Michael Scharang

 

Das Wunder Österreich
oder
Wie es in einem Land immer besser und dabei immer schlechter wird

Inhalt:

Das Wunder Österreich

Diesen Staat kann kein Skandal erschüttern,
denn er ist selbst ein Skandal

Zur Dritten Walpurgisnacht

Der gute alte Busek kehrt zurück

Die Demolierung Österreichs oder
Der Weg in den demokratischen Faschismus

Seinesgleichen geschieht tatsächlich

Hiergeblieben

Brecht-Boykott in Österreich

Ich weine nicht, ich fluche!

Helige Schriften

Verlust

Rezept

Chance auf Neubeginn

Neue Serie alter Entdeckungen

Von der Metaphysik über die Atomphysik
Zur Maierphysik

Literatur und Politik

Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen

Zeit minus Geist ist gleich Zeitgeist

Herzblut contra Pisse

Wien, Wien, nur du allein

Strohhüte für Strohköpfe

Übertriebene Selbstkritik

Gremliza contra Wallraff

Die Abenteuer des Thronfolgers Podgorski

Österreich (ge)denkt, Deutschland lenkt

Sommerschlussverkauf

Angebot für ein Gutachten

Austropop

Die Emanzipation des Kolonialherrn vom
Herrenreiter zum Herrenschreiber

Leseprobe

Diesen Staat kann kein Skandal erschüttern,
denn er ist selbst ein Skandal

Die zeitgenössische österreichische Literatur hat ihre Lehrzeit mit Ach und Krach hinter sich gebracht. Es war keine schöne Zeit. Die Literatur musste lernen, wie man sich in einem literaturfeindlichen Land Aufmerksamkeit verschafft, sie musste aber auch lernen, dafür scharfe Rügen einzustecken: Die Art, wie sie Skandalöses ans Licht bringe, sei selbst skandalös, maßlos übertreibend, ungerecht, Hasserfüllt.

Vornehmlich Journalisten und Politiker erheben diesen Vorwurf. Mit Recht. Für sie ist ein Skandal wertvolles Rohmaterial, für das feste regeln der Weiterverarbeitung existieren: es muß bis ins kleinste ausgeschlachtet und optimal verwertet werden. Jedes andere Verhalten würde in der Kommerzwelt den Verdacht erregen, der Journalist oder Politiker verstehe sein Geschäft nicht.

Im Gegensatz dazu interessiert den Schriftsteller der Skandal, wenn überhaupt, nicht als Einzelereignis, sondern als exemplarischer Fall. Ihm geht es nicht nur um die kleine Wahrheit der Fakten, sondern auch um das große Risiko der Erkenntnis.

Ich bin weit davon entfernt, die Vorteile der künstlerischen und philosophischen Weltsicht preisen zu wollen. Ich möchte nur darauf aufmerksam machen, dass die Weltsicht der Journalisten Gefahr läuft, die Wirklichkeit zu verkennen, wenn sie nicht merkt, dass die Welt in Veränderung begriffen ist.

In Österreich hat die Umwertung aller Werte damit begonnen, dass die Journalisten nicht mehr den Skandalen nachjagen, sondern, umgekehrt, eine Unzahl von Skandalen sich ergebenst um die begrenzte Anzahl von Journalisten bemüht. Jeder Skandal will rasch noch in die Zeitung, ehe er vom nächsten verdrängt wird.

Die Wirklichkeit praktiziert zurzeit, was man bislang der Literatur vorwarf: sie übertreibt maßlos. Der Blick, aus Althergebrachte eingestellt, bekommt nur noch kleine Ausschnitte des monströsen Ganzen zu sehen. Deshalb der Irrglaube, Skandale seien bloß ein Auswuchs, dem mit Moral und gutem Willen beizukommen ist. Dieser Staat, diese Gesellschaft selbst sind der Auswuchs. Auch wenn die empfohlene Meinung anders lautet: Die einzelnen Affären erschüttern den Staat keineswegs, im Gegenteil, sie sind es, die ihn gerade noch zusammenhalten. Die Skandale schützen den Staat, indem sie von dessen skandalösem Charakter ablenken. Sie bilden, nachdem die überkommenen Österreich-Klischees verjuxt sind, den letzten schönen Schein, der auf diesem Land liegt, auf dieser extrem widersprüchlichen, aber durch massive Lügen und Einschüchterungen extrem harmonisierten Gesellschaft.

Wo einerseits Gegensätze nicht aufbrechen, andrerseits Wunden nicht heilen dürfen, wo über alles ein Pflaster des Konsenses geklebt und der permanent austretende Eiter von Zeitungspapier aufgesogen wird, dort landet eine Gesellschaft, paralysiert von den sogenannten Zukunftsvisionen ihrer Politiker, unweigerlich in der Vergangenheit. Die Zweite Republik, auf der Suche nach sich selbst, scheint sich in der Ersten wiederzufinden.

Daß die Abendland-Verteidiger angesichts der österreichischen Zustände den Untergang kommen sehen, ist klar. Tatsächlich aber handelt es sich nicht einmal um einen Niedergang. Die Zweite Republik war nie besser (und nie schlechter), als sie heute ist, sie war nur jünger.
Deshalb hat man ihr viel nachgesehen und auf später gesetzt. Diese Hoffnungen waren falsch, vor allem waren sie unbegründet. Was wiederum kein Grund für den enttäuschten Staatsbürger sein sollte, den Staat krank zu jammern. Denn vom darniederliegenden Gemeinwesen redet nur die Gilde der Heuchler, die Symptome beklagt, vor den Ursachen aber die Augen verschließt.

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