Sie ließen die Arme hängen
Demokratie – daß ich nicht lache. Eine Parabel
Es war ein Mann, der zündete Häuser an, eins nach dem anderen. Er war der
Richter der Stadt. Alsbald waren die Brandstifter ausgeforscht. Es waren, hieß
es, die Bewohner der angezündeten Gebäude. Sie kamen vor Gericht. Sie hätten, so
der Vorwurf, die Stadt in Schutt und Asche legen wollen. Da sie geköpft wurden,
konnten sie auf den Vorwurf nicht antworten, aber auch die Gerichtsgebühren
nicht zahlen. Der Richter trieb die Gebühren ein, indem er die Grundstücke, auf
denen die abgebrannten Häuser standen, zu seinem Eigentum machte. Bald gehörte
ihm die ganze Stadt.
Das war für ihn kein reines Vergnügen. Da alle von seinen Verbrechen wußten, mußte der Mann alles daransetzen, damit die Leute so taten, als wüßten sie von nichts. Das bedurfte großer List. Aber auch die anderen waren auf der Hut. Jedem war klar, daß er, sagte er die Wahrheit, geköpft würde. Was aber, überlegte der Richter, wenn die Leute sich zusammentäten und die Wahrheit sagten? Er könne ja nicht alle köpfen. Wer würde ihm das Essen zubereiten, ihm die Schuhe putzen und sich vor ihm verbeugen?
Man hörte zu jener Zeit von Wunderdingen, die sich in der Nachbarstadt zutrugen. Von weither kamen Männer, die sich Priester nannten und Geschichten über einen strengen, aber gerechten Gott erzählten, Geschichten, an denen die Leute sich nicht satthören konnten. Denn sie litten unter einem ungerechten Herrscher, gegen den sie sich immer wieder erfolglos erhoben. Nun freuten sie sich über den gerechten Gott.
Der Richter holte einen der Priester. Er hatte noch nicht ausgeredet, da hatte der Priester das Ansinnen schon verstanden. Sogleich nahm er die Arbeit auf. Die machte ihm anfangs Freude, denn die Menschen sammelten sich um ihn und lauschten seinen Geschichten, die - endlich - mit der schrecklichen Geschichte dieser Menschen und der Geschichte ihrer Stadt nichts zu tun hatten.
So gab es eine Zeit, in der alle erlöst wirkten: der Richter, der sich freigesprochen fühlte, die Stadtbewohner, die sich befreit fühlten von der Erinnerung an die Verbrechen, und der Priester, der für gutes Geld Gutes bewirkte. Diese Zeit fand ein jähes Ende.
Eine Frau stieß die Stadt in die Wirklichkeit zurück. Eines Morgens stand sie vor dem Spiegel und erkannte sich nicht wieder. Sie, vormals eine Schönheit, war häßlich geworden. Und sie wußte, warum.
Sie war ein Mädchen gewesen, als sie, weil der Richter ihr Haus angezündet hatte, aus dem Fenster gesprungen und in den Ästen eines Baumes gelandet war. Dort wartete sie das Morgengrauen ab. Sie beobachtete, ohne daß sie, um sich nicht zu verraten, einen Entsetzensschrei ausstieß, denn unten wachten die Schergen des Richters und vertrieben die Gaffer - sie beobachtete, wie die Reste ihrer Eltern, ihrer vier Geschwister und anderer Hausbewohner in der Glutasche verkohlten.
Zu Mittag wagte sie sich vom Baum herunter, mit dem Ziel, sich in die Neustadt durchzuschlagen. Sie mußte durch durch das Zentrum der Altstadt, wo sie lange nicht gewesen war, entlang zahlreicher Baustellen, denn an der Stelle der niedergebrannten Häuser ließ der Richter, der zum Herrscher aufgestiegen war, Bauten errichten, die alles, was es schon gab, in den Schatten stellten.
Wo die niedergebrannte Bäckerei gewesen war, erhob sich eine Brotfabrik. Besitzer wurde ein Vertrauter des Richters, der durch das Drucken von Banknoten zu Geld gekommen war. Nun war er Fabriksherr. Der Bäckermeister, die Gesellen und die Lehrbuben wurden Fabriksarbeiter. Sie wohnten nicht über der Bäckerei, sondern hausten Zelle an Zelle in einer Zinskaserne. Der Hausherr, ein Freund des Fabriksherrn, hatte ein Vermögen gemacht, indem er landwirtschaftliches Gerät an Bauern verkaufte, die es nicht bezahlen konnten. Dafür nahm er ihnen die Ernte weg und den Hof.
