Michael Scharang

 

Kunst, Kampf, Kanzler
Der Kunstkanzler, die Kunstministerin, die Oper und die Neue Oktoberrevolution: Österreich in diesen Tagen.

Nach dem Wahlsieg der Sozialdemokraten in Österreich im Herbst 2006 gab es bei den Koalitionsverhandlungen mit den Konservativen nur eine wichtige Frage: Wer bekommt das Kunstministerium. Dem künftigen Kanzler Gusenbauer gelang es, dem politischen Gegenüber das Finanz - und Wirtschaftsministerium aufzuhalsen und das Kunstministerium an sich zu reißen. Um diese strategische Glanzleistung ranken sich miese Gerüchte: Der Kanzler wolle - die Ernennung eines Operndirektors stand an - seinem Freund, einem mazedonischen Florettmeister, diesen Posten zuschanzen, die Kunstministerin aber habe ihrer Freundin, eine portugisiesche Volkssängerin, als Operndirektorin vorgesehen. Mit diesen Gerüchten versuchte man, den revolutionären Aufbruch, der zur Zeit in Österreich stattfindet, lächerlich zu machen.  

In der Kunst vermochte die griechische Antike einiges. Manches auch die italienische Renaissance. Die österreichische Antike allerdings, welche in diesen Tagen ihre Renaissance erlebt, bringt jene Ansätze zur Vollendung. Und zwar in derjenigen Kunst, in der auch die anderen Künste aufs äußerste gefordert werden, in der Oper. In der zeitgenössischen Oper, im modernen Musiktheater – denn hier ist die Rede von Kunst und nicht von musealen Aktivitäten modriger Bestattungsunternehmen, früher Opernhäuser genannt, mit ihren Meistern der Aufbahrung, die ehedem Regisseure hießen.

Das Erblühen der modernen Oper und zugleich das Aufflammen des Kampfes, welcher Weg für sie und damit für die anderen Künste der ersprießlichste ist, folgt einem gesellschaftlichen Aufbruch, an dessen Spitze ein neuer Kanzler steht, der sich von Anfang an als Kunstkanzler deklariert hat, wissend, daß heuzutage die Machtfrage durch die Opernfrage entschieden wird. Er hat eine Kunstministerin an seine Seite geholt, die ihm - so war es geplant - sogleich Stiche in die Seite versetzt.

Verbunden sind die beiden darin, daß sie sich, da Kunst an lebendige Erfahrung gebunden ist, für Gegenwartskunst begeistern und daß sie den gebräuchlichen kunstgewerblichen Schwindel, alte Kunstwerke auf der Bühne modernistisch zu martern, als Beleidigung der Moderne betrachten. Was die Zukunft der Wiener Staatsoper betrifft, kamen beide zu der Auffassung, daß sie keine Zukunft hat, und sie verlängerten den Vertrag des alten Direktors um 150 Jahre.

Niemals einigen werden sie sich zum Glück über die Richtung, welche das zeitgenössische Musiktheater einschlagen soll. Der Kunstkanzler, der bei Adorno Soziologie und bei Walter Berry Gesang studierte und der wie sein Lehrer bereits ein vortrefflicher Wozzeck war, als man ihn zur Politik überredete, steht stur in der Tradition der 2. Wiener Schule, seine Liebe gilt insbesondere Alban Berg, wohingegen die Kunstministerin, sie studierte Komposition bei Hanns Eisler und Bratsche bei Elfriede Jelinek, nicht will, daß das Revolutionäre in der Musik, in der Oper, nur im Kompositorischen stattfindet.   

So wird die Opernfrage zum Opernstreit. Und durch den kulturrevolutionären Akzent, den die Ministerin setzt, erstehen die Totgeglaubten: Kultur und Revolution wieder, deren Vereinigung das geistige Leben ermutigt, sich auch mit dem gewöhnlichen zu beschäftigen. So wird Wien wieder zur Kunstmetropole, ein Rang, den ihm die Städte Bratislava und Ljubljana in den Jahren der Stagnation streitig gemacht haben. Dieser Aufbruch kommt nicht von ungefähr.

Seit die Sozialdemokraten die Wahl in Österreich im Oktober 2006 gewonnen haben - Zeithistoriker sprechen von der Neuen Oktoberrevolution (NOR) - , dreht die Welt sich nicht mehr ohnmächtig im Kreis, sondern bewegt sich wieder vorwärts. Die Parlamentswahl wurde gewonnen entgegen allgemeiner Erwartung. Man hatte vergessen, daß die österreichische Sozialdemokratie vor langer Zeit einen Pakt mit der Geschichte geschlossen hat, der diese verpflichtet, letzten Endes auf der Seite jener zu stehen.

