vielen Details erweist (die ich dem Leser zu entdecken überlasse), ohne gesellschaftliche Entwicklungen aus dem Blick zu verlieren.

 

Heiko Strech im „Tagesanzeiger Zürich“ vom 28. 11. 1984

Wenig genügt, und der Aufsteiger steigt aus der Welt intellektueller Unredlichkeit und alltäglicher Korruptheit im großen und kleinen aus. Darin gleicht er dem „Emporkömmling“ in der gleichnamigen Erzählung seines österreichischen Schriftstellerkollegen Franz Innerhofer. Was beiden „Helden“ bleibt, ist die Sprache als Gerät zur Selbstfindung und Waffe der Selbstbehauptung.

 

Kurt Kahl im „Kurier“ vom 26. 1. 1985

Erzählt wird, wie man das Leben durchsteht mit einem Minimum an Chancen, als Dorfkind, ohne sorgenden Vater, ohne materiellen Rückhalt. Wie man sich durchsetzt gegen Lehrer und Begüterte, wie man die Neugier nach dem anderen Geschlecht stillt.
Kein Entwicklungsroman. Harry will nichts werden, manchmal verweigert er sogar die Arbeit. Ein Unfall passiert, bei dem ein Freund gelähmt wird, vielleicht durch Mord.
Manches bleibt offen, nur angedeutet. Harry, könnte Michael Scharang sagen, ist halt doch kein Schriftseller.

 

Paul Kruntorad

Harry emanzipiert sich damit nicht nur von der Literatur als manchmal unerbetener Mitteilung über fremde Geschicke, sondern auch von dem Bedürfnis, sich in die Gesellschaft einzubinden. Er braucht seine Existenz nicht zu legitimieren, er ist sich selbst genug, so wie er ist. Mit dieser Erzählung über einen selbstgenügsamen Aussteiger hat Michael Scharang jedenfalls in dem Rennen, dessen Hindernisse er sich selbst gestellt hat, eine neue Bestleistung erzielt.