Das Mädchen stahl sich durch die Altstadt, fortwährend wechselte es die
Straßenseite, denn an jeder Ecke stand ein Aufseher mit einem Prügel in der
einen und Flugschriften in der anderen Hand, Flugschriften, in denen die neue
Stadt gepriesen wurde. Denn wie jeder Machthaber war auch der Richter bestrebt,
vergangene Verbrechen mit Prachtbauten zu krönen und die gegenwärtige Schmach
als Kultur zu preisen.
Das Mädchen traute seinen Augen nicht. Die Brotfabrik und die Zinskaserne
glichen noch Häusern - was es aber nun sah, grenzte an Irrwitz. Der allerdings
hatte ein Vorbild. Der Zuckerbäcker der Stadt gefiel sich darin, die Torten aufs
absonderlichste zu verzieren, mit Säulchen und Figürchen, mit Göttern und
Göttinnen, mit Löwen, Adlern und Pferden. Der unbarmherzige Richter und seine
grausamen Helfershelfer waren entzückt von dem Zierat auf den Mehlspeisen, und
so lag es nahe, daß die Baumeister den Geschmack des Zuckerbäckers zum Baustil
erhoben.
Wie vor den Kopf geschlagen stand das Mädchen in einer neuen Straße, es konnte nicht fassen, vor sich riesige Torten aus Ziegel und Stein zu sehen, überhäuft mit Säulen, Statuen, Göttern, Göttinnen, Löwen, Adlern und Pferden. Drei Aufseher, darin geübt, entsetzte Passanten zu betreuen, umringten das Mädchen. Einer reichte ihm eine Tasse Tee, einer ein Butterbrot und einer eine Broschüre.
In dieser konnte das Mädchen lesen, welcher Sinn jenen Gebäuden zugeschrieben wurde. Eines hieß Staatsoper, ein Foto zeigte, was darin vorging: Ein Mann mit einem Stöckchen in der Hand schaute gen Himmel, während kostümierte Menschen auf der Bühne vor Erstaunen über diesen Mann den Mund aufrissen. Ganz anders das Foto aus einem Gebäude, das Burgtheater hieß. Es zeigte auf einer Bühne Menschen, die dankbar gen Himmel schauten, weil sie eine Hymne auf den Lauf der Welt zur Aufführung bringen durften, frisch verfaßt von Berndke und Handhard.
In der Broschüre waren noch andere Gebäude abgebildet, allesamt Parodien auf brauchbare Bauwerke. Doch trugen sie pompöse Namen: Museum, Rathaus, Musikverein, Universität, Parlament. Dem Richter und seinen Komplizen, die sich zu einer Regierung zusammenfanden, war es nicht um dieses oder jenes Gebäude zu tun, sondern um das erneuerte Ganze, das sie Kultur nannten. Auf diesem Fundament aus Lug und Trug sollte, um die Herrschaft zu sichern, eine Demokratie errichtet werden. So geschah es auch.
Niedergedrückt ging das Mädchen hinaus in die Neustadt, wo die Leute ihm ansahen, was es durchgemacht hatte. Die Neustadt war keineswegs ein Elendsquartier, man lebte und wohnte zwar provisorisch, schließlich waren sie alle Flüchtlinge, ob aus der Stadt, ob vom Land. Aber man war froh, daß man noch lebte. Insofern lebte man nicht schlecht.
Das Mädchen bekam in einem Holzhaus ein Zimmer, wo es sich an die Arbeit machte. Es schrieb Geschichten über die Untaten des Richters und seiner Leute, Geschichten, die es erlebt oder von denen es gehört hatte, und solche, die es erfand. Das Mädchen vervielfältigte die Geschichten und verkaufte sie, es las sie im Kinosaal vor und verlangte Eintritt. Davon lebte es.
Es wuchs zu einer jungen, schönen Frau heran, die sich in einen jungen Mann verliebte, der als Maurer in der Altstadt arbeitete. Er war einmal an diesem, einmal an jenem Prunkbau mit Renovierungsarbeiten beschäftigt, denn der architektonische Firlefanz zerfiel schon an dem Tag, an dem er hergestellt wurde. Das ermunterte die Frau, auch über das zu schreiben, was die Machthaber Kultur nannten.
