Der Klassiker
Zum 70. Geburtstag von Peter Turrini


Peter Turrini ist ein Klassiker. Sein Werk ist maßgebend. Es ist auch überprüfbar, ja es verlangt danach, überprüft zu werden. Es hat nichts zu verbergen, es arbeitet weder mit faulen noch üblen Tricks, es überwältigt nicht, es übertölpelt nicht. Wort für Wort kann man diesem Werk folgen, es täuscht nicht raunend Tiefsinn vor, doch gibt es sprachlichen Stumpfsinn dem Gelächter preis.

Kurzum, Turrini unterhält die Zuschauer und Leser, ob mit einem Theaterstück, einer Erzählung, einem Gedicht, einer Rede, einem Essay. Er schulmeistert nicht, er unterhält auf nachdenkliche Weise, wissend, daß das die schönste Form der Belehrung ist.

Turrinis Werk ist Aufklärung. Daran beißt eine zahnlose Kritik sich die Zähne aus. Als Aufklärung hätte man gern für ewige Zeiten die bürgerliche Aufklärung. Die hat ihre große Zeit gehabt – vor einigen Jahrhunderten. Sie ist der geistige Antrieb der Französischen Revolution gewesen, in der die unterdrückte Klasse, das Bürgertum, die grausame Regentschaft des Feudalismus gestürzt und, wie man heute noch zu spüren bekommt, selbst ein menschenfeindliches Regime errichtet hat.

Das Bürgertum gäbe das letzte Hemd, glaubte man ihm die Lüge, die bürgerliche Aufklärung sei der Gipfel der Aufklärung – und deren Ende. Das Gegenteil ist wahr. Dieser Aufklärung erwuchs ein Todfeind, die sozialistische Aufklärung, die ungeniert den Sturz der bürgerlichen Herrschaft fordert. Kein Machthaber läßt sich so etwas bieten. Also wird sozialistische Aufklärung bekämpft, geächtet, verboten.

Dabei stellt sich heraus, daß diese neue Aufklärung unbesiegbar ist. Denn sie hat zwei starke Verbündete, die Wirklichkeit und die Wahrheit. Peter Turrini hat das früh erkannt und die beiden als Mitstreiter gewonnen, im Bewußtsein, daß er auch mit dieser Streitmacht den täglichen Kleinkrieg nicht gewinnen kann, jedoch überzeugt, daß er letztlich obsiegen wird. Der Kulturbetrieb, ein Werkzeug der Machthaber, formt aus Lakaien Genies und bekämpft die künstlerische Begabung als politische Gefahr. Turrini wurde Zeit seines Lebens bekämpft. Ohne Erfolg.

Der Dichter trennt sich von seinen Mitstreitern auch dann nicht, als die sich wie wüste Desperados aufführen. Die Wahrheit schreit durch das Lokal: Wahr ist, daß kapitalistisches Wirtschaften die Wirtschaft zerstört. Die Wirklichkeit brüllt an der Bar herum: Wirklich ist, daß die bürgerliche Gesellschaft die Gesellschaft ruiniert. Das bürgerlich-kapitalistische System schützt sich, indem es sich von solchem Aufruhr abschottet.

Das hat auch für die Kunst verheerende Folgen. Isoliert von Wahrheit und Wirklichkeit, droht sie zum Kunstgewerbe, zur Dekoration zu verkommen. Dieser Gefahr, die zum Dauerzustand geworden ist, begegnet Peter Turrini exemplarisch. Er läßt sich von nichts - das ist die Konstante seiner Begabung - den Blick auf die Wirklichkeit verstellen, von keiner Indoktrination, von keiner Ideologie. Und von keinem Trend. Der Trend ist bekanntlich der König des Literatur- und Theaterbetriebs. Jenes Publikum, das es sich noch leisten kann, sich über Konsum zu definieren, will in jeder Saison etwas Neues, die Dramaturgen entwerfen es, die Schreibtalente liefern es.