Im Oktober löste die Geschichte ihr Versprechen ein. Mit ohrenbetäubendem Krachen, als würde bei einem Karussell, das sich in rasender Fahrt befindet, die Notbremse gezogen, kam die internationale Konterrevolution zum Stillstand, die nach dem Ende der Sowjetunion anscheinend nicht mehr aufzuhalten war. Seit dem blickt die Welt auf Österreich. Sie sucht eine Handvoll revolutionärer Desperados, die den Umsturz im Land und die Wende in der Weltpolitik herbeigeführt haben, und findet sie nicht. Worauf sie aber stößt, ist eine weit über hundert Jahre alte sozialdemokratische Partei, die sich nun von allen sozialistischen und kommunistischen Parteien der Welt als die klügste erweist. Diese Partei durchbrach die Regel der anderen, bei der Durchsetzung ihrer Ziele einen Schritt vor und zwei zurück zu machen und schritt stattdessen einmal aus und hundertmal zurück, wodurch sie, da die Erde eine Kugel ist, als erste ans Ziel gelangte und nun das Zentrum der Weltrevolution bildet. Die chinesischen Kommunisten beriefen stantape einen Sonderprarteitag ein, der in der Losung gipfelte: Von Österreich lernen.

Die internationale Arbeiterbewegung stolpert immer dann ins Unglück, wenn sie sich nur auf Theoretiker verläßt und nicht auch auf Dichter. In Österreich wurde dieser Fehler vermieden. Marx galt nie mehr als Nestroy.  Letzterer läßt einen Revolutionär, welcher beobachtet, wie jemand aus Angst vor der Revolution auf seine Haustür schreibt, Eigentum sei heilig, sagen, nicht dieser Trottel sei das Problem, sondern der Umstand, daß die Arbeiter jenen Satz in ihr Herz geschrieben hätten. Die österreichischen Arbeiter, dieserart über sich aufgeklärt, hielten viel von sich, nicht aber hielten sie sich für ein historisches Subjekt, wodurch ihnen nicht jedes, aber manches Unglück erspart blieb.

Das Korrektiv zu Friedrich Engels war in Österreich, insbesondere in der libertären Provinz, Oscar Wilde. Bei allem Respekt vor Engels’ Liebe zur strengen Gesetzmäßigkeit ließ man sich vom ausschweifenden Wilde gern daran erinnern, daß der Sozialismus letztlich ein dienstbares Vehikel ist für den „neuen Individualismus, in dessen Diensten der Sozialismus wirkt, ob er es wahrhaben will oder nicht“. 

Der nächste große Dichter, auf den die österreichische Sozialdemokratie hörte, war Karl Kraus, auch wenn die Verständigung mit der im Getöse des Ersten Weltkriegs schwerhörig gewordenen Sozialdemokratie schwer fiel. Kraus allein hielt sein schützendes Wort über die kleine Republik und deren bürgerliche Demokratie, denn nach seiner Ansicht war die Unvollkommenheit des Neuen und Kleinen besser als die Verkommenheit der übergroßen und übermächtigen Monarchie, eine Ansicht, der die Sozialdemokratie sich schon 1945 begeistert anschloß.

Von Kraus lernte sie auch, die Einsicht von Marx zu respektieren, daß die Menschheitsgeschichte Teil der Naturgeschichte ist. Und man lernte von ihm, sich vor einem Humanismus zu hüten, egal ob vor einem bürgerlichen oder sozialistischen, der die Welt auf Menschenmaß zusammenstutzt, wobei die Kreatur mitsamt der Welt draufgeht und der Mensch, dieses angemaßte Maß aller Dinge, alle Dinge verschlingt, ohne zu bemerken, daß er in Wirklichkeit von den Dingen verschlungen wird. Das Wort des Dichters beherzigend, daß der Kapitalismus das Lebensmittel zum Lebenszweck pervertiert, ahnte die Sozialdemokratie schon etwas vom verwandtschaftlichen Verhältnis von Welt und Umwelt und von der Affäre der Ökonomie mit der Ökologie, lange bevor die Fakten ruchbar wurden.

Österreichische Dichter lieben es, das Publikum zu narren. Karl Kraus schreibt am Beginn eines ebenso umfangreichen wie großartigen Buches über die Naziherrschaft, ihm falle zu Hitler nichts ein. Musil foppt die Leute mit seinen Ausführungen über den Wirklichkeits - und den Möglichkeitssinn. Die Leute rächen sich allerdings an der sprachlichen und gedanklichen Übermacht des Autors, indem sie lesen, was sie lesen wollen, und nicht, was geschrieben steht. Ehe - und Unternehmensberater, Gläubige und Fortschrittsgläubige schwärmen von den Möglichkeiten, die in der Wirklichkeit stecken, und je offenkundiger es ist, daß sie falsche Hoffnungen verbreiten, desto lauter berufen sie sich auf den Mann ohne Eigenschaften. Dem aber geht es ausdrücklich nicht um die wirklichen Möglichkeiten, um jenes reformistische Kleingeld, um das man sich nichts kaufen kann, ihm geht es um die mögliche Wirklichkeit, um einen revolutionären Entwurf.

