Michael Scharang

 

Erstunken und erlogen

Antwort auf eine Umfrage der „Presse“ zum Thema: Was man sagen darf?


Die meisten kennen das Problem nur vom Hörensagen. Ich spreche aus Erfahrung. Aufgewachsen in der Obersteiermark, gehörte für mich als Kind zu den wenigen Gewißheiten, daß die Leute im Süden, also die Südsteirer mitsamt den Grazern, nicht reden, sondern bellen, wohingegen das Obersteirische stets Vorbild ist für das Burgtheaterdeutsch. Die Landesregierung überschüttete uns mit dem Vorwurf, wir verletzten die Gefühle der südsteirischen Minderheit. Anstatt mich dem Vorwurf zu stellen, verließ ich das Land.

Daß man als Kind ein Vorurteil hat, hat den Vorteil, daß es vom Vorurteil zum Urteil nicht weit ist. Um zu urteilen, bedarf es einer klaren Sprache ohne Lüge und Phrase. Und nicht einer politisch korrekten Sprache. Die ist keine Errungenschaft, sondern Mindeststandard. Wer sich auch daran nicht hält, deklariert sich als Faschist.

In einer Gesellschaft der Gegensätze, in welcher das Kapital behauptet, gewonnen zu haben, wodurch die Gegensätze beseitigt wären und damit auch die
gegensätzliche Meinung, nennt die arme Sau sein Gegenüber, das Kapitalistenschwein, einen Volksgenossen und umgekehrt. Universitätsphilosophen bestätigen auftragsgemäß, daß es Klassengegensätze nicht mehr gibt, obwohl die heutzutage Europa zerreißen.

Im Kulturland Österreich muß der soziale Gegensatz von kulturellem Unfug umrankt werden. In Linz wird ein Opernhaus eröffnet mit einer Oper (Musik von Glass, Text von Handke), deren Aufführung sich ausnimmt wie die Erweckung eines Reichsparteitags. Ein Österreicher (Haneke) macht einen Film, der die Erfüllung der Liebe in Euthanasie sieht, was auf eine Begeisterung stößt, die sich tiefem Menschenhaß verdankt. Ein anderer Österreicher (Seidl) macht Filme, in dem die arme Sau auch noch zur Sau gemacht wird, zum Entzücken des Kapitalistenschweins. Jubel allüberall.

Eine Debatte über politisch korrekte Sprache führt von der Sache so weit weg, daß man das Ergebnis getrost erstunken und erlogen nennen kann.


„Die Presse, Spectrum“, Wien, 20.4.2013