Die Begabung bleibt davon unberührt. Turrini bezieht eine Position, von der ihn keine Macht der Welt vertreiben kann. Denken - so die Überzeugung des Dichters -, das nicht von eigener Erfahrung ausgeht, taugt nichts. Diese Erfahrung bindet den Autor an die Wirklichkeit und schickt ihn auf Wahrheitssuche. Auf ihr, der Erfahrung, gründet das Kunstwerk, an dem er abeitet.

Kunst ist nicht Abbildung, sondern Gestaltung der Wirklichkeit. Sie geht von der Realität aus, schafft aber eine neue. Ist diese neue Wirklichkeit des Kunstwerks nach vorn gerichtet, fortschrittlich, an der Seite der Emanzipation der Menschheit, und ist das jeweilige Werk innerkünstlerisch geglückt, spricht man von klassischer Kunst. Ihr Widerpart, die romantische Kunst, steht im Dienst der Rückwärtsphanatsie, sie verlockt das Individuum, als Ornament in der Masse zu verschwinden, und zielt auch auf das Verschwinden des Kunstwerks.

Peter Turrini ist jede andere Haltung als die klassische fremd. Diese Haltung ist kämpferisch. Denn Klassik ist ein Kampfbegriff. Romantik und Klassik bestimmten Epochen zuzuordnen ist Unsinn. Diese beiden Strömungen gibt es, seit es Kunst gibt, von der Frühzeit bis heute. Sie sind gebunden an gesellschaftliche Entwicklungen. Elende Zeiten dürsten nach elender Kunst, in ihnen triumphiert die romantische Manier. Dem ein klassisches Werk entgegenzusetzen bedarf übermenschlicher Anstrengung. Turrini bringt sie auf. Das kostet mehr Kraft, als ein Mensch hat.

Seit hundert Jahren erscheint der Widerstreit zwischen Klassik und Romantik als einer zwischen Moderne und Avantgarde. Ein erster Höhepunkt war die Konfrontation zwischen Karl Kraus und Bertolt Brecht auf der einen, den Expressionisten auf der anderen Seite. Heute wird der Kampf ausgetragen zwischen Peter Turrini und jenen Theaterregisseuren, die sich herausnehmen, nach Belieben in das Werk des Autors einzugreifen, die aber auch in erbarmungsloser Konsequenz von Autoren Texte erzwingen, nur dafür geschaffen, daß Regisseure sich in ihnen austoben. Die Expression als sprachliche Willkür findet ihre Erfüllung in der aufdringlichen theatralischen Aktion. Das Werk verendet als Gesamtkunstwerk.

Der Sieg des Avantgardisten über das Kunstwerk ist immer auch ein Erfolg für die politische Reaktion. Der Avantgardist liebäugelt mit Krieg und Faschismus, soziale, gar sozialistische Tendenzen sind ihm verhaßt. Damit es ihm, dem künstlerischen Übermenschen, gutgeht, sollen die anderen verrecken. Er liegt den Machthabern zu Füßen und tritt dem Fußvolk ins Gesicht.

So sehen Turrinis künstlerische Nachbarn aus. Ihnen muß der Dichter nicht nur standhalten, er muß sie attackieren. Jedes Kunstwerk, das er schafft, braucht Platz, um sich zu entfalten. Den bekommt es nur, wenn es die Machwerke zurückdrängt. Ein ebenso notwendiges wie aussichtsloses Unterfangen.

Wer nimmt daran Anteil? Zumindest der Dichterkollege des Dichters. Sie wissen: Über Kunst zu reden ist selbst eine Kunst - und eine Sache unter Künstlern. Eine Öffentlichkeit hat es dafür nie gegeben. Der Kulturberichterstattung hingegen ist nichts fremder als die Kunst. Sie freut sich im Nachhinein über Turrinis Rebellion und jubelt im Vorhinein darüber, daß die Kraft des Dichters zur Auflehnung versiegen wird. Wie in allem irrt das Feuilleton auch darin.

Peter Turrinis Feinde sind mittlerweile an ihm zerbrochen. Dadurch wird er zu einer Institution, um die sich zwangsläufig Schranzen sammeln, die sich einbilden, an seinem Hof Hof halten zu können, als wäre er ihrer. Sie scheitern am Dramatiker Turrini. Er schreibt auch dieses Stück selbst.


„Bühne“, Wien, September 2014