Michael Scharang

 

Der Lebemann

Anfang des Romans

Beim Einschlafen hatte Sandner sich vorgenommen, nicht vor neun aus dem Bett zu steigen, morgen sei ja noch kein regulärer Arbeitstag, nur diese Sitzung; und nun stand er schon um sechs beim Fenster, erstaunt darüber, wie schnell das Wetter umgeschlagen hatte: die Hügel des Wienerwaldes schienen, obwohl kilometerweit entfernt, zum Greifen nahe, so klar war der Himmel. Er dachte nicht daran, sich wieder hinzulegen, ja er vermied sogar, einen Blick aufs Bett zu werfen, um nicht an seine miese Stimmung vor dem Einschlafen erinnert zu werden, die wohl auch schuld an seinem schlechten Schlaf gewesen war.

Ganz gelang das freilich nicht, denn die Erinnerung daran, daß er gestern während des Flugs von New York nach Wien, während der Taxifahrt vom Schwechater Flughafen zur elterlichen Villa in Hietzing und dann auch noch nachts in seiner Wohnung völlig niedergeschlagen war, diese Erinnerung schwand eben nicht von einem Augenblick auf den andern.

Um so mehr freute Sandner sich über den schönen Morgen, über die Landschaft, die in der Sonne viel freundlicher aussah als sonst, und er atmete die von Wind und Regen gereinigte Luft in vollen Zügen, wobei er seinen Körper dehnte und die Arme in die Höhe reckte.

Jetzt bin ich wieder der Alte.
Der Alte?
Na ja, alt genug. Immerhin zweiundvierzig in ein paar Monaten ...
Aber was sagt das schon!

Er fühlte sich wohl wie schon lange nicht, und während er über die Gärten des Vororts schaute, bekam er Lust, in die Stadt zu fahren, um dort ein wenig zu flanieren. Denn wer weiß, wann wieder so ein Tag sein wird. Außerdem mußte Sandner heute ja erst um elf im Büro sein.

In die Stadt?

Ja, er hatte Lust in die Stadt zu fahren, und zwar gleich. Etwas seltsam kam ihm das schon vor – war er doch während seiner dreiwöchigen Geschäftsreise jeden Tag aufs neue froh darüber gewesen, nicht in Wien zu sein, und noch gestern während des Zwischenaufenthalts in Frankfurt hatte er ernsthaft überlegt, die Maschine nach Wien ohne ihn abfliegen zu lassen. Erst im letzten Augenblick war ihm eine Ausrede eingefallen: Warum sitze ich ausgerechnet hier, warum nicht in New York oder in Buenos Aires, dort würde ich keine Sekunde zögern; warum wird mir erst jetzt klar, daß ich bald wieder in dieser verdammten Stadt dieses verdammte Leben aufnehmen muß, warum erst jetzt, in diesem grauslichen Frankfurt.

Beim Rasieren hatte er das Gefühl, irgend etwas sei nicht so wie früher. Ja natürlich, keine Musik. Er ging zu einem Magnetophon, das inmitten zahlreicher, zum Teil recht monströs wirkender Geräte stand. Sandner hatte den Dachboden der Villa nicht nur für Wohnzwecke ausbauen lassen, er hatte hier ein Musikstudio eingerichtet, das ihm auch für die Produktion elektronischer Musik diente. Aber schon der Anblick der umherliegenden Tonbänder genügte, daß Sandner kehrtmachte.

Die Haßliebe, die ihn mit seiner Musik verband, war in Südamerika wieder einmal vollends zum Haß geworden, er hatte sie als blutleere Konstruktion verachtet und sie gleich auch mitverantwortlich gemacht für alles, was ihm an seiner Existenz so unbefriedigend schien. Aber: er war nicht mehr in Südamerika, er war in Wien. Wieviel hinter dieser Feststellung steckte, merkte er erst ein paar Minuten später, als er mit seinem großen Rover die Hietzinger Hauptstraße hinunterfuhr.

Da kann man sagen, was man will, dachte er, es ist schön hier.

Bei der Ampel am Hietzinger Platz konnte er auch bei Grün nicht fahren; die Oberleitung der Straßenbahn wurde repariert. Was hatte er gerade überlegt? Ach ja, ob er im Augenblick nicht alles ein bißchen zu rosig sehe, schließlich.

Nein, Schluß damit. Wenn man einen Weg nicht richtig gegangen ist, heißt das nicht, daß einem nicht trotzdem noch alle Wege offen stehen.

Das Wort „Sackgasse“, das ihm gestern nicht aus dem Kopf gegangen war, schien heute vergessen zu sein.

Dr.Sandner war in Südamerika und kurz in New York gewesen, nicht privat, sondern beruflich; als Abteilungsdirektor für Auslandsgeschäfte hatte er an Ort und Stelle prüfen müssen, ob die Vergabe einiger Kredite, die von Wien aus vorbereitet worden war, risikolos durchgeführt werden könnte. Er hatte sich aber auch privat einiges von dieser Reise versprochen, denn es war ihm gelungen, dem Vorstand einen Aufenthalt von drei Wochen abzuluchsen, für eine Tätigkeit, die nach Sandners Einschätzung nur ein paar Tage in Anspruch genommen hätte.

Er hatte also seine Geschäftsreise mit drei Wochen bemessen, und weder die vier Vorstandsdirektoren noch der Generaldirektor hatten Bedenken angemeldet. Aber selbst wenn man Bedenken gehabt hätte: Der von allen anerkannte Wert Sandners für die Bank war zu groß, als dass man mit dem jungen Direktor um ein paar Tage gefeilscht hätte.

Sander hatte aber ganz anderes im Sinn, als auf Kosten der Bank eine Urlaubsreise zu machen: er wollte endlich einmal Zeit haben, Zeit für sich, in einem fremden Land, unter fremden Menschen.

Er wollte sein Leben aus der Distanz betrachten.

Daraus war nicht viel geworden. Er hatte im Ausland eine Reihe neuer Geschäftsmöglichkeiten entdeckt und diese Möglichkeiten gleich so gründlich recherchiert, daß die Geschäfte unter Dach und Fach waren. Es bedurfte nur noch der Absegnung durch den Vorstand, und eine Konferenz in dieser Sache war für heute um elf angesetzt. Wenn Sandner gewusst hätte, daß die Konferenz verschoben werden mußte, wegen eines spektakulären Einbruchs, letzte Nacht, in die Zweigstelle einer anderen Großbank, wäre er wahrscheinlich doch erst später von daheim weggefahren.

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