Der Maurer wurde schwach und krank, denn der Lohn reichte nicht, um davon zu leben. Deshalb trat die junge Frau von dem wenigen, was sie hatte, ein wenig an den Mann ab, so daß auch sie schwach und krank wurde. Das besserte sich erst, als er mit dreißig starb.
Ihre Geschichten wurden reicher. Sie wußte nicht nur vom Niederbrennen der Häuser zu erzählen, sondern auch von der Aufrichtung der Kultur und dem Ausheben von Gräbern für Arbeiter. Es machte ihr Freude, beim Schreiben zwischen den Tatsachen, von denen sie ausging, Verbindungen herzustellen: von den verkohlten Eltern zu ihrem verwesenden Geliebten, von der Zinskaserne zum Parlament. So daß man den Eindruck gewann, aus den bekannten Tatsachen entstünden neue. Die Leute lasen das gern.
Die Leute des Richters nicht. Sie statteten die Kultur mit einem Kulturamt aus und schickten den Amtsvorsteher zu der jungen Frau, damit er die Vervielfältigungsmaschine beschlagnahme. Um die Frau zu besänftigen, wies er ihr den Weg zu einer Zeitung und zu einem Verlag. Sie durfte dort die Geschichten, die sie geschrieben hatte, umschreiben, nach Regeln, die man ihr vorschrieb. Noch dazu gegen gutes Geld. Sie lebte auf. Sie konnte sich statt eines Edamer Käses einen Emmentaler, statt einer Polnischen, das war eine Wurstsorte, eine Feine Pariser kaufen.
Eines Morgens stand sie vor dem Spiegel und erkannte sich nicht wieder. Sie, gerühmt wegen ihrer Schönheit, war häßlich geworden. Sie wußte, warum. Sie wußte, daß sie Dinge schrieb, die mit ihrer Erfahrung nicht in Einklang standen. Wer aber, auch das wußte sie, den Blick auf die Wahrheit scheut, von dem wendet die Wahrheit sich ab. Die Wahrheit ist, sagte sich die Frau, die Quelle der Schönheit. Fließt der Schönheit kein Leben mehr zu, verdorrt sie.
Sie brach in das Kulturamt ein, nahm die Vervielfältigungsmaschine an sich und schleppte sie in ihr Zimmer. Unverzüglich schrieb sie nieder, wie die Herrschaften versucht hatten, sie als Schriftstellerin kaltzustellen, unverzüglich vervielfältigte sie diese Texte, und am Abend, vor der ersten Vorstellung, saß sie im Kinosaal und las die neuen Geschichten vor. Die Frauen und Männer trauten ihren Ohren nicht. Das klang nach Aufruhr.
In diesen Geschichten erzählte die junge Frau, daß sie an der Wirklichkeit ersticke. Sie erzählte wie früher, wie es in dieser Stadt zugehe. Aber sie fügte hinzu, das genüge ihr nicht mehr. Bescheide sie sich damit, die Wahrheit zu schreiben, habe sie das Empfinden, sich selbst zu verleugnen. Sie schrieb Geschichten, in denen sie zur Tat aufrief, wohlwissend, daß ein Aufruf keine Tat ist. Ihre Geschichten mündeten in das Eingeständnis, daß sie die Herrschaft des Richters und seiner Leute nicht mehr ertrug. Wie angenehm wäre das Leben, wenn man nicht mehr von diesen Verbrechern verfolgt würde.
Die Leute faßten Mut. Sie schimpften wild durcheinander und setzten sich schließlich gemeinsam Richtung Altstadt in Bewegung. Der Richter, er hatte schon lange mit einem Aufruhr gerechnet, hatte für diesen Fall einen Plan, den er nun umsetzte. Er ging den Aufständischen entgegen, allein, ohne Schergen. Schon das imponierte den Leuten. Er wandte sich in einer Rede an sie. Die verfehlte nicht ihre Wirkung.
Ich danke euch, sagte er. Ihr habt mich aufgeweckt. Ich habe in der Altstadt ein Zentrum der Kultur und, mit dem Bau der Universität, ein Zentrum des Geistes geschaffen. Nun bin ich alt und müde. Die einzige Fabrik, die ich kenne, ist die Brotfabrik in der Altstadt. Von den neuen Fabriken draußen bei euch in der Neustadt weiß ich wenig. Ich weiß nur, daß ihr die tüchtigsten Arbeiterinnen und Arbeiter seid, die man sich denken kann, Tag und Nacht stellt ihr Dinge her, die wir verkaufen. Morgen schon werde ich es euch danken. In der Neustadt entstehen neue Zinskasernen.