Musils Konzept einer experimentellen Revolution ist sehr realistisch. Jeder lügt, der behauptet, er braucht den Plan für eine andere Gesellschaft nur aus der Tasche zu ziehen. Wer heute aufs Ganze geht, theoretisch und praktisch, stabilisiert nur das herrschende Ganze. Die scheue Faszination, mit welcher die österreichische Sozialdemokratie der Literatur, insbesondere der Musilschen begegnet, hängt auch mit der verbalradikalen Tradition der Partei zusammen. Die linke Phrase so lange zu dreschen, bis der rechte Kompromiß herauskommt, verdrießt den Zuschauer, und der Zuhörer wendet sich endgültig ab, wenn ihm versichert wird, unter dem Wanst des Volkstribuns schlage doch ein revolutionäres Herz.

Die Sozialdemokratie lernte von den Dichtern, daß, hält man die Phrase, dieses Gebräu aus Lüge, Vorurteil und Haß, von der Sprache fern, der erste Schritt zu klugem Handeln getan ist. Die Ereignisse nach dem Zweiten Weltkrieg erweisen es. Die Sozialdemokraten konnten sich selbstverständlich in der Bundesregierung nicht mit allen Forderungen durchsetzen, doch sprang dann das Rote Wien ein. Als erstes wurde das ehemalige Frankfurter Institut für Sozialforschung aus dem amerikanischen Exil nach Wien geholt. Horkheimer zögerte, doch Adorno mit seinem Faible für Wien war schnell gewonnen. Als Gegengewicht zu Adorno übertrug man Hanns Eisler die Leitung der Musikakademie. Zurückgeholt wurde auch Georg Knepler, früher Klavierbegleiter von Karl Kraus, inzwischen exzellenter Musikwissenschaftler. Er begründete an der Wiener Universität eine Offenbach-Forschung im Sinn von Karl Kraus und schrieb ein ebenso kenntnisreiches wie schönes Buch über Mozart.

Adorno und Eisler gemeinsam in einer Stadt: das war die Grundlage für Wien als Musikstadt der Moderne; und auch für den Konflikt, der nun im Opernstreit an den Tag kommt. Was im Augenblick noch Konflikt ist, war damals Kampf. Staat und Stadt ächzten bereits in den Grundfesten, in der Regierung aber setzte sich die Meinung durch, allerdings erst in einer Kampfabstimmung, daß ein Musik - und Opernstreit interessanter ist als die Grundfesten des Gemeinwesens. Kaum hatte Adorno seinen Einfluß bei den Philharmonikern gefestigt und den jungen Komponisten Cerha als Chefdirigenten durchgesetzt, brachte Eisler die Symphoniker unter seine Kontrolle, die in den Stahlwerken für den Aufbau aufspielten. Dann ging es um die Staatsoper; es gab aber nur eine. Keiner gewann. Erschöpft einigte man sich, die Staatsoper als Ort modernen Musiktheaters aufzugeben.

Genau dort stehen heute der Kunstkanzler und die Kunstministerin. Kraft ihres Einflusses verharren sie aber anders als ihre Lehrer nicht ohnmächtig und tatenlos. Die Kunstministerin scheint einen Vorteil zu haben. Da ihr auch die Schulen unterstehen, mobilisiert sie Zehntausende Schülerinnen und Schüler als Rote Garden, die durchs Land ziehen und auf diese Weise revolutionäres Musiktheater nicht nur propagieren, sondern auch machen. Und Tausende von ihnen beginnen, im Wiener Stadtteil Floridsdorf eine Baugrube auszuheben für ein neues Opernhaus.

Der Kunstkanzler ist ratlos. Bis eines Tages vor seinem Amt sich zuerst Hunderte, bald Tausende versammeln, ganz vorn der Arnold Schönberg - Chor, umgeben von allen  Ensembles für Neue Musik, jede Frau, jeder Mann mit Krampen und Schaufel ausgestattet. Gemeinsam mit dem Kunstkanzler bummeln sie in den Stadtteil Favoriten und heben dort eine Baugrube für ein neues Musiktheater aus.

Die alten Achtundsechziger stehen zornig daneben und erinnern daran, daß sie die revolutionäre Aktion gepachtet haben und der Pachtvertrag noch nicht abgelaufen ist. Dieser harte Kern tut sich mit dem harten Kern des Wiener Bürgertums zusammen, und sie begehen nächtens Sabotageakte, indem sie die Baugruben zuschütten und Flugzettel verteilen, auf denen steht, daß man Gräben zuschütten und nicht aufreißen soll.

Wohin das führt, ist nicht zu sagen.

 

„Die Presse“, Wien, 4. 8. 2007
„Konkret“, Hamburg, September 2007