Die junge Frau schrie aus Leibeskräften: Hört ihm nicht zu! Packt ihn und hängt ihn an den nächsten Baum! Doch man hörte nicht auf sie. Der Richter fuhr fort: Herrschaft, sagte er, beginnt als Alleinherrschaft. Es müssen die Grundlagen für ein Gemeinwesen geschaffen werden. Nun herrschen klare Verhältnisse. Die Besitzer der Fabriken, der Zinskasernen und des Ackerlands stehen fest. Wem was gehört, ist geklärt, wer wo arbeitet, wer wo wohnt, ist klar. Alleinherrschaft ist nicht mehr notwendig. Die Zeiten haben sich geändert. Das habe ich verschlafen. Ihr weckt mich auf. Tausend Dank. Ich ziehe mich zurück. Meine Kameraden, die mit mir eine Regierung gebildet haben, lösen diese auf, und wir hinterlassen euch die Demokratie, die Volksherrschaft.
Jubel brach aus. Der Richter war gerührt. Immer wieder breitete er die Arme aus, als wollte er die Menge umarmen, doch die gefiel sich bereits in Gesang und Tanz. Die Leute des Richters ließen Bier und Wein auffahren, es roch auch schon nach Bratwürsten. Da hatten einige vorwitzige Mädchen und Burschen die Idee, von der Volksherrschaft Gebrauch zu machen.
Auf dem Weg in die Neustadt malten sie sich aus, wie es sein würde, wenn die Fabriken, wenn die Zinskasernen in ihrem Besitz wären. Ende der Antreiberei, das war ihnen das Wichtigste. Darunter verstanden sie, daß niemand ihnen diktiert, wie viel und wie schnell sie zu arbeiten haben. Dazu die Vorstellung, man könnte auf den Arbeitsvorgang einwirken, sollte beraten, was an Maschinen anzuschaffen ist, und überlegen, ob man die Arbeitszeit verkürzen, den Lohn erhöhen kann. Anderen war das Wohnen wichtiger. Die Wände niederreißen, statt der schmalen Zimmer Räume schaffen, in denen man sich bewegen, in denen man leben kann.
Vor jeder Fabrik stand ein Direktor, vor jeder Zinskaserne ein Hausherr. Sie beschieden die Übermütigen, daß sie einem Irrtum aufsaßen. Die Demokratie, auf die sie sich beriefen, sei ein wertloser Wert. Nur deshalb sei er für alle da. Die Fabriken und Zinskasernen befänden sich in Privatbesitz, es handle sich um echte Werte, die nur den Eigentümern vorbehalten seien. Da wurden die Mädchen und Burschen wild, und sie schrien so laut, daß man es bis in die Altstadt hörte.
Ein Mädchen schrie: Die meiste Zeit meines Lebens verbringe ich in der Arbeit. Wenn ich dort nichts zu sagen habe, brauche ich keine Demokratie. Dann soll man mich aber auch nicht Arbeiterin nennen, sondern Lohnsklavin. Ein Bursche brüllte: Nach der Arbeit gehe ich in die Wohnung, um mich von der Arbeit zu erholen. Der Lohn wird gedrückt, die Miete erhöht. Der Unternehmer preßt mich aus, der Hausherr packt mich an der Gurgel. Wenn ich das nicht ändern kann, soll mir die Demokratie gestohlen bleiben.
Sie rannten zum Richter und stellten ihn zur Rede. Der hatte mit diesem Malheur gerechnet und parierte es mit wohlüberlegten Worten. Die Demokratie, sagte er, ist an ihrem Anfang ein leerer Sack. Er muß erst gefüllt werden. Wie ja auch der Bauer, dessen Katze zu viele Junge zur Welt gebracht hat, den Sack mit jungen Katzen füllt, ehe er ihn, beschwert mit einem Stein, in den Fluß wirft. Wir füllen die Demokratie, diesen leeren Sack, mit Parteien, mit einer Arbeiterpartei, einer Bauernpartei, einer Christenpartei und, für die Anhänger der Diktatur, einer Partei der Freiheit. Und warten ab.
Diese Rede des Richters kam nicht gut an. Die Leute erinnerten den Richter, daß sie schon dreimal versucht hatten, eine Partei, die Partei des Aufstands, zu gründen, und daß jedesmal der Vorsitzende geköpft worden war. Sie verlangten Zusagen. Eine Demokratie als leerer Sack sei ihnen zu windig. Das wiederum paßte dem Richter nicht. Er warnte vor Überstürzung und schlug einen Weisenrat vor. Kundige Männer, die man gemeinsam erwähle, sollten ergründen, ob die Demokratie mehr als ein Sack, vielleicht sogar ein Ideal sei. Dieses Ideal sollten sie dann allen vermitteln. Alle stimmten dafür.
Einem Gerücht zufolge hielt sich in einem der beiden Wälder, welche an die Stadt grenzten, ein Einsiedler auf. Man suchte und fand ihn, nahm ihn mit in die Stadt, fütterte ihn, bis er ein stattlicher Mann war, der mit dem Stadtleben zu Rande kam, lockte ihm den Namen heraus - er hieß Raidl - und ermunterte ihn, als Gegenleistung eine Denk- und Lehrtätigkeit aufzunehmen. Wovor er nicht zurückschreckte. „Der Markt“, verkündete er, „ist das Demokratischste, das wir haben, eine tägliche Volksabstimmung. Ich gehe zum Billa und entscheide: Kaufe ich Milch oder Butter.“
Der Richter, entzückt, daß Raidl nicht nur das Wesen der Demokratie, sondern auch das der Wirtschaft in einem Satz erfaßt hatte, ernannte den Mann zum Ersten Denker der Stadt und auch gleich zum Präsidenten der Nationalbank. Ein Weiser war allerdings noch kein Weisenrat, und so mußte ein zweiter gefunden werden.
Man munkelte, daß in dem anderen an die Stadt grenzenden Wald ein
Tausendsassa lebte, wie der Richter einen brauchte. Bald war er gefunden. Der
Mann wirkte gezeichnet vom kargen Leben im Wald, sein breites Lachen ließ
allerdings auf ein sonniges Gemüt schließen.
Er heiße Rosei, rief er dem Suchtrupp zu, und lebe hier im Wald als
Reiseschriftsteller, er werde sich aber auch in der Stadt bewähren. Und in der
Tat, kaum hatte man ihn mit Speis und Trank vollgestopft, stellte er sich vor
die Leute. Er sagte nicht, was zu tun sei, sondern redete, wie man es von
Trickkünstlern gewohnt ist, von der Änderung der Blickrichtung und nicht von der
Veränderung der Welt.
„Wer“, rief er, „soll diesen Plan denn entwerfen, werden Sie fragen, diesen
Wandel, die Wende, diese Änderung der Blickrichtung denn bewirken? – Wir selbst!
Jeder Einzelne von uns und wir alle miteinander! Tut mir leid: Umdenken müssen
wir selbst, wir müssen uns, wie man sagt, ein Herz nehmen: Niemand anderer wird
es für uns tun.“
Der Richter war beglückt, daß endlich jemand imstande war, im Volk das Volksempfinden zu wecken. Er faßte sich seinerseits ein Herz, kniete nieder und dankte Gott, daß der ihm zum Denker auch noch einen Umdenker geschickt hatte. Gott anzurufen war allerdings ein Fehler. Die junge Frau, kaum hatte sie von Gott reden hören, fühlte sich von diesem beauftragt, zum Grab ihres Geliebten zu laufen und aus dem Erdreich die Pistole zu schaufeln, die er ihr hinterlassen hatte. Damit trat sie vor den Richter und schoß ihm in den Kopf.
Sie meinte zu hören, wie nach ihrer Tat ein Sturm der Begeisterung losbrach. In Wirklichkeit blieb es still. In diese Stille stürmten die Leute des Richters und ergriffen und lynchten die Frau. Traurig und dünn hing sie an jenem Baum, in dem sie einst gesessen war, nachdem sie sich, weil der Richter ihr Haus anzündete, aus dem Fenster geworfen hatte. Die Leute, die sie für ihre Leute hielt, ließen die Arme hängen. Jede und jeder weinte lautlos vor sich hin.
„Die Presse, Spectrum“, Wien, 12.4.2014
„Konkret“, Hamburg, Mai 2014